Lied auf einen Absteiger - Predigt zu Philipper 2,5–11 von Walter Meyer-Roscher
2,5-11

Lied auf einen Absteiger

Liebe Gemeinde,

Wer will schon zu den Absteigern gehören? Wir wollen nach oben und dabei festhalten, was wir haben, nach Möglichkeit mehr dazugewinnen, mehr erreichen. Fortschritt, Aufstieg – eine machtvolle Dynamik, die wir in Gang setzen und die uns in ihren Sog hineinzieht.

In einem seiner Lieder hat Wolf Biermann schon vor Jahren vom mühsam aufsteigenden, stetig aufsteigenden, unaufhaltsam aufsteigenden Menschen gesungen. „Aber da brechen doch Fragen auf,“ sang Biermann und er fragte in seinem Lied, wohin der Mensch denn überhaupt aufsteigen will oder auch aufsteigen muss. „Steigt er da auf zur Freiheit oder, was wir schon ahnten, zu den Fleischtöpfen?“ Wie soll das nur weitergehen, wenn alle zu den Fleischtöpfen aufsteigen wollen? „Steigt dann die Menschheit auf im Atompilz zu Gott, und, was wir schon ahnten, ins Nichts? So viele Fragen um einen, der aufsteigt.“ So viele Fragen um alle, die immer nur aufsteigen wollen; so viele Fragen an unser Bemühen um Fortschritt, Aufstieg, Weiterkommen, Mehr-haben-wollen.

Geht es wirklich aufwärts zur Freiheit oder doch  nur zu den Fleischtöpfen des eigenen Vorteils? Wie wollen wir diesen Aufstieg eigentlich vor denen verantworten, die da nicht mithalten können, die zurückbleiben müssen, weil ihnen die Kräfte, das Selbstvertrauen und der Mut abhanden gekommen sind. Vielleicht sind  sie  sogar im allgemeinen Aufstiegskampf zu Boden getreten, ihrer Lebensmöglichkeiten und ihrer Menschenwürde beraubt worden. Viele Fragen, die beantwortet werden wollen.

Sie werden noch drängender, Angst einflößender, wenn es um die Zukunft einer ganzen Welt geht, die nur den Aufstieg kennt und wahr haben will. Wir erleben es doch. Jeder Fortschritt kann so schnell in das Gegenteil dessen umschlagen, was einmal gewollt war. Wir machen ja auch entsetzliche Fortschritte in der Technik des Zerstörens von Lebensmöglichkeiten ganzer Gruppen und Völker, von Zukunftschancen kommender Generationen, bis hin zur massenhaften Vernichtung der Menschlichkeit.

Wolf Biermann hatte schon Recht, als er in seinem Lied fragte: „Steigt da die Menschheit auf im Atompilz zu Gott, und, was wir schon ahnten, ins Nichts?“

Ja, wenn wir Aufsteiger nur nach oben sehen, werden wir Gott jedenfalls da nicht finden. In einer alten jüdischen Erzählung blickt ein Mann zurück in die Glaubensgeschichte seines Volkes und fragt einen Rabbi: „Früher gab es Menschen, die Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen haben. Warum gibt es die heute nicht mehr?“ Darauf antwortet der Rabbi: „Weil sich niemand mehr so tief bücken will.“

Das älteste Glaubenslied der ersten Christen, das Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Philippi weitergibt, nimmt die Antwort des Rabbi auf. Das Lied sucht Gott da, wo Christus ist, und es schildert diesen Christus als Absteiger.

 Gott ist nicht da oben, sondern ganz unten,  wohin Christus abgestiegen ist zu denen, die unten sind, die Opfer des maßlosen zerstörerischen Aufstiegs derer, die um die Macht kämpfen – die Macht über ganze Völker, über globale Märkte, über alle Lebensbereiche.

Der, von dem dieses älteste christliche Glaubensbekenntnis singt, ist einen Weg gegangen, der ganz nach unten führte. Er ist ihn freiwillig und bewusst gegangen, um so zu bewähren, was er von Gott gesagt und was er im Namen Gottes getan hat.

Martin Luther hat das alte Lied nachgesungen. Wir singen es in jedem Jahr zu Weihnachten mit: „Er äußert sich all seiner G’walt, wird niedrig und gering, und nimmt an sich ein’s Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding.“ Sein Abstieg im Namen Gottes zu denen, die ganz unten sind, hat ihn ans Kreuz gebracht. Ja, so tief muss man sich bücken, um auf diesem Weg Gott zu begegnen.

„Keines seiner Worte ( der Worte Christi) glaubte ich“, schreibt der Dichter und Schriftsteller Rudolf Otto Wiemer,  „hätte er nicht geschrien „Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das ist mein Wort, das Wort des untersten Menschen. Und weil er selber so weit unten war, ein Mensch, der WARUM schreit und schreit VERLASSEN, deshalb könnte man auch die anderen Worte, die von weiter oben, vielleicht ihm glauben“.

Deshalb kann sich jeder, sollte sich auch jeder an diesem Christus orientieren. Paulus fordert dazu auf: Seid unter euch so gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus entspricht, sagt er, wie es in seinem Geist ein auf Gott und seine Gebote hin ausgerichtetes Zusammenleben ermöglichen will.

Darum geht von Christi Weg nach unten, von Gottes Abstieg mit ihm eine ungeahnte Kraft aus, wird eine neue Hoffnung lebendig. Gottes Macht hat sich mit seiner, auch mit unserer Ohnmacht verbunden – eine Hoffnung für alle, denen unsere Aufstiege, die Aufstiege unserer Zivilisation, unserer Wirtschaftskraft, unserer wissenschaftlichen und technischen Fähigkeiten Angst macht. Ein neues Gottvertrauen, das die erfahren können, die ihre Abstiege leidvoll erleben, die sich irgendwann einmal in ihrem Leben, vielleicht auf Dauer, unten wieder finden. Eine neue Orientierung, die unseren Blick auf die lenkt, die noch weiter unten als wir um ihre nackte Existenz, ihr Überleben kämpfen müssen.

Das alte Glaubenslied ist mit dem Hinweis auf den Weg Christi ans Kreuz noch nicht zu Ende, weil dieser Abstieg nicht Gottes letztes Wort ist. „Darum“, so heißt es in dem Lied der ersten Christen dann weiter, „hat ihn (den Gottessohn und Menschenbruder) auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind“.

Das sollten wir nicht als bloßen Machterweis und dann doch allmächtiges Herrschaftsgebaren dieses Jesus verstehen, sondern als eine Aufforderung, sich zu bücken, um Gott, den Vater  ganz unten bei uns zu erkennen.

Wir sind eher geneigt, uns vor Macht und Machtstreben, vor der Vision von den Fleischtöpfen des eigenen Vorteils zu verbeugen. Das Bekenntnis in dem alten Glaubenslied, „dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters“, sollten wir so aufnehmen, dass wir neben denen in die Knie gehen, die am Boden sind, und mithelfen, dass sie wieder auf die Beine

kommen und auf sicheren Füßen stehen, sich in einer solidarischen Gemeinschaft wiederfinden können. Das wäre ein Bekenntnis in der Gesinnung, die Jesus entspricht und Veränderungen zum Guten in unserer Welt lebenszerstörender Aufstiege und erzwungener Abstiege bewirken kann.

Amen

Perikope
20.03.2016
2,5-11