Liedpredigt zu „Es kommt ein Schiff, geladen ...“ von Nicola Wendebourg

 „Es kommt ein Schiff, geladen ...“

(Während der Predigt muss Berthold Brechts Lied von der Seeräuberjenny gelesen werden. Der Text findet sich im Internet. Am besten macht das eine Konfirmandin oder eine ältere Jugendliche vom Lesepult aus. Braucht allerdings etwas Übung)

Liebe Gemeinde,
Es ist Advent. Vier Sonntage, und in diesem Jahr beinahe volle vier Wochen Adventszeit, wir stehen ganz am Beginn. Wozu soll diese Zeit gut sein? Was fangen wir damit an?
Advent ist eine Zeit der Hoffnung. Im Alltag kann man das Hoffen leicht vergessen. Kummer oder Ärger, oder einfach der alltägliche Trott, lassen die menschliche Fähigkeit zum Hoffen leicht einrosten. Darum brauchen wir ab und zu solche Extrazeiten wie den Advent. Um die Hoffnung wachzuhalten und stark zu machen. Advent der Versuch, die Hoffnung zu trainieren.
So gesehen ist ein Adventsgottesdienst eine Art Hoffnungstraining.
Helfen sollen beim Training heute zwei Lieder. Zwei sehr verschiedene Lieder, aber beide, gerade zusammen, können sehr wirksam die Hoffnung trainieren.

Das erste Lied stammt aus der Dreigroschenoper von Berthold Brecht. Es ist das berühmte Lied der Spelunken-Jenny. Die Spelunken-Jenny, auch als Seeräuberjenny bekannt, ist ein Spül- und Zimmermädchen in einem drittklassigen Hotel. Wir hören ihr Lied, XXX liest es vor

Die Spelunkenjenny führt ein Leben, das man eigentlich keinem wünscht, erst recht nicht einem jungen Mädchen, das doch seine Zukunft noch vor sich haben sollte. Die Absteige am Hafen, in der sie arbeitet, ist schäbig, die Gäste, die da ein und ausgehen, Halbkriminelle – und selbst die fühlen sich ihr noch überlegen und behandeln sie wie Dreck. Ein Zimmermädchen in einem „lumpigen Hotel“ – keiner, der sie liebt, keiner, der sie respektiert. Dieses Leben, so jung es ist, scheint in einer Sackgasse gelandet zu sein, die Zukunft ist trostlos vorhersehbar.

Allerdings: Es gibt etwas Besonderes an der Spelunken-Jenny: Sie hat das Hoffen nicht verlernt. Während sie Betten macht und Gläser spült, während sie sich von schlechtgelaunten Gästen herumkommandieren lässt, hängt sie innerlich großen Träumen nach.
Ein Schiff wird kommen, fünfzig Kanonen an Bord, und wird die Stadt in Schutt und Asche legen. Jenny kommt dann endlich zu Recht und Würde. Die „Herren“, die sie jetzt verächtlich behandeln, werden endlich die wahre Größe des kleinen Zimmermädchens erkennen. „Wer wohnt Besonderes darin?“ flüstern sie mit angstvollem Respekt, als die Kanonen das Hotel verschonen. Aber das nützt ihnen nichts, Jenny verordnet ihnen ein blutiges Ende. „Und wenn ein Kopf fällt, ruf ich: Hoppla!“ Sie selbst steht am Ende aufrecht da, das wunderbare Schiff nimmt sie mit und entschwindet mit ihr in die Ferne.

Von einem Schiff träumt das Mädchen. Aus ihrer eigenen tristen Umgebung wird keine Veränderung kommen, das fühlt sie wohl ... Ein Schiff kommt von weit her, vom Meer. Ein Schiff kann aus unbekannter Ferne Fremdes, Unbekanntes in die alte, begrenzte Welt bringen. Ein Schiff ist immer ein bisschen von Geheimnissen umweht, es eignet sich als „Traumschiff“.
Ein Traumschiff reißt das Zimmermädchen aus seiner trostlosen Welt heraus.

Ein anderes Lied, ein anderes Schiff. Dieses können wir selbst singen, es steht im Gesangbuch unter der Nummer 8. Wir singen die Strophen 1-4.

Ein geheimnisvolles, rätselhaftes Lied. Ein alter Mystiker hat es geschrieben. Der Sinn der Worte erschließt sich nicht leicht, doch das Bild vom Schiff ist einfach und stark – oft habe ich erlebt, dass schon kleine Kinder es begeistert singen. In ihre Phantasie findet das Adventsschiff leicht Eingang.

Auch dieses Schiff kommt aus weiter Ferne, von noch viel weiter her als das der Spelunkenjenny. Erkennen kann man das an der „Ladung“. Das Schiff des Mädchens hat 50 Kanonen an Bord, eine äußerst diesseitige Fracht. Das Adventsschiff trägt „Gottes Sohn, der voller Gnaden ist“. Gottes Sohn. Damit ist der Herkunftsort des Schiffes gewissermaßen mit genannt: Es kommt aus der Welt Gottes. Von einem Ort, an dem kein Mensch je gewesen ist. Es kommt aus dem völlig Unbekannten.

Advent – Zeit der Hoffnung. Da stehen wir, so stelle ich mir das vor, zusammen mit dem Dichter dieses Liedes am Ufer unserer Welt. Wir suchen den Horizont ab, halten Ausschau nach einem Schiff, das aus der Fremde zu uns kommt.
Unser Ufer, das teilen wir in vieler Hinsicht mit der Spelunkenjenny. Das scheint vielleicht auf den ersten Blick nicht so. XXX und die umliegenden Dörfer sind nicht arm, es gibt hier wenig Absteigen, dafür aber (XXX, das erste Hotel am Platz nennen) und andere noble Adressen. Aber auch hier fehlt es oft an Liebe und Respekt.
Eine Zweitklässlerin wird von ihren Mitschülern regelmäßig fertig gemacht, weil sie eine dicke Brille trägt und eine Winterjacke, die die anderen „uraltmodisch“ finden.
Ein Ingenieur, Vater von drei Kindern, ist psychisch am Ende, weil seine Frau ihn über Jahre hin vor allen Leuten als unfähigen Trottel hingestellt hat – so lange, bis er es schließlich selbst glaubt.
Ein junger Mann aus dem Irak wird im UBahnSchacht halb tot geschlagen, weil er sein Handy nicht freiwillig hergibt.
Eine über 90järige Dame, die gegen ihren Willen ins Altersheim muss, wird von den Schwestern täglich beschimpft, weil sie sich nicht in ihr Schicksal fügen mag. Da liegt sie jetzt, zum Telefonieren zu schwerhörig, Freunde kommen kaum noch und sie wünscht sich ihren Tod.

Man muss nicht in die heruntergekommenen Bahnhofs- oder Hafenviertel gehen, um verächtliche und gleichgültige Menschen zu treffen. Dass Liebe fehlt und der Respekt, das kann man an vielen Orten erleben, auch oder vielleicht gerade an den feineren Adressen. Unsere Welt ist an vielen Stellen ein grauer, trostloser Ort.
Während wir das Adventslied singen, treten wir an das Ufer unserer bekannten Welt. Wir halten Ausschau nach einem Lichtstreif am Horizont. Wir versuchen uns in der Hoffnung, dass aus der Ferne Gottes etwas anderes zu uns kommt, ein fernes Licht, eine himmlische Freundlichkeit.
Im Lied ist es nun dieses Schiff. Statt Kanonen trägt es einen Menschen. Gottes Sohn. Ein Segel bringt das Schiff voran, von dem heißt es: „Das Segel ist die Liebe“. Das Schiff wird vorangetrieben von der Kraft, die bei uns ziemlich oft fehlt.

Im Lied ist es nicht die ganze Zeit Advent – das Schiff bringt Gottes Welt näher zu unserem Ufer heran, und schließlich legt es wahrhaftig an. „Der Anker haft auf Erden, da ist das Schiff an Land“ – die Verbindung ist hergestellt zwischen den beiden Welten. Himmel und Erde.
Aber wozu? Was fangen wir damit an?

Das Lied deutet die Antworten nur an. Ein von Gott geschickter Sohn, der sich für uns „verloren gibt“. Ein Segel, das die Liebe ist. Ein Anker, der das Schiff in unserer Erde festhält.
In einem Liederbuch habe ich einmal eine moderne Illustration zu dem Lied gesehen, die ich sehr eindrucksvoll fand.
Eine einfache Zeichnung von einem Segelschiff, und auf das Segel hat der Künstler ein Christusbild von Oskar Kokoschka gesetzt. „Christus hilft den hungernden Kindern“ heißt es.

Die Kokoschkazeichnung stammt von 1946 und zeigt Christus, der sich von seinem Kreuz herabbeugt und die Hand ausstreckt zu einer Schar von leidenden Kindern. Es sieht aus, als würde er gleich vom Kreuz hinuntersteigen zu ihnen.
Der Anker haft auf Erden. Der Abgesandte aus Gottes Welt steigt aus, mischt sich unter die Leidenden wie die Fröhlichen, teilt ihr Schicksal.
Das Schiff der Spelunkenjenny ist zum Schluss mit dem Mädchen in weite Ferne verschwunden. Die zerstörte Stadt hat es sich selbst überlassen. Der vom Adventsschiff kommt, steigt aus, bleibt bei den Menschen, teilt ihre Not. Er lässt sich verspotten wie das Zimmermädchen und der verhöhnte Ehemann, hat teil am einsamen Leben der alten Dame. All denen ist er nah. Er betrachtet nicht nur wohltätig ihr Schicksal, sondern setzt sich dem selber aus. „Gibt sich für uns verloren“.
Er ist auf Erden ausgestiegen und hat Dunkel und Verachtung am eigenen Leib erlebt. Aber er ist darin nicht untergegangen. Im Gegenteil. Er bringt aus seiner Welt etwas Neues ins irdische Grau hinein. Auf der Zeichnung von Kokoschka kann man das sehen: Unter dem Kreuz, die Menschen, die zu ihm hinsehen, die sind nicht geduckt und klein, wie das Zimmermädchen, die Zweitklässlerin. Eine Hand ist zu ihnen ausgestreckt, sie lächeln, richten sich auf und sehen mit hoffnungsvollen Gesichtern zu ihm. In diesem Moment ist ihre verletzte Würde wieder hergestellt. Aber nicht mit Blut und Kanonen. Sondern mit der Hilfe der Liebe.

Advent. Plätzchenduft und Kerzenschein, Geschenkekaufen und Glühwein mit Zimt. Aber nicht nur das. In ihrer tiefsten Schicht ist Advent eine Zeit, in der wir unsere Hoffnung trainieren.

Jetzt ist die Zeit, den Blick über den Alltag hinaus zu heben. An den Horizont zu schauen, so wie die Spelunkenjenny das tat. Jetzt ist die Zeit, sich auf eine andere Wirklichkeit zu besinnen, die unser Leben zusammenhält. Sie ist nicht fern. Wie ein Schiff aus der Ferne bewegt sie sich auf uns zu. Als Fracht führt sie einen lebendigen Menschen mit sich, der zur Liebe besonders begabt ist. Er verleiht uns eine eigene Würde, was auch passiert. So hilft er uns, dass wir uns mit den Zuständen am diesseitigen Ufer nicht abfinden - dass wir uns sperren gegen Verachtung und Lieblosigkeit.

So gesehen könnte man auch sagen: Advent: das ist die Vorbereitung auf eine unblutige Revolution. Das Segel ist schon gehisst. AMEN

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. AMEN
 

Perikope