"London und Jerusalem - Olympische Predigt" - Predigt über Jesaja 62, 6-12 von Wolfgang Vögele
62,6

"London und Jerusalem - Olympische Predigt" - Predigt über Jesaja 62, 6-12 von Wolfgang Vögele

Der Predigttext für den zehnten Sonntag nach Trinitatis steht Jes 62,6-12:
„Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! Der HERR hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen, sondern die es einsammeln, sollen's auch essen und den HERRN rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums. Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.“
Liebe Gemeinde,
heute abend erlischt in London das olympische Feuer. Bei einer großen Abschlußfeier werden Sportler, Trainer und Fans gemeinsam die letzten vierzehn Wettkampftage bejubeln. Die begehrten Goldmedaillen sind verteilt und die Niederlagen verschmerzt. Die alt gewordenen Athleten beenden ihre Karriere. Andere überlegen, ob sie die Anstrengungen ein weiteres Mal auf sich nehmen sollen. Die meisten aber denken erst einmal an Urlaub, um dann im Herbst gemeinsam mit dem Trainerstab einen neuen Plan zu entwerfen. Der Traum beginnt wieder: in vier Jahren in Rio de Janeiro noch etwas schneller laufen, weiter springen, mit Bogen oder Luftgewehr genauer ins Ziel zu treffen.
Zweihundertvier Nationen haben Teilnehmer nach London entsandt. Insgesamt viertausendsiebenhundert Medaillen werden in dreihundertzwei Wettbewerben verteilt. Neben Athleten, Trainern und Funktionären haben zehntausende von Fans und Sportinteressierten als Zuschauer die Wettkämpfe besucht. Millionen von Menschen saßen vor dem Fernseher. Für die Sicherheit all dieser Menschen sorgten um die 40000 Beamte, davon dreizehntausendfünfhundert Soldaten und zehntausend Polizisten. Jeder wußte: Die Stadt der friedlichen Spiele ist besonders anfällig für die Anschläge von Terroristen.
Vor genau vierzig Jahren erlebten die Menschen erschrocken und bestürzt den Angriff eines palästinensischen Terrorkommandos auf das Quartier der israelischen Mannschaft im Olympischen Dorf in München.
Statt Medaillenzeremonien sahen die Zuschauer Bilder von Terroristen in roten Trainingsanzügen, die Maschinenpistole im Anschlag, Masken über dem Kopf. Am Ende standen auf dem Flughafen von Fürstenfeldbruck ausgebrannte Hubschrauber. Israelische Geiseln kamen ums Leben. Das freundliche und heitere Olympia von München trug plötzlich Trauer. Der Bundespräsident, damals Gustav Heinemann und der Vorsitzende des Olympischen Komitees, damals der Amerikaner Avery Brundage, sprachen Trost und Mut zu. Avery Brundage rief ins Mikrofon: The games must go on. Die Spiele müssen weitergehen.
Anschläge und Entführungen von München 1972, die Ermordung israelischer Sportler führen Glauben und Sport viel schneller zusammen als manchem lieb sein mag. Es bestehen sozusagen unsichtbare Verbindungen zwischen Jerusalem, München und London. Die Stadt des göttlichen Heils und die Städte der Goldmedaillen gehören zusammen.
London strahlt als weltoffene, freundliche Haupt- und Olympiastadt, mit begeisterten Menschen, mit Fairness und Fairplay, mit dem Schneller, Höher, Weiter des olympischen Mottos. Der neugierige Blick richtet sich wie von einem Magneten angezogen auf die jubelnden Sieger und auf die tragischen Verlierer, auf den unvermeidlichen Medaillenspiegel. Die heimliche Regel bleibt unausgesprochen, und doch glaubt jeder daran: Je größer die Zahl der Medaillen, desto höher das Ansehen der gewinnenden Nation.
Nebenbei bemerkt: Ich störe mich sehr an diesem uneingestandenen Patriotismus der öffentlich-rechtlichen Sportreporter, die Niederlagen zwar mit einem Lächeln hinnehmen, aber jeden beteiligten Sportler und alle Zuschauer spüren lassen: Der hätte sich doch ein bißchen mehr anstrengen und trainieren können, dann hätte er bestimmt den Endlauf, das Finale und mit ein wenig Glück auch eine Medaille erreicht.
London steht für Goldmedaillen, Jerusalem für Gottesglauben. In London werden sportliche Leistungen gelobt. In Jerusalem wird Gott gelobt. London wie Jerusalem leben von einer Vision. Die eine Vision ist bestimmt von menschlichem Können, sportlicher Leistung, fairem Wettkampf und athletischem Kräftemessen. Die andere Vision ist bestimmt von Ehre, Lobpreis und Zukunft Gottes. Die Stadtplaner in London haben ein großes, neues Olympiastadion für 70000 Menschen errichtet, dazu eine Ruderbahn, ein Schwimmstadion und einen olympischen Schießstand. Die Menschen in Jerusalem haben die Mauern wieder aufgerichtet und einen neuen Tempel gebaut.
Weil die Olympischen Spiele für ein Massenpublikum attraktiv sind, könnten auch Terroristen die Zeit der olympische Spiele für Anschläge nutzen – wie 1972 in München. Vierzigtausend Sicherheitskräfte sorgen deshalb dafür, daß niemand unkontrolliert die olympischen Sportstätten betritt. An den strategisch zentralen Stellen in London sind Raketenwerfer aufgestellt worden.
Auch für Jerusalem, die Stadt des Glaubens, werden Wächter bestellt, aber bestimmt nicht vierzigtausend. Wächter sollen aufpassen, wachsam sein, vor Anschlägen schützen. Aber diese Wächter in Jerusalem haben nicht die Aufgabe, die Stadt Gottes zu bewachen. Ihre Aufgabe lautet: Erinnerung. Die Wächter erinnern Gott daran, daß er Jerusalem wieder aufbaut, daß die Stadt und ihre Bürger wieder zum Lobe Gottes jubeln können. Die Wächter machen Lärm, um Gottes Gedächtnis aufzuhelfen.
Sie rufen bei Gott das Volk Israel in Erinnerung: Erinnere dich an deine Verheißungen und an deine Zusagen. Durch die ganze Bibel geht die wiederholte Klage, daß die Menschen Gott vergessen haben und ihn nicht beachten. Die Wächter dagegen machen sich Sorge, daß Gott die Menschen vergessen hat. Erinnere dich, Gott! Durch die Stadt Jerusalem dröhnt nicht der Goldmedaillen-Jubel, nicht die Begeisterung über Höchstleistungen und Rekorde. Der Jubel der Wächter soll den allwissenden Gott erreichen. Vergiß uns nicht! Wir haben lange genug im Exil auf dich gewartet. Der Jubel ist nichts anderes als ein Gebetsruf, wenn auch ein besonders lauter. Und in dem visionären Bild, das Jesaja mit kühnen Strichen entwirft, hallt der Jubel hinein in den Kosmos. Erinnere dich, Gott! Vergiß uns nicht! Wir sind noch da, nachdem die Babylonier uns besiegt und weggeführt haben. Und wir brauchen deine Hilfe. Die Wächter lärmen gegen  die Vergeßlichkeit Gottes. Nur indirekt kommt die Vergeßlichkeit der Menschen in den Blick. Sie glauben nicht mehr an Gottes Verheißungen, weil nichts mehr geschieht, was als Erfüllung der Verheißung verstanden werden könnte. Nur Gott kann diese menschliche Vergeßlichkeit durchbrechen.
Es gibt weitere Unterschiede zwischen London und Jerusalem. Die olympische Idee hat Millionen von  Anhängern, Sportlern und Zuschauern gefunden. Sportliche Leistungen, Höhe, Zeit, Länge lassen sich messen und machen alles vergleichbar. Goldmedaillen gewinnen die Schnellsten, Besten, Kräftigsten. Wer solche Leistungen nicht zum richtigen Termin abrufen kann, der geht leer aus.
Mich hat die deutsche Hochspringerin angerührt, die keine Medaille gewonnen hat, sondern nach einem verpatzten letzten Sprung auf dem undankbaren vierten Platz landete. Danach lief sie zur Tribüne, wo ihr Trainer saß, schlug die Hände vors Gesicht  und brach in bittere Tränen aus. Die Wettkampfregeln sind einfach, unbarmherzig und in tragischen Fällen grausamen. Auf dem vierten Platz erhält man keine Medaille. Gerade weil Sport so einfach ist, lassen sich so viele Menschen davon faszinieren. Trotzdem finde ich in den sympathischen Tränen der Stabhochspringerin mehr Menschlichkeit und Kraft als in den gelackten und vorher einstudierten Siegerposen mancher Goldmedaillengewinner, die schon auf dem Siegerpodest an die lukrativen Werbeverträge denken.
In Jerusalem, das neu erbaut werden soll, ist das anders. Jeder Bürger und jede Bürgerin soll in der Lage sein, von der eigenen Arbeit im Feld oder auf dem Weinberg zu leben. Wer Getreide anbaut, soll das selber dreschen und mahlen können, um sich eigenes Brot zu backen. Der siegende Feind soll keine Zwangsabgaben mehr verlangen. Wer Weinreben gepflanzt hat, soll von den Trauben eigenen Wein keltern – und nicht dene größeren Teil an die Besatzer abtreten.
Das haben Olympia in London und Gottes Jerusalem gemeinsam: Die eigene Leistung zählt. Wer pflanzt und kultiviert, der wird mit den Früchten seiner Anstrengungen belohnt, gleich ob ein Faß Wein oder eine Höchstleistung, ein Zentner Getreide oder ein neuer olympischer Rekord. Und davon soll niemand etwas wegnehmen, weil er sich durch Krieg, Gewalt oder Übermacht eine angebliche Berechtigung für Steuern, Zehnten oder Zwangsabgaben erworben hat.
Die Olympischen Spiele in London sind von  einer Vision geprägt. Inspire a generation! Das ist schwer und einfach zu übersetzen. Inspirieren, das bedeutet: Macht Pläne, entwickelt neue Ideen, seid nicht ängstlich, geht mutig in die Zukunft! Und Generation heißt: Wir müssen zusammenhalten, neue Ideen kommen von jungen Menschen, die auf die Zukunft setzen. Die Jungen gehen in eine neue Richtung, um die Probleme dieser Welt zu lösen. Wenn man sich die Werbe- und die Sportartikelindustrie einmal wegdenkt, dann steht der olympische Sport dafür, daß Menschen sich aus eigener Kraft und mit eigenen Ideen den drängenden Problemen der Welt stellen. Aber leider läßt sich die Wirklichkeit nicht nach dem Muster eines sportlichen Wettbewerbs begreifen.
Das neue Jerusalem steht für eine andere Idee. Auch dort gibt es einen Slogan, ein Motto, allerdings eines, über dem nicht für teures Geld monatelang eine Werbeagentur gebrütet hat. Der Slogan lautet: Machet Bahn! Räumt die Steine hinweg! Zum Schluß bekräftigt Jesaja die Zusagen Gottes. Ja, wirklich! Gott erinnert sich an das, was er verheißen hat. Die Niederlage gegen die Babylonier, der Abtransport ins Exil, die Zwangsabgaben, all das zählt nicht im Angesicht der Verheißungen Gottes. Und deswegen besteht kein Anlaß zum Traurigsein, zur Verzagtheit, zur Aufgabe. Räumt die Steine hinweg! Das heißt: Den Schutt könnt ihr beiseite schieben. Baut alles wieder auf, was zerstört ist! Gott wird seine Verheißungen wahr machen. Und ihr könnt euch darauf vorbereiten. Machet Bahn! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!
Die Olympiastädte wechseln: von Peking über London nach Rio de Janeiro. Gottes Stadt bleibt immer Jerusalem. Gottes Zusage und Verheißung richtet sich auf Israel, und in seinem Zentrum auf die Hauptstadt Jerusalem. Diese Zusage steht auch im Zentrum des christlichen Glaubens, die bleibende Erwählung Israels. Kein Terroranschlag und keine Bestreitung des Existenzrechts des Staates und im übrigen auch kein gerichtliches Beschneidungsverbot können diese Zusage aufheben oder brechen. Und ein zweites ist genauso wichtig. Olympia heißt, daß wir zurecht sportliche Höchstleistungen bewundern. Glauben heißt: Wir vertrauen auf Gott, wenn wir eine Niederlage erleben, welcher Art auch immer. Größer als jede mögliche Niederlage ist Gottes bleibende Verheißung an die Welt. Das war der Traum des Jesaja. Gott läßt diese Welt nicht allein. Bereiten wir uns darauf vor.
Es lohnt jede Trainings- und Vorbereitungseinheit. Amen.