Loslassen können mit Christus - Predigt zu Philipper 3,7-11 von Christiane Borchers
3,7-11

Liebe Gemeinde,

Insa ist am Boden zerstört. Ihr Mann will sich von ihr trennen. Er hat eine andere. Heute Morgen hat er ihr es gesagt. Sie traut ihren Ohren nicht. Mit großen Augen blickt sie ihn entsetzt an. „Du willst mich verlassen? Warum? Wir haben doch ein schönes Leben.“ „Wir hatten in letzter Zeit viel Stress“, gesteht sie ein, „aber nächste Woche haben wir Urlaub. Da kommen wir wieder zu uns selbst. Wir können über alles reden. Das haben wir immer getan, wenn es zu viel wurde.“ „Nein“, entgegnet Reiner, „ich will nicht mehr. Mein Entschluss steht fest.“ Insa steigen die Tränen hoch, sie fängt an zu weinen, schleudert ihm böse Worte an den Kopf, wird wütend, ist verzweifelt. Eine furchtbare Szene spielt sich ab. Ein Wort gibt das andere. Aufgelöst verlässt sie den Raum. Tastend greift sie im Flur nach dem Türdrücker im Wohnzimmer. Sie muss sich erst einmal hinlegen. Gekränkt und erschöpft fällt sie auf das Sofa.

Die Botschaft erreicht ihr Ohr, aber nicht ihren Verstand, ihr Herz schon gar nicht. „Reiner will mich verlassen“, sagt sie sich, „das kann doch nicht sein! Mein geliebter Mann will nicht mehr mit mir zusammen sein.“ In diesem Jahr sind sie dreißig Jahre verheiratet. Vor kurzem erst haben sie beide überlegt, sich neue Eheringe anzuschaffen, da die jetzigen nicht mehr passen. „Und jetzt will er nicht mehr. Er hat eine andere.“ Wie erstarrt liegt sie da, kann nicht begreifen, was sie gehört hat.

Sie weiß nicht, wie lange sie so gelegen hat. Irgendwann steht sie auf, verlässt verstört das Haus, geht zu ihren Eltern, die nur ein paar hundert Meter entfernt wohnen. Sie klingelt an deren Tür. Ihre Mutter macht auf. „Kind, um Himmels Willen, was ist los“ empfängt sie ihre Tochter und führt sie ins Haus.

Insa erzählt, dass Reiner sie verlassen will wegen einer anderen. Der ganze Schmerz bricht aus ihr heraus. Am Abend legt sie sich ins Bett. Aber sie findet keinen Schlaf. Insa steht unter Schock. Die ersten vier Nächte schläft sie überhaupt nicht. Sie findet keine Ruhe. Ihre Gedanken bewegen sich im Kreis, sie fragt sich immerzu „Warum?“, sucht nach dem Grund, fragt sich selbst, was sie falsch gemacht hat. Eigentlich möchte sie gar nicht mehr leben, wenn Reiner nicht mehr bei ihr sein will. Aber dann denkt sie an ihre alten Eltern. Das kann sie ihnen nicht antun. Das wäre deren eigener Tod.

Sie schreibt ihrer Freundin eine SMS: „Reiner hat eine andere. Er will mich verlassen.“ Ihre Situation ist ihr unerträglich. Sie muss sich mitteilen. Die Nachricht von der Trennung schlägt bei der Freundin ein wie eine Bombe. Sie ist fassungslos. Sie treffen sich, Insa schüttet ihr Herz aus und bekennt: „In der letzten Zeit haben wir wirklich viel gestritten. Das ist sonst nicht so gewesen.“ Sie schiebt die Ursachen auf die extremen Belastungen: Reiner ist bis über den Kopf mit Arbeit zugedeckt, ihre Mutter musste sich einer schweren Operation unterziehen, im Haus fielen übermäßig Reparaturen an, der Garten macht viel Arbeit, es ist alles zu viel geworden.

„Es war aber nicht so schwerwiegend“, beurteilt Insa die Lage gegenüber ihrer Freundin, „als dass wir nicht im Urlaub darüber hätten reden und Unstimmigkeiten beseitigen können. Das haben wir in schwierigen Zeiten immer hinbekommen. Und turbulente schwierige Zeiten hatten wir gewiss genug gehabt. Die haben wir alle gemeistert.“ Ihre Freundin hört ihr zu, verliert auch dann nicht die Geduld, als Insa zum wiederholten Male erzählt, was ihr durch den Kopf geht. Sie weiß: Ihre Freundin braucht jetzt ein Ohr, das zuhören kann. Kritik und Schuldzuweisungen wären fehl am Platz. Sie braucht einen Menschen, der ihr Verständnis entgegenbringt.

Insa stellt ihr bisheriges Leben vollständig in Frage. War denn alles sinnlos, alle Mühen umsonst? War alles verkehrt gewesen?

Es kommt mir fast so vor, als hörte ich den Apostel Paulus selbst reden, wenn er in seinem Brief an die Philipper schreibt: „Ich erachte mein früheres Leben für Dreck.“ Bevor Paulus sich zu Christus bekennt, ist er ein radikaler Anhänger der jüdischen Religion. Er ist sogar so weit gegangen, dass er Christinnen und Christen verfolgt hat. Sein Christus-Erlebnis auf dem Weg nach Damaskus verändert sein Leben. Christus ist ihm in einer Erleuchtung erschienen, hat ihm ins Gewissen geredet: „Warum verfolgst du mich?“ Der Apostel ist zu tief bestürzt, erkennt, dass es falsch ist, Christinnen und Christen zu verfolgen. Er wird ein glühender Anhänger Christi, so wie er zuvor ein glühender Anhänger des pharisäischen Judentums gewesen ist.

Besondere einschneidende Erlebnisse verändern unser Leben. Sie können große Bestürzung auslösen. Manchmal braucht es eine Weile, bis das Geschehene überhaupt durchdringt. „Es hat bei mir ein Viertel Jahr gebraucht, bis ich verstanden habe, dass meine Frau nicht wieder kommt“, sagte mir ein Freund, dessen Frau ihn verlassen hatte. „Ich habe es einfach nicht geglaubt.“

Ähnlich kann es Menschen gehen, die einen schweren Verlust durch Tod erleiden. Sie können nicht begreifen, dass diese geliebte Frau, dieser geliebte Mann nicht wieder kommt. Es gibt Erlebnisse, die werfen unser Leben aus der Bahn. Sie sind so stark und so bedrohlich, dass wir den Boden verlieren und keinen Grund mehr unter den Füßen haben.
Als sie erfuhr, dass sie Krebs habe, erzählte mir eine Frau, hatte sie das Gefühl, dass die Wände auf sie zukamen und drohten, sie zu erdrücken.

Paulus Damaskus-Erlebnis ist so überwältigend, dass es ihn zu Boden wirft. „Ich erachte mein bisheriges Leben für Dreck“, schreibt er. Die wörtliche Übersetzung ist noch drastischer: „Ich erachte mein bisheriges Leben für Kot.“ Kot ist das endgültig Ausgeschiedene, was der Körper nicht mehr braucht. Paulus verdeutlicht mit diesem Bild, dass er seine bisherigen Lebensinhalte vollständig losgelassen hat. Von seinen bisherigen Werten und Zielen hat er sich vollständig verabschiedet. Das Damaskus-Erlebnis ist plötzlich und ohne Vorwarnung über ihn hereingebrochen. Es war der Auslöser für sein neues Leben. Paulus gelingt es, sein Leben neu zu füllen und neuen Sinn zu geben. Er bleibt nicht in der Vergangenheit stecken, ist in der Lage, Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen. Er richtet seinen Blick nach vorn. Er ist zu der Erkenntnis gekommen, dass Christus sein Leben ist. Nach ihm richtet er sein Leben aus, er ist das Zentrum seines Wirkens. Ihm ist bewusst, dass ein Leben für Christus kein Leben ohne Leiden sein wird. Paulus begreift sein eigenes Leiden als ein Leiden, das ihn nur enger mit Christus verbindet. Wir würden Paulus aber missverstehen, wenn wir ihm unterstellten, dass er Leiden verherrliche. Er fühlt sich im Leiden mit Christus verbunden, weil dieser weiß, was es bedeutet, allein zu sein, angefeindet zu werden, ausgeliefert zu sein. In beidem, im Leiden und in der Auferstehung hat er Anteil an Jesus Christus und ist ihm gleichgestaltet.

Paulus weiß sehr wohl, dass er sein Ziel noch nicht erreicht hat. „Ich schätze mich selbst noch nicht so ein, dass ich es schon ergriffen hätte“, schreibt er den Philippern, „ich strebe es aber an. Ich vergesse, was dahinten ist und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist.“

Er streift sein vorheriges Leben ab. Er macht mit seinem bisherigen Leben einen radikalen Bruch und richtet sich neu aus.

Insa wird ihren Weg finden müssen. Sie wird sich von ihrem Mann verabschieden müssen. Ihre Ehe mit ihm gehört der Vergangenheit an. Das Loslassen und Verabschieden wird für sie ein Prozess werden, der mit großem Schmerz verbunden sein wird. Sie darf ihren Blick nach vorne richten, sich Kraft aus der Gemeinschaft, dem Glauben und dem Gebet holen.

Wenn wir die Orientierung verloren haben, wenn nichts mehr gilt, was bisher gegolten hat, so zeigt uns Christus neue Wege. Er begleitet uns und führt uns an der Hand. Christus ist unser Weg und unser Ziel. Wir haben Anteil an seinen Leiden und an seiner Auferstehung. Amen.

Perikope
24.07.2016
3,7-11