"Machen statt Moralisieren" - Predigt über Matthäus 9, 9-13 von Thomas Ammermann
9,9
"Machen statt Moralisieren" - Predigt über Matthäus 9, 9-13 von Thomas Ammermann
Liebe Gemeinde!
„Gleich und Gleich gesellt sich gern“, meint der Volksmund. Das kann freundlich oder auch abschätzig gemeint sein – je nachdem! Denn gleiche Interessen und Vorhaben, Vorlieben und Abneigungen verbinden verschiedene Menschen zu „Gleichgesinnten“ und machen es so möglich, von der „guten Gesellschaft“, die einer bevorzugt, auf seine eigene Güte und andere Vorzüge zu schließen. Vorausgesetzt, er begibt sich tatsächlich in „gute“ Gesellschaft.
...Warum sind Sie eigentlich heute hier?!
„Gleich und Gleich gesellt sich gern!“ - So mochten wohl auch die Pharisäer gedacht haben, als sie Jesus samt seinem Anhang im trauten Kreis ausgemachter Gauner und Halsabschneider fröhlich zechen sahen. Aber das war gewiss nicht freundlich gedacht... Doch hören Sie selbst – unser heutiger Predigttext aus Matthäus 9, Verse 9-13 (Die Berufung des Matthäus und das Mahl mit den Zöllnern):
9) ...Als Jesus von dort (gemeint ist Nazareth, wo er zuvor war) wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hießMatthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. 10) Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11) Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? 12) Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. 13) Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6):»Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.«
Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.
Liebe Gemeinde!
Der Anspruch, über diesen Abschnitt predigen – d.h. den (verborgenen) Sinn der Worte auslegen - zu wollen, will mir beinahe so lächerlich erscheinen, wie das Unterfangen, einen Witz zu erklären... Wer ihn nicht von selbst versteht – als Gleichgesinnter mit Humor - wird sich auch danach nicht über ihn freuen können. Dem ist schlicht nicht zu helfen...!
„...Die Starken bedürfend des Arztes nicht, sondern die Kranken...“Diese Aussage bildet tatsächlich so etwas wie eine Pointe des ganzen Erzählstücks um die Berufung des Jüngers Matthäus. Doch es ist nichts Komisches daran. Im Gegenteil: Die Feststellung, dass das Engagement der Helfer den Bedürftigen, der Mächtigen den Schwachen und der Ärzte den Kranken gelten soll, stellt ja eine für den gesunden Menschenverstand unmittelbar einleuchtende Selbstverständlichkeit dar. Lächerlich wirken dagegen die formal-moralischen Einwände der Pharisäer: „Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? (... Das kann er doch nicht machen...?!)“
Oder anders ausgedrückt – übersetzt in den Zungenschlag jenes Streites über den Umbau des Gesundheits- und Sozialsystems, wie er seit Jahren die politischen Debatten in unserem Land beherrscht: Von der pointierten Feststellung her: „nicht die Starken, sondern die Kranken bedürfen des Arztes!“ wird all das polit-moralische Drumrum-Gerede von Machbarkeit und den Bedingungen notwendiger Zuwendung, das ganze Gezänk über die Kirchen-, Klassen- oder Kassen-Zugehörigkeit des Bedürftigen, als ein einziger großer Witz enttarnt!
„Die Kranken bedürfen des Arztes“ – nicht der Buchhalter und Finanzstrategen, so wenig wie der Moralisten und politischen Meinungsspekulanten!
„Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6):»Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer(fordern)«“, sagt Jesus. Und sein, dem gesunden Minister-(Ver)-Stand so unselbstverständlicher„wüstentrockener“ Humor entlarvt die in der Öffentlichkeit oft achselzuckend präsentierte Bedauerungsrhetorik all der empathisch lächelnden Service-Demokraten unserer bundesdeutschen Sozialpolitikganz nebenbei als ungenügend und letztlich unmenschlich.
Dabei soll natürlich nicht die Arbeit jener diskreditiert werden, die sich in Staat oder auch Kirche um formaljuristische Zuständigkeiten, Strukturpläne und das Problem der Finanzierbarkeit medizinischer, sozialer und auch religiöser Zuwendung kümmern. All das ist wichtig - heute wie zu Jesu Zeiten. Wie übrigens auch die Begründung und Verteidigung jener Werte, mit denen eine Sozialgemeinschaft wohl zwischen „Sündern und Zöllnern“ auf der einen und den Gerechten (den guten Steuerzahlern z.B.) auf der anderen Seite unterscheiden muss - gerade damit die Praxis jenes Werte- und Sozialsystems, in dem die Zuwendung zu den Schwachen eine Rolle spielt, für die Zukunft gesichert werden kann.
Trotzdem: All diese Bemühungen können, um im medizinischen Bild zu bleiben, allenfalls Teil einer klugen Gesundheitsvorsorge sein. Am Ende dürfen die „klugen Sachwalter“ nicht das letzte Wort haben! Jedenfalls nicht sie allein. Denn am Ende geht es um wirkliche Menschen... Wer tatsächlich krank ist, braucht gute Hilfe, statt bloß guter Argumente dafür, warum er sie nicht kriegt oder dass sie zu teuer sei...
„Geht aber hin und lernt, was das heißt: »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer(bringen)«“, sagt Jesus Christus. Und legt damit den Grundstein zu einer „Gesundheitspolitik“ der anderen Art. – Gottes Heils-Reform nach dem Maß seiner „großen Barmherzigkeit“, wie es im 51. Psalm heißt: „Gott sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge meine Sünden nach dem Maß deiner großen Barmherzigkeit...“ (Psalm 51, 3).
Denn Barmherzigkeit ist keine Frage der Moral oder des Sozialrechts oder sonst irgendwelcher allgemeinen Grundsätze und erst recht nicht des Kalküls, sondern der konkreten, erneuernden Zuwendung zu den Menschen, jedem einzelnen. Man kann sie so wenig systematisieren, hochrechnen, „kostendeckeln“, wie man die einzelnen Menschen mit ihren jeweiligen Problemen und Bedürftigkeiten wirklich erfassen kann, indem man das Denk- und Maßwerk der Buchhalter, Statistiker und Profildesigner einer anonymisierten Fürsorgeindustrie auf sie anlegt oder – was dem auf den zweiten Blick übrigens eng verwandt ist – das Maß der eigenen Zu- oder Abwendung von ideologischen, moralischen oder religiösen Kriterien abhängig macht. Und seien sie noch so tolerant formuliert.
Jede institutionalisierte Form der Begegnung von Menschen ist der Barmherzigkeit, wie sie Jesus versteht, fremd. Weder die Frage, ob einer ein „gutes“ oder „schädliches“ Glied der Sozialgemeinschaft ist, spielt dafür eine Rolle, noch ein allgemeines Menschenrecht („ohne Ansehen der Person“, wie es nur scheinbar humanistisch daherkommt), sondern das genaue Gegenteil von all dem: Unter ausdrücklicher, un-mittelbarer Wahrnehmung der Person und Persönlichkeit des Einzelnen und seiner individuellen Lage.
Die Kranken bedürfen des Arztes. Punktum!
Wer sich „versündigt“ und entsprechend ein Problem mit Recht und Moral hat, mit dem müssen wir uns beschäftigen – gern auch kritisch! - statt seinen „Fall“ bloß moralisch zu bewerten und anschließend verwaltungs- oder vollzugstechnisch zu entsorgen und den Menschen darüber zu vergessen.
Im Dienste der Barmherzigkeit!
Geht aber hin und lernt, was das heißt!, empfiehlt Jesus Christus (über die Schulter hinweg vom Tisch der Zöllner aus).
Liebe Gemeinde, es geht um – wie es neu(un)deutsch heißen würde – Problem- statt System-orientiertes Denken. Lösen statt Moralisieren. Beziehung schaffen statt bloß Wertbezüge herstellen oder verteidigen... Auch und gerade in der Kirche!
Oder anders gesagt: Vom „(Regierungs-)Hubschrauber“ der theoretischen Betrachtung aus mag sich die weiß Gott abwechslungsreiche Landschaft menschlichen Befindens und Betragens wohl gut überblicken, beurteilen, verwalten und kartographieren lassen. Es kommt aber darauf an, dass wir auf dem Feld der Begegnung wirklich landen, um auf unseren eigenen Füßen jene Schluchten zu durchmessen und Klippen zu überwinden, die sich zwischen den Menschen auftun...! Und keine kirchliche oder moralische Grundeinstellung, keine finanzierungstechnische oder sozialpolitische Allgemeinverantwortung dispensiert uns von dieser Pflicht!
In diesem Sinne wird verständlich, was Jesus am Ende unserer kleinen Episode geradezu paradigmatisch verkündet: „Geht ... hin und lernt, was das heißt:»Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.“
Dabei – noch einmal sei es gesagt – wird niemand bestreiten wollen, dass es auch in unserer Kirche formale, verwaltungs- oder moraltechnische Strukturen und Traditionen gibt – die berühmten Sachzwänge! –, durch die dem Engagement Grenzen gesetzt sind, welche auf Dauer nicht ignoriert werden dürfen.
Aber: Nicht diese Strukturen und Sachzwänge machen die Kirche aus, und nicht darin, dass sie beachtet werden, besteht ihr besonderer Wert für die Menschen, sondern im Gegenteil: Als Kirche Jesus Christi bewährt sich unsere „Gemeinschaft Gleichgesinnter“ in dem Maße, wie es uns darin gelingt, trotz aller Grenzen und über sie hinaus anders orientiert zu bleiben: An den wirklichen Menschen und ihren konkreten Problemen. Gewissermaßen „ohne Ansehen der Kartei“!
...Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten...
Im Bild gesprochen: Die Institution Kirche mitsamt ihren Rechts- und Verwaltungsstatuten, ihren dogmatischen Bekenntnissen und der oft schleppenden „Liturgie“ ihrer Aktivitäten, stellt gewissermaßen so etwas dar wie den Verdauungsapparat des „Leibes Christi“: notwendig, aber auch anfällig für Blähungen und andere Unappetitlichkeiten.
Das Hirn der Christen muss jedoch frei bleiben für die Idee der Barmherzigkeit, mit der sie ihre Kirche immer wieder offen halten für „Spontanmutationen“ der Liebe und des Geistes auf dem Feld zwischenmenschlicher Begegnungen.
„Braucht einer deine Zuwendung, dann gib sie ihm. Punktum!“
...Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten...
Wehe aber denen, die mit den Därmen denken...
Und jetzt, liebe Gemeinde, wollen Sie sicher wissen, wie das alles konkret aussehen kann, nicht wahr?
Nun, ich gebe Ihnen ein gutes Beispiel dafür – das beste, das ich kenne: „... als ... (Jesus) zu Tisch saß im Hause (des Zöllners Matthäus), siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?“ - Sie denken mit den Därmen... – „Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.“
Und wo sitzen Sie, liebe Gemeinde – wir alle?
...Als ich im „Hause der Staatsraison“ zu Gast war – ich meine das Ulmer Gefängnis, wo ich ein paar Jahre als Pfarrer tätig war –, da ließ man mich zwar täglich mit den „Sündern und Zöllnern“ unserer Zeit Tischgemeinschaft halten (wir sind ja eine humane Gesellschaft, keine Pharisäer und Unmenschen), doch als ich mich (aus gutem Grund) verstärkt jener Klientel zuwandte, die eine besonders widerliche Deliktgeschichte aufzuweisen hatte: den Vergewaltigern und „Kinderschändern“, da wurde Empörung laut – nicht nur seitens der Beamten, sondern auch und gerade von denen, die selbst einiges auf dem Kerbholz hatten. „Wie können ausgerechnet Sie als Pfarrer sich mit diesem Abschaum abgeben? Haben Sie denn keine Grundsätze...?“. So kam es mehr als einmal aus dem Mund gestandener Bankräuber und Zuhälter. Am Ende versuchte man mir dafür – wie man so sagt – in dem Laden „die Schuhe anzuzünden“. Weil es nach wie vor einfacher ist (selbst für Gauner), sich als gute Vertreter einer moralischen Wertordnung zu behaupten, denn als Menschen in direkter Auseinandersetzung mit ihren Mitmenschen zu bewähren!
Und wenn es denen schon so geht, wie groß mag da für uns überwiegend unbescholtene Bürger - die wir ja wirklich etwas zu verteidigen haben: unsere moralischen Standards, unseren „Livestile“ - die Gefahr sein, im Moralisieren, Katalogisieren, Be- und Aburteilen, in der selbst genähten „Sach-Zwangsjacke“ kirchlicher Rechtgläubigkeit, stecken zu bleiben und unseren „guten Menschenverstand“ zu verlieren. Und mit ihm die Würde unseres Bekenntnisses, welche darin besteht, dass wir doch anders, dass wir barmherzig sein könnten...!?
„Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten“, bekennt Jesus Christus...
Deshalb sage ich es zum Abschluss noch einmal etwas provokativ:
Unsere vornehmste Aufgabe als jene, die sich zu ihm halten wollen, besteht nicht darin, eine bestimmte moralische oder weltanschauliche Doktrin zu vertreten, sondern für die Menschen, die Gott uns jeweils an die Seite gegeben oder in den Weg gesandt hat – auch die unbequemen - da zu sein. Möglichst überzeugend und das heißt: „Ohne Wenn und Aber“!
Unsere vornehmste Aufgabe ist es entsprechend noch weniger, den Wert- und Weltanschauungskonzern „Kirche“ effizienztechnisch und ökonomisch auf Bestniveau zu bringen (oder zu halten), womöglich kostenneutral zu wirtschaften und möglichst keine Schulden zu machen, sondern dem gerecht zu werden, was wir der Barmherzigkeit Gottes mit uns schuldig sind.
„Geht aber hin und lernt, was das heißt: »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer(einziehen).“ Und: „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen...“, ruft Jesus Christus!
„Gleich und Gleich gesellt sich gern“, hatten wir zu Anfang dieser Predigt festgestellt. Doch vor Gott sind es ja in Wirklichkeit nicht unsere gemeinsamen Interessen und gleichen Ansichten, die uns miteinander verbinden, sondern dieselbe Bedürftigkeit der Barmherzigkeit Gottes.
Die teilen Gute und weniger Gute, die im Leben Gescheiten und die am Leben Gescheiterten, Gesunde und Kranke gleichermaßen. Denn vor Gott stehen wir, mit unseren Unvollkommenheiten und tausend ganz individuellen Gründen dafür, doch alle gleichermaßen ziemlich unperfekt dar – als Gauner mit einem Hang zur Moral...
Da ist es gut und tröstlich, zu wissen, dass ER sich an unseren Tisch setzt – von Gleich zu Gleich – wie weiland (und immer wieder) Jesus mit den Sündern und Zöllnern zusammen an einem Tisch saß und sitzt.
Apropos: Warum sitzen Sie heute eigentlich hier? ...
„...Als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hießMatthäus; und er sprach zu ihm: FOLGE MIR! Und er stand auf und folgte ihm...“
AMEN
„Gleich und Gleich gesellt sich gern“, meint der Volksmund. Das kann freundlich oder auch abschätzig gemeint sein – je nachdem! Denn gleiche Interessen und Vorhaben, Vorlieben und Abneigungen verbinden verschiedene Menschen zu „Gleichgesinnten“ und machen es so möglich, von der „guten Gesellschaft“, die einer bevorzugt, auf seine eigene Güte und andere Vorzüge zu schließen. Vorausgesetzt, er begibt sich tatsächlich in „gute“ Gesellschaft.
...Warum sind Sie eigentlich heute hier?!
„Gleich und Gleich gesellt sich gern!“ - So mochten wohl auch die Pharisäer gedacht haben, als sie Jesus samt seinem Anhang im trauten Kreis ausgemachter Gauner und Halsabschneider fröhlich zechen sahen. Aber das war gewiss nicht freundlich gedacht... Doch hören Sie selbst – unser heutiger Predigttext aus Matthäus 9, Verse 9-13 (Die Berufung des Matthäus und das Mahl mit den Zöllnern):
9) ...Als Jesus von dort (gemeint ist Nazareth, wo er zuvor war) wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hießMatthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. 10) Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11) Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? 12) Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. 13) Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6):»Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.«
Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.
Liebe Gemeinde!
Der Anspruch, über diesen Abschnitt predigen – d.h. den (verborgenen) Sinn der Worte auslegen - zu wollen, will mir beinahe so lächerlich erscheinen, wie das Unterfangen, einen Witz zu erklären... Wer ihn nicht von selbst versteht – als Gleichgesinnter mit Humor - wird sich auch danach nicht über ihn freuen können. Dem ist schlicht nicht zu helfen...!
„...Die Starken bedürfend des Arztes nicht, sondern die Kranken...“Diese Aussage bildet tatsächlich so etwas wie eine Pointe des ganzen Erzählstücks um die Berufung des Jüngers Matthäus. Doch es ist nichts Komisches daran. Im Gegenteil: Die Feststellung, dass das Engagement der Helfer den Bedürftigen, der Mächtigen den Schwachen und der Ärzte den Kranken gelten soll, stellt ja eine für den gesunden Menschenverstand unmittelbar einleuchtende Selbstverständlichkeit dar. Lächerlich wirken dagegen die formal-moralischen Einwände der Pharisäer: „Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? (... Das kann er doch nicht machen...?!)“
Oder anders ausgedrückt – übersetzt in den Zungenschlag jenes Streites über den Umbau des Gesundheits- und Sozialsystems, wie er seit Jahren die politischen Debatten in unserem Land beherrscht: Von der pointierten Feststellung her: „nicht die Starken, sondern die Kranken bedürfen des Arztes!“ wird all das polit-moralische Drumrum-Gerede von Machbarkeit und den Bedingungen notwendiger Zuwendung, das ganze Gezänk über die Kirchen-, Klassen- oder Kassen-Zugehörigkeit des Bedürftigen, als ein einziger großer Witz enttarnt!
„Die Kranken bedürfen des Arztes“ – nicht der Buchhalter und Finanzstrategen, so wenig wie der Moralisten und politischen Meinungsspekulanten!
„Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6):»Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer(fordern)«“, sagt Jesus. Und sein, dem gesunden Minister-(Ver)-Stand so unselbstverständlicher„wüstentrockener“ Humor entlarvt die in der Öffentlichkeit oft achselzuckend präsentierte Bedauerungsrhetorik all der empathisch lächelnden Service-Demokraten unserer bundesdeutschen Sozialpolitikganz nebenbei als ungenügend und letztlich unmenschlich.
Dabei soll natürlich nicht die Arbeit jener diskreditiert werden, die sich in Staat oder auch Kirche um formaljuristische Zuständigkeiten, Strukturpläne und das Problem der Finanzierbarkeit medizinischer, sozialer und auch religiöser Zuwendung kümmern. All das ist wichtig - heute wie zu Jesu Zeiten. Wie übrigens auch die Begründung und Verteidigung jener Werte, mit denen eine Sozialgemeinschaft wohl zwischen „Sündern und Zöllnern“ auf der einen und den Gerechten (den guten Steuerzahlern z.B.) auf der anderen Seite unterscheiden muss - gerade damit die Praxis jenes Werte- und Sozialsystems, in dem die Zuwendung zu den Schwachen eine Rolle spielt, für die Zukunft gesichert werden kann.
Trotzdem: All diese Bemühungen können, um im medizinischen Bild zu bleiben, allenfalls Teil einer klugen Gesundheitsvorsorge sein. Am Ende dürfen die „klugen Sachwalter“ nicht das letzte Wort haben! Jedenfalls nicht sie allein. Denn am Ende geht es um wirkliche Menschen... Wer tatsächlich krank ist, braucht gute Hilfe, statt bloß guter Argumente dafür, warum er sie nicht kriegt oder dass sie zu teuer sei...
„Geht aber hin und lernt, was das heißt: »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer(bringen)«“, sagt Jesus Christus. Und legt damit den Grundstein zu einer „Gesundheitspolitik“ der anderen Art. – Gottes Heils-Reform nach dem Maß seiner „großen Barmherzigkeit“, wie es im 51. Psalm heißt: „Gott sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge meine Sünden nach dem Maß deiner großen Barmherzigkeit...“ (Psalm 51, 3).
Denn Barmherzigkeit ist keine Frage der Moral oder des Sozialrechts oder sonst irgendwelcher allgemeinen Grundsätze und erst recht nicht des Kalküls, sondern der konkreten, erneuernden Zuwendung zu den Menschen, jedem einzelnen. Man kann sie so wenig systematisieren, hochrechnen, „kostendeckeln“, wie man die einzelnen Menschen mit ihren jeweiligen Problemen und Bedürftigkeiten wirklich erfassen kann, indem man das Denk- und Maßwerk der Buchhalter, Statistiker und Profildesigner einer anonymisierten Fürsorgeindustrie auf sie anlegt oder – was dem auf den zweiten Blick übrigens eng verwandt ist – das Maß der eigenen Zu- oder Abwendung von ideologischen, moralischen oder religiösen Kriterien abhängig macht. Und seien sie noch so tolerant formuliert.
Jede institutionalisierte Form der Begegnung von Menschen ist der Barmherzigkeit, wie sie Jesus versteht, fremd. Weder die Frage, ob einer ein „gutes“ oder „schädliches“ Glied der Sozialgemeinschaft ist, spielt dafür eine Rolle, noch ein allgemeines Menschenrecht („ohne Ansehen der Person“, wie es nur scheinbar humanistisch daherkommt), sondern das genaue Gegenteil von all dem: Unter ausdrücklicher, un-mittelbarer Wahrnehmung der Person und Persönlichkeit des Einzelnen und seiner individuellen Lage.
Die Kranken bedürfen des Arztes. Punktum!
Wer sich „versündigt“ und entsprechend ein Problem mit Recht und Moral hat, mit dem müssen wir uns beschäftigen – gern auch kritisch! - statt seinen „Fall“ bloß moralisch zu bewerten und anschließend verwaltungs- oder vollzugstechnisch zu entsorgen und den Menschen darüber zu vergessen.
Im Dienste der Barmherzigkeit!
Geht aber hin und lernt, was das heißt!, empfiehlt Jesus Christus (über die Schulter hinweg vom Tisch der Zöllner aus).
Liebe Gemeinde, es geht um – wie es neu(un)deutsch heißen würde – Problem- statt System-orientiertes Denken. Lösen statt Moralisieren. Beziehung schaffen statt bloß Wertbezüge herstellen oder verteidigen... Auch und gerade in der Kirche!
Oder anders gesagt: Vom „(Regierungs-)Hubschrauber“ der theoretischen Betrachtung aus mag sich die weiß Gott abwechslungsreiche Landschaft menschlichen Befindens und Betragens wohl gut überblicken, beurteilen, verwalten und kartographieren lassen. Es kommt aber darauf an, dass wir auf dem Feld der Begegnung wirklich landen, um auf unseren eigenen Füßen jene Schluchten zu durchmessen und Klippen zu überwinden, die sich zwischen den Menschen auftun...! Und keine kirchliche oder moralische Grundeinstellung, keine finanzierungstechnische oder sozialpolitische Allgemeinverantwortung dispensiert uns von dieser Pflicht!
In diesem Sinne wird verständlich, was Jesus am Ende unserer kleinen Episode geradezu paradigmatisch verkündet: „Geht ... hin und lernt, was das heißt:»Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.“
Dabei – noch einmal sei es gesagt – wird niemand bestreiten wollen, dass es auch in unserer Kirche formale, verwaltungs- oder moraltechnische Strukturen und Traditionen gibt – die berühmten Sachzwänge! –, durch die dem Engagement Grenzen gesetzt sind, welche auf Dauer nicht ignoriert werden dürfen.
Aber: Nicht diese Strukturen und Sachzwänge machen die Kirche aus, und nicht darin, dass sie beachtet werden, besteht ihr besonderer Wert für die Menschen, sondern im Gegenteil: Als Kirche Jesus Christi bewährt sich unsere „Gemeinschaft Gleichgesinnter“ in dem Maße, wie es uns darin gelingt, trotz aller Grenzen und über sie hinaus anders orientiert zu bleiben: An den wirklichen Menschen und ihren konkreten Problemen. Gewissermaßen „ohne Ansehen der Kartei“!
...Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten...
Im Bild gesprochen: Die Institution Kirche mitsamt ihren Rechts- und Verwaltungsstatuten, ihren dogmatischen Bekenntnissen und der oft schleppenden „Liturgie“ ihrer Aktivitäten, stellt gewissermaßen so etwas dar wie den Verdauungsapparat des „Leibes Christi“: notwendig, aber auch anfällig für Blähungen und andere Unappetitlichkeiten.
Das Hirn der Christen muss jedoch frei bleiben für die Idee der Barmherzigkeit, mit der sie ihre Kirche immer wieder offen halten für „Spontanmutationen“ der Liebe und des Geistes auf dem Feld zwischenmenschlicher Begegnungen.
„Braucht einer deine Zuwendung, dann gib sie ihm. Punktum!“
...Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten...
Wehe aber denen, die mit den Därmen denken...
Und jetzt, liebe Gemeinde, wollen Sie sicher wissen, wie das alles konkret aussehen kann, nicht wahr?
Nun, ich gebe Ihnen ein gutes Beispiel dafür – das beste, das ich kenne: „... als ... (Jesus) zu Tisch saß im Hause (des Zöllners Matthäus), siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?“ - Sie denken mit den Därmen... – „Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.“
Und wo sitzen Sie, liebe Gemeinde – wir alle?
...Als ich im „Hause der Staatsraison“ zu Gast war – ich meine das Ulmer Gefängnis, wo ich ein paar Jahre als Pfarrer tätig war –, da ließ man mich zwar täglich mit den „Sündern und Zöllnern“ unserer Zeit Tischgemeinschaft halten (wir sind ja eine humane Gesellschaft, keine Pharisäer und Unmenschen), doch als ich mich (aus gutem Grund) verstärkt jener Klientel zuwandte, die eine besonders widerliche Deliktgeschichte aufzuweisen hatte: den Vergewaltigern und „Kinderschändern“, da wurde Empörung laut – nicht nur seitens der Beamten, sondern auch und gerade von denen, die selbst einiges auf dem Kerbholz hatten. „Wie können ausgerechnet Sie als Pfarrer sich mit diesem Abschaum abgeben? Haben Sie denn keine Grundsätze...?“. So kam es mehr als einmal aus dem Mund gestandener Bankräuber und Zuhälter. Am Ende versuchte man mir dafür – wie man so sagt – in dem Laden „die Schuhe anzuzünden“. Weil es nach wie vor einfacher ist (selbst für Gauner), sich als gute Vertreter einer moralischen Wertordnung zu behaupten, denn als Menschen in direkter Auseinandersetzung mit ihren Mitmenschen zu bewähren!
Und wenn es denen schon so geht, wie groß mag da für uns überwiegend unbescholtene Bürger - die wir ja wirklich etwas zu verteidigen haben: unsere moralischen Standards, unseren „Livestile“ - die Gefahr sein, im Moralisieren, Katalogisieren, Be- und Aburteilen, in der selbst genähten „Sach-Zwangsjacke“ kirchlicher Rechtgläubigkeit, stecken zu bleiben und unseren „guten Menschenverstand“ zu verlieren. Und mit ihm die Würde unseres Bekenntnisses, welche darin besteht, dass wir doch anders, dass wir barmherzig sein könnten...!?
„Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten“, bekennt Jesus Christus...
Deshalb sage ich es zum Abschluss noch einmal etwas provokativ:
Unsere vornehmste Aufgabe als jene, die sich zu ihm halten wollen, besteht nicht darin, eine bestimmte moralische oder weltanschauliche Doktrin zu vertreten, sondern für die Menschen, die Gott uns jeweils an die Seite gegeben oder in den Weg gesandt hat – auch die unbequemen - da zu sein. Möglichst überzeugend und das heißt: „Ohne Wenn und Aber“!
Unsere vornehmste Aufgabe ist es entsprechend noch weniger, den Wert- und Weltanschauungskonzern „Kirche“ effizienztechnisch und ökonomisch auf Bestniveau zu bringen (oder zu halten), womöglich kostenneutral zu wirtschaften und möglichst keine Schulden zu machen, sondern dem gerecht zu werden, was wir der Barmherzigkeit Gottes mit uns schuldig sind.
„Geht aber hin und lernt, was das heißt: »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer(einziehen).“ Und: „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen...“, ruft Jesus Christus!
„Gleich und Gleich gesellt sich gern“, hatten wir zu Anfang dieser Predigt festgestellt. Doch vor Gott sind es ja in Wirklichkeit nicht unsere gemeinsamen Interessen und gleichen Ansichten, die uns miteinander verbinden, sondern dieselbe Bedürftigkeit der Barmherzigkeit Gottes.
Die teilen Gute und weniger Gute, die im Leben Gescheiten und die am Leben Gescheiterten, Gesunde und Kranke gleichermaßen. Denn vor Gott stehen wir, mit unseren Unvollkommenheiten und tausend ganz individuellen Gründen dafür, doch alle gleichermaßen ziemlich unperfekt dar – als Gauner mit einem Hang zur Moral...
Da ist es gut und tröstlich, zu wissen, dass ER sich an unseren Tisch setzt – von Gleich zu Gleich – wie weiland (und immer wieder) Jesus mit den Sündern und Zöllnern zusammen an einem Tisch saß und sitzt.
Apropos: Warum sitzen Sie heute eigentlich hier? ...
„...Als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hießMatthäus; und er sprach zu ihm: FOLGE MIR! Und er stand auf und folgte ihm...“
AMEN
Perikope
Datum 27.01.2013
Reihe: 2012/2013 Reihe 5
Bibelbuch: Matthäus
Kapitel / Verse: 9,9
Wochenlied: 342 409
Wochenspruch: Dan 9,18