"Macht" - Predigt über Matthäus 9,35-38;10,1-7 von Wolfgang Winter
9,35
Macht
Liebe Gemeinde,
vor einiger Zeit bekam ich Besuch von Zeugen Jehovas. Zwei junge Männer, ordentlich in Schlips und Kragen, stellten sich vor und baten um ein Gespräch mit mir. Ich führte sie in mein Zimmer, und nach einigen Höflichkeiten zu Beginn kamen sie schnell zur Sache. Sie sagten, sie wollten mich zur Entscheidung rufen. Der Kampf Gottes mit dem Satan sei in vollem Gange. Die Kriege auf der Welt, die Gewalt und Zerstörung, die Ausbeutung von Mensch und Natur – dahinter stecke der Satan. Aber Gott werde bald ein Ende machen und Feuer und Schwefel über die Bösen regnen lassen. Er werde sich mit Macht durchsetzen und die Bösen ausrotten. Millionen würden zugrunde gehen – aber ich könne mich jetzt noch für Gottes siegreiche Sache entscheiden.
Ich wurde unterdessen unruhig, Ärger stieg auf. Dann sagte ich sehr scharf: „Wie können Sie und Ihr Gott das Leben von Millionen Menschen so kaltherzig verloren geben!“
Ich hatte das Gefühl, einen unverdaulichen Brocken geschluckt zu haben, den ich unbedingt wieder los werden wollte. Die Atmosphäre war gespannt.
Und dann geschah etwas Merkwürdiges: ich sah hinter den verschlossenen und harten Gesichtszügen der beiden Männer plötzlich die offenen und verletzlichen Gesichtszüge junger Leute aufscheinen. Die beiden gingen mir nahe. Es berührte mich, wie sie sich mit mir abmühten, und so etwas wie väterliches Besorgtsein und väterliches Mitfühlen regten sich in mir.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: ich gewann meine Fassung wieder und konnte die beiden Männer in ihrer Person anerkennen, ohne ihr Anliegen teilen zu müssen. Entsprechend entspannt konnten wir uns dann trennen.
Auch in unserem Text geht es um das Sehen und Zu-Herzen-Gehen als zentralem Element in der Verkündigung und im Tun Jesu. „Als er das Volk sah, bekam er Erbarmen mit ihnen...“ Luther übersetzt: „jammerte ihn desselben.“ Mit dem Sehen sind starke, bis ins Leibliche gehende Gefühle verbunden.
Der Wortstamm des an dieser Stelle gebrauchten griechischen Wortes für Erbarmen enthält die Bedeutung: sich etwas an die Eingeweide gehen lassen, ans Herz gehen lassen. Gemeint ist also nicht der kühle Blick des Diagnostikers, der eine Notlage feststellt, auch nicht der gleichgültige Blick des Besitzbürgers, der daran vorbeigeht. Vielleicht kann man sagen: es geht um ein mitfühlendes, mitleidendes, eben barmherziges Sehen.
Aus diesem Erbarmen heraus wendet sich Jesus an die Jünger: sie werden als Arbeiter bei der Ernte dringend gebraucht, sie sollen sich wie Jesus bewegen lassen vom Erbarmen und die Not des Volkes heilen. So geht das Erbarmen Jesu weiter im Erbarmen der Jünger und im Erbarmen der Gemeinde. Die Wirksamkeit Jesu wird in die Kirche hinein verlängert, so die Intention unseres Textes (Ulrich Luz).
Deshalb bekommen die Jünger, sozusagen als Stellvertreter der Gemeinde, die gleiche Vollmacht zu verkündigen und zu heilen, wie sie Jesus ausübt: „...und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, um sie auszutreiben und um jede Krankheit und jede Schwäche zu heilen.“ Und am Ende: „...geht aber und verkündet: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ In ihnen setzt sich Jesu Verkündigen und Heilen fort. Beides hat gleiches Gewicht.
Für unsere protestantisch ausgebildeten Ohren klingt diese Beauftragung doch recht fremd. Nicht als Hörer der Botschaft von Kreuz und Auferstehung Jesu sind wir hier angesprochen, sondern als Täter, die die Not anderer heilen in Wort und Tat – freilich in der Gewissheit, dass wir darin teilhaben am Wirken Jesu. So ist es auch uns am Ende des Matthäusevangeliums zugesagt: „Ich bin bei Euch alle Tage, bis an der Welt Ende.“
Teilhaben am Wirken Jesu, das ist Teilhaben an seiner Macht. Was ist das?
Unmittelbar vor unserem Text stehen verschiedene Heilungsgeschichten. Es fällt auf, dass in ihnen mehrfach vom Glauben die Rede ist: „Dein Glaube hat dir geholfen“. Der Glaube, nicht die Wundermacht des Wunderheilers! Wahrscheinlich sind viele Menschen zu Jesus mit der Erwartung gekommen, dass er sie irgendwie als Wunderheiler mit einer Wundermacht heilt. Aber Jesus verweist auf eine Kraft in den Kranken selbst. Der Glaube bewirkt das Wunder der Heilung (Gerd Theißen). „Dein Glaube hat dich gesund gemacht“, sagt er zu der an Blutungen leidenden Frau. Auch die zwei Blinden hat ihr aktiver Glaube gerettet. Unbeiirbar und für andere wahrscheinlich in störender Weise folgen sie Jesus, schreiend auf sich aufmerksam machend: „Erbarme dich unser“. Und wieder lässt er sich ihre Not nahe gehen und sieht diese Kraft in ihnen: „Euch geschehe nach Eurem Glauben“.
Kann man sagen, dass hier eine durch viele Lebenskrisen hindurch tragende Zuversicht gesehen und gewürdigt wird, die für jeden Menschen fundamental ist? Der amerikanische Psychoanalytiker Erik H. Erikson spricht in diesem Zusammenhang vom Urvertrauen als einem Gefühl unzerstörbarer Verbundenheit mit einer guten Macht und zugleich dem Gefühl eines individuellen Herausgehobenseins. In diesem Sinne ist Glaube das Gefühl der Verbundenheit mit der unzerstörbaren Macht Gottes und damit zugleich das Gefühl persönlicher Würde. Vielleicht kommt es daher, dass in den Wundergeschichten gerade Menschen geheilt werden, die sich nicht abwimmeln, abdrängen lassen, sondern auf diese Macht Gottes setzen?
Was ist dann Heilung? Nicht in erster Linie ein Etwas am Menschen, z.B. Heilung eines Organs.
Geheilt wird vor allem eine unbändige, ja überbordende Lebenszuversicht und Lebenskraft eines Menschen. „Alles ist möglich dem, der glaubt“ (Mk.9,23), der Glaube kann „Berge versetzen“ (Mt 17, 20).
Und die Macht Jesu? Und unsere Macht als seine Beauftragten?
Im griechischen Wort Vollmacht (exusia) stecken zwei Bedeutungen: Beauftragung, Handeln im Auftrag – und die Fähigkeit zum Handeln, das Vermögen. Die Macht zu heilen kommt also von Gott. Er handelt in der heilenden Macht Jesu und auch in unserer. Und deshalb: heilende Macht kann sich nicht in einem Gefälle von oben nach unten ausdrücken, weil sie Dienst ist an der Lebenskraft Gottes, die in jedem Menschen wahrgenommen und freigesetzt werden soll.
Vollmacht zu heilen: das kann heißen, das Leiden anderer Menschen sich zu Herzen nehmen - gegen den Sog der Gleichgültigkeit. Das kann auch heißen, bei anderen Menschen eine Stärke wahrzunehmen – gegen den Sog der Wahrnehmungsverengung.
Also: gewohnte und eingespielte Fühl- und Sichtweisen durchbrechen.
Kürzlich war eine Ausstellung mit Fotos aus einem Kölner Vorort zu sehen. Zunächst imponierten auf den Bildern die tristen grauen Kolosse der Hochhäuser. Bei genauerem Hinsehen fiel das Auge des Betrachters auf Kinder, die sich in den seltsamsten Kostümierungen fotografiert hatten – beim Tanzen, beim Theaterspielen, beim Grimassenschneiden. So wurden die Bilder lebendig durch den Kontrast zwischen Erstarrung und Bewegung, zwischen Farblosigkeit und Buntheit. Auf diesen Bildern waren die Kinder mehr als bloße Opfer verfehlter Wohnungspolitik. In diesen Bildern war etwas vom Eigen-Sinn, von der Würde ganz eigenen, persönlichen Lebens spürbar. Das hatten die Kinder entdeckt, ins Bild gesetzt und öffentlich gemacht. Auch eine Heilungsgeschichte.
„...und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, sie auszutreiben“.
Bisher haben wir Heilungsgeschichten, damals und heute, auf uns wirken lassen. Was aber hat es mit der Austreibung unreiner Geister auf sich?
Kurz vor unserer Textstelle berichtet Matthäus, wie ein Mensch zu Jesus gebracht wird, der von einem Dämon besessen ist und deshalb stumm ist. Jesus treibt den Dämon aus, so dass der Stumme wieder sprechen kann. Von solchen wunderhaften Exorzismen wird öfter in den Evangelien berichtet, später auch, in der Apostelgeschichte, von Exorzismen durch den Apostel Paulus.
Der Exorzismus ist ein Kampfgeschehen. Ein böser Geist, ein Dämon, hat von einem Menschen Besitz ergriffen. Dieser Dämon wird durch eine Gegenmacht ausgetrieben.
Exorzismen setzen den Glauben an Geister und Dämonen voraus – und dieser Glaube ist den meisten unter uns abhanden gekommen. Aber die Kernerfahrung ist geblieben: die schlimme Erfahrung, von einer bösen fremden Macht im eigenen Innern beherrscht zu sein. Sie kommt häufig vor bei Opfern von schweren seelischen Traumatisierungen. So haben Opfer von sexueller Gewalt ihr Leben lang zu kämpfen mit quälenden Schuld- und Schamgefühlen, beispielsweise mit Selbstvorwürfen (warum habe ich mich nicht gewehrt?) oder dem Gefühl, einen Makel mit sich zu schleppen (ich bin schmutzig, ich kann mich deshalb nicht zeigen). Diese Gefühle sind ganz irrational, Schuld und Scham sollten den Täter umtreiben. Aber sie sind im Opfer und sind dort zu einer tyrannischen Instanz geworden. Warum? Wahrscheinlich geht es hier um eine seelische Notfallreaktion: Um nicht ganz in der unerträglichen Ohnmacht und Hilflosigkeit stecken zu bleiben, klammert sich das Opfer sozusagen an den Täter und erhält dafür ein wenigstens rudimentäres Gefühl der Verbundenheit und Zugehörigkeit. Man hat das Identifizierung mit dem Aggressor genannt.
In milderer Form kennen sehr viele Menschen diese Herrschaft einer fremden Macht in ihrem Inneren. Beispielsweise waren viele Ältere im zweiten Weltkrieg noch Kinder, aber sie mussten Erwachsenenaufgaben übernehmen: der Mutter ein Trost sein für den Verlust des gefallenen oder gefangenen Ehemannes; den beschädigt heimkehrenden Vater schonen: „bitte nicht angreifen, ich habe Schweres erlebt“. Oder auch den erlittenen sozialen Abstieg nach der Vertreibung durch besondere Leistungsbereitschaft wieder rückgängig machen. In all den, oft unausgesprochenen, Aufträgen wurden die Kinder früh „in Dienst gestellt“. Ihr eigenes seelisches Leben (und oft genug Leiden) fand selten Raum sich auszudrücken. So lernten sie früh, auf die Erwartungen anderer zu achten, tüchtig zu sein und insbesondere das eigene Fühlen und Erleben zurückzustellen und darüber zu schweigen.
Es spricht übrigens einiges dafür, dass diese Herrschaft fremder Aufträge im eigenen Innern über mehrere Generationen weitergegeben worden ist und heute beispielsweise die nächste Generation, also die Kinder der nun alt gewordenen damaligen „Kriegskinder“ beschäftigt.
Dämonen austreiben: das heißt für mich heute, jemanden dabei zu unterstützen, sich von der Macht der inneren tyrannischen Instanz oder von der Macht fremder Aufträge zu befreien und so zum eigenen Leben zu finden.
In einer biographisch orientierten Gesprächsgruppe erzählte eine pensionierte Lehrerin: ihr Vater sei gefallen, als sie 5 Jahre alt war. Die Mutter habe ihr früh schon die Verantwortung für die beiden jüngeren Brüder übertragen, weil sie Geld verdienen musste. Die schnelle Bereitschaft, gleich Verantwortung zu übernehmen, habe ihr Leben geprägt. Heute empfinde sie das zwiespältig. Der Stolz auf die eigene Tüchtigkeit sei eins, aber sie würde doch so gern mal loslassen und zu sich kommen, könne das aber nicht wirklich. Diese Lehrerin konnte die Gruppe dann dazu nutzen, die Wirksamkeit dieser Beauftragung besser zu verstehen und dann neue Verhaltensmöglichkeiten zu erkunden und auszuprobieren. Die entscheidende Hilfe sei für sie aber gewesen, dass sie sich in der Gruppe so angenommen gefühlt habe, wie sie nun einmal sei, ohne irgendeine Zensur.
Du bist schlechthin angenommen – das ist ein anderer Ausdruck für die Botschaft, die die Jünger verkündigen und durch ihr Tun bekräftigen sollen. Dafür bekommen sie Vollmacht – und jede Christin und jeder Christ mit ihnen. Verkündigen, Heilen, Dämonen austreiben – das sind Akte fundamentaler Menschlichkeit. Dazu wird befähigt, wer sich die unbedingte Lebensfreundlichkeit Gottes zu Herzen gehen lässt.
Franz Kafka hat mitten im ersten Weltkrieg notiert: „Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbaren in sich. Wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können.“
Aber es muss nicht verborgen bleiben. Dazu verhelfe uns Gott. Amen
Literatur
Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/2, 4.Aufl. 2007
Robert Brandau, GPM, 102.Jg. 2013/5
Matthias Liberman, Lars Charbonnier, Predigtstudien 2012/2013, 2.Halbband
Gerd Theißen, Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007
Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass, Fischer TB 1996,67
Liebe Gemeinde,
vor einiger Zeit bekam ich Besuch von Zeugen Jehovas. Zwei junge Männer, ordentlich in Schlips und Kragen, stellten sich vor und baten um ein Gespräch mit mir. Ich führte sie in mein Zimmer, und nach einigen Höflichkeiten zu Beginn kamen sie schnell zur Sache. Sie sagten, sie wollten mich zur Entscheidung rufen. Der Kampf Gottes mit dem Satan sei in vollem Gange. Die Kriege auf der Welt, die Gewalt und Zerstörung, die Ausbeutung von Mensch und Natur – dahinter stecke der Satan. Aber Gott werde bald ein Ende machen und Feuer und Schwefel über die Bösen regnen lassen. Er werde sich mit Macht durchsetzen und die Bösen ausrotten. Millionen würden zugrunde gehen – aber ich könne mich jetzt noch für Gottes siegreiche Sache entscheiden.
Ich wurde unterdessen unruhig, Ärger stieg auf. Dann sagte ich sehr scharf: „Wie können Sie und Ihr Gott das Leben von Millionen Menschen so kaltherzig verloren geben!“
Ich hatte das Gefühl, einen unverdaulichen Brocken geschluckt zu haben, den ich unbedingt wieder los werden wollte. Die Atmosphäre war gespannt.
Und dann geschah etwas Merkwürdiges: ich sah hinter den verschlossenen und harten Gesichtszügen der beiden Männer plötzlich die offenen und verletzlichen Gesichtszüge junger Leute aufscheinen. Die beiden gingen mir nahe. Es berührte mich, wie sie sich mit mir abmühten, und so etwas wie väterliches Besorgtsein und väterliches Mitfühlen regten sich in mir.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: ich gewann meine Fassung wieder und konnte die beiden Männer in ihrer Person anerkennen, ohne ihr Anliegen teilen zu müssen. Entsprechend entspannt konnten wir uns dann trennen.
Auch in unserem Text geht es um das Sehen und Zu-Herzen-Gehen als zentralem Element in der Verkündigung und im Tun Jesu. „Als er das Volk sah, bekam er Erbarmen mit ihnen...“ Luther übersetzt: „jammerte ihn desselben.“ Mit dem Sehen sind starke, bis ins Leibliche gehende Gefühle verbunden.
Der Wortstamm des an dieser Stelle gebrauchten griechischen Wortes für Erbarmen enthält die Bedeutung: sich etwas an die Eingeweide gehen lassen, ans Herz gehen lassen. Gemeint ist also nicht der kühle Blick des Diagnostikers, der eine Notlage feststellt, auch nicht der gleichgültige Blick des Besitzbürgers, der daran vorbeigeht. Vielleicht kann man sagen: es geht um ein mitfühlendes, mitleidendes, eben barmherziges Sehen.
Aus diesem Erbarmen heraus wendet sich Jesus an die Jünger: sie werden als Arbeiter bei der Ernte dringend gebraucht, sie sollen sich wie Jesus bewegen lassen vom Erbarmen und die Not des Volkes heilen. So geht das Erbarmen Jesu weiter im Erbarmen der Jünger und im Erbarmen der Gemeinde. Die Wirksamkeit Jesu wird in die Kirche hinein verlängert, so die Intention unseres Textes (Ulrich Luz).
Deshalb bekommen die Jünger, sozusagen als Stellvertreter der Gemeinde, die gleiche Vollmacht zu verkündigen und zu heilen, wie sie Jesus ausübt: „...und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, um sie auszutreiben und um jede Krankheit und jede Schwäche zu heilen.“ Und am Ende: „...geht aber und verkündet: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ In ihnen setzt sich Jesu Verkündigen und Heilen fort. Beides hat gleiches Gewicht.
Für unsere protestantisch ausgebildeten Ohren klingt diese Beauftragung doch recht fremd. Nicht als Hörer der Botschaft von Kreuz und Auferstehung Jesu sind wir hier angesprochen, sondern als Täter, die die Not anderer heilen in Wort und Tat – freilich in der Gewissheit, dass wir darin teilhaben am Wirken Jesu. So ist es auch uns am Ende des Matthäusevangeliums zugesagt: „Ich bin bei Euch alle Tage, bis an der Welt Ende.“
Teilhaben am Wirken Jesu, das ist Teilhaben an seiner Macht. Was ist das?
Unmittelbar vor unserem Text stehen verschiedene Heilungsgeschichten. Es fällt auf, dass in ihnen mehrfach vom Glauben die Rede ist: „Dein Glaube hat dir geholfen“. Der Glaube, nicht die Wundermacht des Wunderheilers! Wahrscheinlich sind viele Menschen zu Jesus mit der Erwartung gekommen, dass er sie irgendwie als Wunderheiler mit einer Wundermacht heilt. Aber Jesus verweist auf eine Kraft in den Kranken selbst. Der Glaube bewirkt das Wunder der Heilung (Gerd Theißen). „Dein Glaube hat dich gesund gemacht“, sagt er zu der an Blutungen leidenden Frau. Auch die zwei Blinden hat ihr aktiver Glaube gerettet. Unbeiirbar und für andere wahrscheinlich in störender Weise folgen sie Jesus, schreiend auf sich aufmerksam machend: „Erbarme dich unser“. Und wieder lässt er sich ihre Not nahe gehen und sieht diese Kraft in ihnen: „Euch geschehe nach Eurem Glauben“.
Kann man sagen, dass hier eine durch viele Lebenskrisen hindurch tragende Zuversicht gesehen und gewürdigt wird, die für jeden Menschen fundamental ist? Der amerikanische Psychoanalytiker Erik H. Erikson spricht in diesem Zusammenhang vom Urvertrauen als einem Gefühl unzerstörbarer Verbundenheit mit einer guten Macht und zugleich dem Gefühl eines individuellen Herausgehobenseins. In diesem Sinne ist Glaube das Gefühl der Verbundenheit mit der unzerstörbaren Macht Gottes und damit zugleich das Gefühl persönlicher Würde. Vielleicht kommt es daher, dass in den Wundergeschichten gerade Menschen geheilt werden, die sich nicht abwimmeln, abdrängen lassen, sondern auf diese Macht Gottes setzen?
Was ist dann Heilung? Nicht in erster Linie ein Etwas am Menschen, z.B. Heilung eines Organs.
Geheilt wird vor allem eine unbändige, ja überbordende Lebenszuversicht und Lebenskraft eines Menschen. „Alles ist möglich dem, der glaubt“ (Mk.9,23), der Glaube kann „Berge versetzen“ (Mt 17, 20).
Und die Macht Jesu? Und unsere Macht als seine Beauftragten?
Im griechischen Wort Vollmacht (exusia) stecken zwei Bedeutungen: Beauftragung, Handeln im Auftrag – und die Fähigkeit zum Handeln, das Vermögen. Die Macht zu heilen kommt also von Gott. Er handelt in der heilenden Macht Jesu und auch in unserer. Und deshalb: heilende Macht kann sich nicht in einem Gefälle von oben nach unten ausdrücken, weil sie Dienst ist an der Lebenskraft Gottes, die in jedem Menschen wahrgenommen und freigesetzt werden soll.
Vollmacht zu heilen: das kann heißen, das Leiden anderer Menschen sich zu Herzen nehmen - gegen den Sog der Gleichgültigkeit. Das kann auch heißen, bei anderen Menschen eine Stärke wahrzunehmen – gegen den Sog der Wahrnehmungsverengung.
Also: gewohnte und eingespielte Fühl- und Sichtweisen durchbrechen.
Kürzlich war eine Ausstellung mit Fotos aus einem Kölner Vorort zu sehen. Zunächst imponierten auf den Bildern die tristen grauen Kolosse der Hochhäuser. Bei genauerem Hinsehen fiel das Auge des Betrachters auf Kinder, die sich in den seltsamsten Kostümierungen fotografiert hatten – beim Tanzen, beim Theaterspielen, beim Grimassenschneiden. So wurden die Bilder lebendig durch den Kontrast zwischen Erstarrung und Bewegung, zwischen Farblosigkeit und Buntheit. Auf diesen Bildern waren die Kinder mehr als bloße Opfer verfehlter Wohnungspolitik. In diesen Bildern war etwas vom Eigen-Sinn, von der Würde ganz eigenen, persönlichen Lebens spürbar. Das hatten die Kinder entdeckt, ins Bild gesetzt und öffentlich gemacht. Auch eine Heilungsgeschichte.
„...und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, sie auszutreiben“.
Bisher haben wir Heilungsgeschichten, damals und heute, auf uns wirken lassen. Was aber hat es mit der Austreibung unreiner Geister auf sich?
Kurz vor unserer Textstelle berichtet Matthäus, wie ein Mensch zu Jesus gebracht wird, der von einem Dämon besessen ist und deshalb stumm ist. Jesus treibt den Dämon aus, so dass der Stumme wieder sprechen kann. Von solchen wunderhaften Exorzismen wird öfter in den Evangelien berichtet, später auch, in der Apostelgeschichte, von Exorzismen durch den Apostel Paulus.
Der Exorzismus ist ein Kampfgeschehen. Ein böser Geist, ein Dämon, hat von einem Menschen Besitz ergriffen. Dieser Dämon wird durch eine Gegenmacht ausgetrieben.
Exorzismen setzen den Glauben an Geister und Dämonen voraus – und dieser Glaube ist den meisten unter uns abhanden gekommen. Aber die Kernerfahrung ist geblieben: die schlimme Erfahrung, von einer bösen fremden Macht im eigenen Innern beherrscht zu sein. Sie kommt häufig vor bei Opfern von schweren seelischen Traumatisierungen. So haben Opfer von sexueller Gewalt ihr Leben lang zu kämpfen mit quälenden Schuld- und Schamgefühlen, beispielsweise mit Selbstvorwürfen (warum habe ich mich nicht gewehrt?) oder dem Gefühl, einen Makel mit sich zu schleppen (ich bin schmutzig, ich kann mich deshalb nicht zeigen). Diese Gefühle sind ganz irrational, Schuld und Scham sollten den Täter umtreiben. Aber sie sind im Opfer und sind dort zu einer tyrannischen Instanz geworden. Warum? Wahrscheinlich geht es hier um eine seelische Notfallreaktion: Um nicht ganz in der unerträglichen Ohnmacht und Hilflosigkeit stecken zu bleiben, klammert sich das Opfer sozusagen an den Täter und erhält dafür ein wenigstens rudimentäres Gefühl der Verbundenheit und Zugehörigkeit. Man hat das Identifizierung mit dem Aggressor genannt.
In milderer Form kennen sehr viele Menschen diese Herrschaft einer fremden Macht in ihrem Inneren. Beispielsweise waren viele Ältere im zweiten Weltkrieg noch Kinder, aber sie mussten Erwachsenenaufgaben übernehmen: der Mutter ein Trost sein für den Verlust des gefallenen oder gefangenen Ehemannes; den beschädigt heimkehrenden Vater schonen: „bitte nicht angreifen, ich habe Schweres erlebt“. Oder auch den erlittenen sozialen Abstieg nach der Vertreibung durch besondere Leistungsbereitschaft wieder rückgängig machen. In all den, oft unausgesprochenen, Aufträgen wurden die Kinder früh „in Dienst gestellt“. Ihr eigenes seelisches Leben (und oft genug Leiden) fand selten Raum sich auszudrücken. So lernten sie früh, auf die Erwartungen anderer zu achten, tüchtig zu sein und insbesondere das eigene Fühlen und Erleben zurückzustellen und darüber zu schweigen.
Es spricht übrigens einiges dafür, dass diese Herrschaft fremder Aufträge im eigenen Innern über mehrere Generationen weitergegeben worden ist und heute beispielsweise die nächste Generation, also die Kinder der nun alt gewordenen damaligen „Kriegskinder“ beschäftigt.
Dämonen austreiben: das heißt für mich heute, jemanden dabei zu unterstützen, sich von der Macht der inneren tyrannischen Instanz oder von der Macht fremder Aufträge zu befreien und so zum eigenen Leben zu finden.
In einer biographisch orientierten Gesprächsgruppe erzählte eine pensionierte Lehrerin: ihr Vater sei gefallen, als sie 5 Jahre alt war. Die Mutter habe ihr früh schon die Verantwortung für die beiden jüngeren Brüder übertragen, weil sie Geld verdienen musste. Die schnelle Bereitschaft, gleich Verantwortung zu übernehmen, habe ihr Leben geprägt. Heute empfinde sie das zwiespältig. Der Stolz auf die eigene Tüchtigkeit sei eins, aber sie würde doch so gern mal loslassen und zu sich kommen, könne das aber nicht wirklich. Diese Lehrerin konnte die Gruppe dann dazu nutzen, die Wirksamkeit dieser Beauftragung besser zu verstehen und dann neue Verhaltensmöglichkeiten zu erkunden und auszuprobieren. Die entscheidende Hilfe sei für sie aber gewesen, dass sie sich in der Gruppe so angenommen gefühlt habe, wie sie nun einmal sei, ohne irgendeine Zensur.
Du bist schlechthin angenommen – das ist ein anderer Ausdruck für die Botschaft, die die Jünger verkündigen und durch ihr Tun bekräftigen sollen. Dafür bekommen sie Vollmacht – und jede Christin und jeder Christ mit ihnen. Verkündigen, Heilen, Dämonen austreiben – das sind Akte fundamentaler Menschlichkeit. Dazu wird befähigt, wer sich die unbedingte Lebensfreundlichkeit Gottes zu Herzen gehen lässt.
Franz Kafka hat mitten im ersten Weltkrieg notiert: „Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbaren in sich. Wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können.“
Aber es muss nicht verborgen bleiben. Dazu verhelfe uns Gott. Amen
Literatur
Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/2, 4.Aufl. 2007
Robert Brandau, GPM, 102.Jg. 2013/5
Matthias Liberman, Lars Charbonnier, Predigtstudien 2012/2013, 2.Halbband
Gerd Theißen, Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007
Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass, Fischer TB 1996,67
Perikope