Magnificat
Liebe Gemeinde,
heute ist das Magnificat, der Lobgesang der Maria, der Predigttext. Das Magnificat gehört zu den am häufigsten gesungenen und gebetenen Psalmen der Kirche, sowohl in der römisch-katholischen als auch in der evangelischen Kirche.
Ich lese Lukas 1, 46-56:
Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes;
denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich seligpreisen alle Kindeskinder.
Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist.
Und seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht bei denen, die ihn fürchten.
Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.
Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf,
wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit.
Und Maria blieb bei ihr etwa drei Monate; danach kehrt sie wieder heim.
Drei Gedanken will ich zu unserem Text entfalten.
1. Weihnachten ist eine Frauengeschichte. Maria steht dabei zweifellos im Mittelpunkt. In der lukanischen Erzählung kündigt ihr der Engel Gabriel an, dass sie ein Kind gebären wird, das die Welt fundamental verändern wird. Maria soll den großen Friedenskönig zur Welt bringen, dessen Reich kein Ende haben wird. Wundersamerweise soll die Zeugung auch noch ohne männliche Beteiligung geschehen. Schon hier zeigt sich der extravagante Erzählstil des Lukas: Er betont im Kontext der ganzen Weihnachtserzählung, wie außergewöhnlich das ist, was hier geschieht. Auch Maria findet die Botschaft Gabriels verwunderlich und traut sich an einer Stelle, eine kritische Rückfrage zu stellen – wie soll das geschehen? –, aber am Ende glaubt sie ihm und lässt sich auf die ungewöhnliche Botschaft ein.
Gleich nachdem der Engel verschwunden ist, macht sich Maria auf den Weg, um ihre Verwandte Elisabeth zu besuchen. Der Engel Gabriel hat ihr zuvor schon berichtet, dass Elisabeth trotz ihres hohen Alters noch schwanger geworden ist. Wenn man sich den Weg, den Maria zu Elisabeth zurücklegen muss, auf der Karte ansieht, dann wird schnell klar, dass auch dieser Erzählzug unrealistische Züge trägt. Der Weg von Nazareth zu einem Ort im judäischen Bergland ist zu Fuß für eine junge Frau eigentlich nicht machbar und überdies sehr gefährlich. Lukas will uns vor Augen malen: Die Verkündigung außergewöhnlicher Ereignisse erfordert außergewöhnliches Tun. Nichts bleibt mehr wie es war. Und die beiden Frauen, Elisabeth und Maria, haben diese Botschaft verstanden. Sie lassen sich auf das Außergewöhnliche ein, anders als ihre Männer, die wie Joseph am Rand stehen und später ganz von der Bildfläche verschwinden oder wie Zacharias, der der himmlischen Botschaft erst mal nicht glauben konnte und ein Jahr lang verstummte.
Weihnachten ist eine Frauengeschichte. Sie handelt von Elisabeth und Maria, den beiden Protagonistinnen des Advent. Sie handelt von streitbaren werdenden Müttern. Beide bereiten sich auf die Geburt ihrer Söhne vor. Beide schreiben sich ihre ungewöhnlichen Schwangerschaften nicht selbst zu, sondern brechen in Jubel aus über Gottes Handeln. Sie sind nicht stumm, sondern loben Gott von ganzem Herzen. Elisabeth, von Gottes Geist erfüllt, bezeichnet Maria als „am meisten gesegnet unter den Frauen“ und segnet zugleich das kommende Kind Marias. Und Maria bricht aus in den Lobgesang, den wir im Magnificat vor uns liegen haben.
Man muss ja nicht gleich in eine katholische Marienfrömmigkeit abgleiten oder Maria als Gottesgebärerin verehren wie die Ostkirche, aber das Magnificat erinnert uns Protestanten doch daran, Maria nicht zu unterschätzen. Ohne Maria keine Geburt Jesu. Maria bewegt die Botschaft der Engel und Hirten in ihrem Herzen. Sie durchlebt mit ihrem Sohn schlimmste Gefährdungen, angefangen von der erbärmlichen Geburt im Stall in Bethlehem bis hin zur Flucht vor dem Kinder mordenden Herodes nach Ägypten. Sie hält es aus, dass sich Jesus schon als 12-jähriger im Tempel von seinen Eltern distanziert. Sie erträgt seine Schroffheit, als sie ihn aufsuchen will und Jesus – statt zu ihr zu gehen – die Menge um sich herum provokant fragt: „Wer ist meine Mutter?“ (Markus 3,33) Sie steht am Ende voller Schmerz und Trauer unter seinem Kreuz. Und sie gehört nach dem Bericht der Apostelgeschichte (1,14) zur ersten Gemeinde in Jerusalem.
Die Weihnachtsgeschichte ist immer auch eine Mutter-Kind- oder Eltern-Kind-Geschichte. In Schleiermachers Weihnachtsfeier erzählt Ernestine, eine der Protagonistinnen, von einem frustrierenden Besuch einer Christmette in der Heiligen Nacht. Weder die Stimmung, noch die Musik, noch die Worte des Geistlichen vermögen sie in irgendeiner Weise anzusprechen. Sie will schon enttäuscht die Kirche verlassen, als ihr Blick auf eine junge Mutter mit einem kleinen Kind auf dem Schoß fällt. Die Mutter wendet ihre ganze Aufmerksamkeit dem Kind zu. Das Kind wiederum weiß sich innigst bei seiner Mutter geborgen. Von beiden geht eine freundliche Ruhe und liebende Andacht aus, wie Ernestine sagt. In diesem Bild erschließt sich für Ernestine Weihnachten. Das Göttliche und das Kindliche kommen an Weihnachten zusammen. Mit dem Bild von Maria und Jesus vor Augen geht Ernestine tief bewegt nach Hause. Weihnachten ist eine Frauengeschichte.
2. Weihnachten heißt singen. Das Magnificat, das Lukas Maria in den Mund legt, ist ein Psalmlied. Es erinnert an den Lobgesang der Hanna, die mit ganz ähnlichen Worten Gott für die Geburt ihres Sohnes Samuel dankt. Wie Hanna besingt Maria Gott als einen Gott der Hilfe, als rettenden Gott, als Heiland. Sie besingt die großen Taten Gottes und seine ewige Barmherzigkeit. Indem Maria von der Vergangenheit singt und sich als Teil einer großen Tradition begreift, besingt sie zugleich die Zukunft: Die ungerechten Verhältnisse werden die Zeit nicht überdauern, Gott wird eine neue Wirklichkeit heraufführen, er wird Gerechtigkeit und Frieden schaffen.
Solche Visionen können nur glaubend besungen werden. „Maria singt sich hinein in die weihnachtliche Freude über ihr Kind. Sie singt sich hinein in die jahrhundertealten Hoffnungen und Sehnsüchte ihres Volkes. Sie singt sich hinein in die alten Lieder werdender Mütter, mit denen Frauen in Israel die Geburt ihres ersten Kindes besangen.“ (Marion Lange) Deshalb ist Weihnachten ganz eng mit dem Singen verknüpft. Im Singen bekennen wir unseren Glauben. Im Singen können wir mehr von Gott und von uns sagen, als uns das in den Worten des Alltags möglich ist. Wir selbst sind oft nur zu einem halben Glauben in der Lage und brauchen die geliehenen Worte der Tradition, um Halt zu finden, um uns zu einem Lob Gottes durchzuringen und nicht einfach bei uns selbst stehen zu bleiben.
Darum lasst uns singen, ganz besonders jetzt in diesen Advents- und Weihnachtstagen. Im Singen tauchen wir ein in eine große Tradition und verbinden uns mit ihr – wie Maria. Im Singen werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpft. Im Singen loben wir Gott und lassen unsere Zweifel, unsere Angst, unsere Müdigkeit hinter uns. Im Singen sehen wir, wie Gott uns ansieht, wie er uns aufrichtet. Im Singen wird der Glaube an das Reich Gottes gestärkt und öffnen wir uns für die bezwingende Botschaft des Kindes in der Krippe.
3. Weihnachten ist das Fest der Versöhnung und der Barmherzigkeit.
Bei aller Mutter-Kind-Lyrik ist Weihnachten nicht mit Kitsch zu verwechseln, auch wenn der eine oder die andere es genießt, dass in dieser Jahreszeit der Kitsch ausnahmsweise mal erlaubt ist, sogar im Bildungsbürgertum, wenigstens in dosiertem Maß. Doch das Magnificat hat nichts Süßliches und nichts Niedliches. Es ist ganz und gar politisch und auf Versöhnung und Gerechtigkeit hin ausgerichtet. Eine Erzählung von Fritz Vincken führt uns vor Augen, was das Mutter-Kind-Motiv mit diesem politischen Aspekt des Magnificat zu tun haben könnte. Ich habe die Erzählung dem „Anderen Advent“ entnommen und gebe sie hier gekürzt wieder:
Fritz Vincken erzählt von einem ganz besonderen Weihnachtsabend während des Krieges im Jahre 1944. Er ist 12 Jahre alt und lebt mit seiner Mutter in einem kleinen Häuschen an der deutsch-belgischen Grenze. Ringsum tobt die Ardennenschlacht. Da klopft es an der Tür. Draußen stehen zwei Männer mit Stahlhelmen. Der eine redet die Mutter in einer Sprache an, die diese nicht versteht und zeigt auf einen dritten, der verletzt im Schnee liegt. Es sind Amerikaner, Feinde. Die Männer sind bewaffnet und könnten sich den Einlass erzwingen, doch das tun sie nicht. Schließlich bittet die Mutter sie herein. Die Soldaten tragen ihren Kameraden ins Haus. Keiner spricht deutsch. Bevor sich die Mutter des Verwundeten annimmt, sagt sie zu ihrem Sohn: „Bring einen Eimer Schnee herein.“ Kurz darauf reibt der Junge die blaugefrorenen Füße mit Schnee ab. Die jungen Soldaten haben ihre Einheit verloren und irren seit Tagen umher. Die Mutter befiehlt ihrem Sohn: „Geh, hol ein Huhn und bring Kartoffeln mit.“ Während Fritz zusammen mit einem der Soldaten in der Küche hilft, kümmert sich der andere mit der Mutter um den Verletzten. Die Mutter reißt ein Laken in Streifen, um die Wunden zu verbinden. Bald zieht der verlockende Duft von Gebratenem durch das Zimmer.
Da klopft es wieder. Fritz öffnet in der Erwartung, weitere Amerikaner vor sich zu sehen – aber draußen stehen vier deutsche Soldaten! Er ist vor Schreck gelähmt. Wer feindliche Soldaten beherbergt, begeht Landesverrat, das weiß er. Sie könnten alle erschossen werden. Die Mutter hat auch Angst. Doch sie tritt entschlossen hinaus und sagt zu den Soldaten: „Fröhliche Weihnachten!“ Die Soldaten wünschen ihr auch eine frohe Weihnacht und erklären, dass sie ihre Einheit verloren haben und bis Tagesanbruch gern bleiben würden. Die Mutter antwortet mit der Ruhe der Verzweiflung: „Natürlich, Sie können auch eine gute, warme Mahlzeit haben. Aber wir haben noch drei Gäste, die Sie vielleicht nicht als Freunde ansehen werden.“ Ihre Stimme war mit einem Mal so streng, wie ihr Sohn Fritz sie noch nie gehört hatte. „Heute ist Heiliger Abend, und hier wird nicht geschossen.“ „Wer ist drin?“ fragt der Unteroffizier barsch, „Amerikaner?“ Da sagt die Mutter: „Ihr könntet meine Söhne sein und die da drinnen auch. Einer von ihnen ist verwundet und ringt um sein Leben. In dieser Heiligen Nacht denken wir nicht ans Töten!“ Der Unteroffizier starrt sie an. „Genug geredet!“ sagt die Mutter und klatscht in die Hände. „Legen Sie Ihre Waffen weg und kommen Sie rein – sonst essen die anderen alles auf.“ Die Soldaten legen wie benommen ihre Waffen auf eine Kiste im Gang. Auch die Amerikaner geben der Mutter die Waffen. Verlegen stehen sich Deutsche und Amerikaner gegenüber. Die Mutter findet für jeden einen Sitzplatz und kocht noch mehr Essen.
Schließlich sieht sich einer der Deutschen, ein Medizinstudent, die Wunde des Amerikaners an. Er spricht fließend englisch und kümmert sich um ihn. Der Druck beginnt zu weichen. Vor dem Essen spricht die Mutter das Tischgebet. Sie hat Tränen in den Augen, als sie die vertrauten Worte spricht: „Komm Herr Jesus, sei du unser Gast...“ Fritz sieht, dass auch die Augen der kriegsmüden jungen Soldaten feucht sind. Für jeden ist in diesem Augenblick der Krieg sehr fern.
Am nächsten Morgen zeigt der deutsche Unteroffizier den Amerikanern, wie sie zu ihrer Truppe zurückfinden können. Ein Amerikaner fragt: „Warum nicht nach Monschau?“ „Um Himmels willen, nein!“ ruft der Unteroffizier. „Monschau haben wir wieder eingenommen.“ Schließlich gibt die Mutter allen ihre Waffen zurück. „Seid vorsichtig, Jungs. Ich wünsche mir, dass ihr eines Tages dahin zurückgeht, wo ihr hingehört, nach Hause. Gott beschütze euch alle!“ Die Deutschen und die Amerikaner geben einander die Hand. Fritz und seine Mutter sehen ihnen nach, bis sie in entgegengesetzter Richtung verschwunden sind. (Der andere Advent, 23.12.14)
Weihnachten ist eine Frauengeschichte. Die Mutter betrachtet die Soldaten wie ihre eigenen Kinder und stellt die Regeln des Krieges auf den Kopf. Sie erweist den amerikanischen wie den deutschen Soldaten Barmherzigkeit und hilft ihnen, unter den Gräueln des Krieges ihre menschlichen Seiten wieder zu entdecken. Zum Abschied gibt sie ihnen ihren Segen mit auf den Weg. Einen der GIs traf Fritz Vincken 1996 wieder, er sagte ihm: „Ihre Mutter rettete mein Leben.“
Weihnachten ist ein Fest der Versöhnung und der Barmherzigkeit. Maria, Elisabeth und die Mutter aus der Erzählung – alle drei sind sehr mutige Frauen. Sie wagen das Außergewöhnliche. Sie tragen auf je ihre Weise zum Heil der Welt bei. Sie klinken sich ein in die Tradition des Magnificat. Sie bezeugen, besingen und leben die große Barmherzigkeit Gottes. Amen.