Man muss wissen, wo sein Platz ist – Predigt zu Lukas 16,1-9 von Barbara Eberhardt
16,1-9

Er saß an seinem Schreibtisch und sah auf die Linde vor dem Fenster. Als er vor über dreißig Jahren in der Firma begonnen hatte, war sie gerade gepflanzt worden. Nie hatte er jemanden gesehen, der sie goss. Trotzdem war sie jetzt ein stattlicher Baum mit vielen Zweigen. Sie gehörte hierher. Man muss wissen, wo sein Platz ist. Das hatte schon sein Vater immer gesagt. Und sein Platz war hier. In dieser Firma. Im Büro mit Blick auf die Linde. Zum Einkaufsleiter hatte er es gebracht. Und er liebte diesen Job. Reisen, Preise aushandeln, Geschäfte abschließen. Da ging er drin auf. Von allen Lieferanten kannte er die Vertriebsleute. Manche von ihnen waren ihm vertraut wie die Linde vor seinem Fenster. Sie waren zusammen an Besprechungstischen gesessen, vor ihnen die obligatorischen Mineralwasserfläschchen zu 0,2 Liter und den ebenso obligatorischen Kaffee. Sie hatten einander Kopien gereicht und Flipcharts vollgeschrieben. Sie waren gemeinsam Schweinebraten und Sushi essen. Und danach hatten sich immer ein paar gefunden, um einen Whisky in der Hotelbar zu trinken. Oder zwei. Manchmal wäre er am liebsten dort geblieben. Aber die Gemeinschaft löste sich am Frühstücksbuffet auf. Und er fuhr schicksalsergeben nach Hause. Man muss wissen, wo sein Platz ist.

Dann kam die Adventszeit, und sie schickten ihm Kisten mit Wein und Kugelschreiber mit Gravur und eingebauter LED-Leuchte. Manchmal dachte er, dass sie ihm die Familie ersetzten, die er nie hatte. Er wusste, dass manche der Zulieferfirmen in Schwierigkeiten steckten. Die Wirtschaftskrise, der ständig wachsende Wust an EU-Normen, deren Einhaltung oder Umgehung viel Kraft kostete. Er kam ihnen entgegen, soweit er konnte. Hielt an ihnen fest, auch wenn andere Lieferanten billiger gewesen wären. Überwies den Kaufpreis bereits nach der ersten Teillieferung. Verschönte die Bilanzen. Ein wenig. Dann etwas mehr. Es würde nicht auffallen.

Ein Stockwerk höher stand der Firmenchef in seinem Büro und sah aus dem Fenster. Da stand eine Linde. Den Baum hatte er noch nie bemerkt. Er hatte schon hundert Mal aus dem Fenster gesehen. Immer in Gedanken und am Planen, wie er diesen Betrieb wieder fit bekommen sollte. Der Absatz war im letzten Jahr schleppend gewesen. Man schrieb rote Zahlen. Dann hatte vor zwei Monaten er die Niederlassung übernommen. Mit dem klaren Auftrag, die Firma zu einem zeitgemäßen Unternehmen umzubauen. Er hatte von Anfang an gewusst: Das war der richtige Platz für ihn.
Er hatte von allen Abteilungen Jahresberichte angefordert. Heute Morgen lagen sie auf seinem Schreibtisch. Die Marketingabteilung machte gute Arbeit. Der Vertrieb ging so lala. Aber der Einkauf schien nicht zu funktionieren. Er vertiefte sich in die Zahlen. Rechnete nach und kam zu anderen Ergebnissen. Verglich Preise. Da stimmte etwas ganz und gar nicht. Er ließ den Einkaufsleiter kommen.

Jesus sprach zu den Jüngern: Es war ein reicher Mann, der hatte einen Verwalter; der wurde bei ihm beschuldigt, er verschleudere ihm seinen Besitz. Und er ließ ihn rufen und sprach zu ihm: Was höre ich da von dir? Gib Rechenschaft über deine Verwaltung; denn du kannst hinfort nicht Verwalter sein. Da sprach der Verwalter bei sich selbst: Was soll ich tun? Mein Herr nimmt mir das Amt; graben kann ich nicht, auch schäme ich mich zu betteln.

Er zitterte am ganzen Körper. Der junge Schnösel, gerade mal zwei Monate hier in der Firma, hatte ihn einfach abserviert. Dass die Zahlen in seinem Bericht falsch seien. Und auf dieser Basis sei keine gedeihliche Zusammenarbeit mehr möglich. Er solle bis morgen die Zahlen in dem Bericht korrigieren. Und sich dann aus dem Staub machen.

Er öffnete das Fenster und steckte sich eine Zigarette an. Durfte man eigentlich nicht. Nichtraucherschutz. Brandschutz. Völlig egal jetzt. Was sollte er tun? Das hier war sein Platz. Er hatte sonst nichts anderes.
Die Linde wiegte sich im Wind. Sie würde noch viele Jahre hier stehen. Er nicht. Er betrachtete den Baum. Die Äste, die aus einem Stamm wuchsen. Dann hatte er eine Idee. Er setzte sich ans Telefon und rief einen Lieferanten an. Eine freundliche Stimme. Erinnerungen an das letzte Treffen. Was haben wir gelacht an dem Abend. Habt Ihr immer noch Produktionsschwierigkeiten? Es reicht, wenn Du die Hälfte der vereinbarten Lieferung schickst. Klar. Haben wir je etwas anderes vereinbart? Du bist ein Pfundskerl. Wir müssen uns unbedingt mal wieder sehen. Versprochen.   
Den ganzen Nachmittag saß er am Telefon. Dann setzte er sich an seinen Computer und löschte Dateien. Gut, dass er noch nicht am zentralen Netzwerk angeschlossen war! Eine Stunde lang dauerte es, bis die Akten der letzten Jahre im Reißwolf verschwunden waren. 

Der Verwalter sprach: Ich weiß, was ich tun will, damit sie mich in ihre Häuser aufnehmen, wenn ich von dem Amt abgesetzt werde. Und er rief zu sich die Schuldner seines Herrn, einen jeden für sich, und sprach zu dem ersten: Wie viel bist du meinem Herrn schuldig? Der sprach: Hundert Fass Öl. Und er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein, setz dich hin und schreib flugs fünfzig. Danach sprach er zu dem zweiten: Du aber, wie viel bist du schuldig? Der sprach: Hundert Sack Weizen. Er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein und schreib achtzig.

Es war Abend geworden. Er nahm seine Aktentasche. An der Pforte gab er seine Schlüssel ab. Auch den für den Firmenwagen. Er ging zu Fuß nach Hause. Fast zehn Kilometer. An der Bundesstraße entlang, durch das Arbeiterviertel und den Stadtpark. Man muss wissen, wo sein Platz ist. Über all die Jahre hatte er gedacht, er wüsste dass sein Platz in der Firma war. Aber es stimmte nicht. Die Firma hatte er betrogen. Schon lange. Und heute. Weil ihm nichts an dem Unternehmen lag, für das er gearbeitet hatte. Er dachte an den Vertriebler mit den schwitzigen Händen, der ihn heute vor lauter Freude in sein Ferienhaus in der Provence eingeladen hatte. Und an den Betriebswirt, den es im Moment fürchterlich beutelte, weil er in Scheidung lebte. Sie waren ihm wichtig. Sie mit ihren Fassaden, die sie sich mühten aufrechtzuerhalten, und mit all dem, was dahintersteckte an Scheitern und Sehnsucht und Stolz.
Und plötzlich wusste er, wo sein Platz war, schon immer gewesen war. Bei den Menschen.

 

Und der Herr lobte den ungerechten Verwalter, weil er klug gehandelt hatte. Denn die Kinder dieser Welt sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts. Und ich sage euch: Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit, wenn er zu Ende geht, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten.

Perikope
19.11.2017
16,1-9