Liebe Gemeinde!
Es ist eigenartig. Immer wieder taucht in Seelsorgegesprächen die Frage auf: „Warum hat Gott das zugelassen?“ Wir brauchen einen, den wir für das Leid verantwortlich machen können, das uns zugestoßen ist. Manche Dinge passieren einfach, wir können sie nicht verhindern. Um beim Totensonntag zu bleiben, den wir heute begehen: Menschen sterben und oft genug sind die Zurückbleibenden einfach fassungslos. Der oder die Verstorbene kann doch nicht einfach weg sein. Bei einem Unfall beispielsweise können wir die Verantwortlichen benennen. Das macht es scheinbar einfacher. Wir können den Schuldigen hassen oder ihm wenigstens alle Verantwortung in die Schuhe schieben. Oft ist die Schuld nicht so eindeutig. Hat vielleicht auch das ausschweifende Leben, das er führte, dazu beigetragen, dass er mit vierzig Jahren starb? Aber letztendlich möchten wir einen haben, der nicht nur einen Teil der Verantwortung trägt, sondern dem wir die ganze Verantwortung zuschieben können. Und da kommt Gott ins Spiel. Bist du nicht allmächtig, Gott? Warum hast du das dann nicht verhindert?
So fragen wir. Wir brauchen eine Erklärung, damit uns die Welt nicht auseinanderfällt. So argumentieren auch die, die nicht an Gottes Allmacht glauben. Denen er längst fraglich geworden ist. Es ist eine eher neuzeitliche Frage. Anders als wir wussten die Menschen zu Zeiten des Alten Testaments durch ihre Propheten, wer verantwortlich ist. Wenn ihr Land durch andere Mächte erobert und zerstört worden war, wenn sie selbst als Kriegsgefangene im fremden Land leben mussten, dann wussten sie: Es war nicht die Macht der Feinde, die sie besiegt hatte, vielmehr war es Gott, der den Feinden Macht über sie gegeben hatte. Aber war Gott der Letztverantwortliche für ihr Unglück? An der Stelle haben sie wahrscheinlich anders geantwortet, als wir heutigen Menschen das tun würden. Sie würden wahrscheinlich antworten: Gott hatte uns gewarnt. Wir sollten nicht mehr die falschen Götter anbeten. Wir sollten uns um unsere Mitmenschen kümmern. Wir sollten Barmherzigkeit üben. So haben die Propheten gepredigt. Aber wir haben nicht auf sie gehört. All das, was sie von uns forderten, haben wir nicht getan. Also hat Gott die Strafe über uns kommen lassen, die er angekündigt hatte. Die Babylonier eroberten unser Land. Sie zerstörten den Tempel, raubten unsere heiligen Schriftrollen und die heiligen Geräte und führten uns weg in ihr fremdes Land. Immerhin konnten wir dort leben. Wir konnten sogar unsere eigene Sprache sprechen. Aber heimisch wurden wir nicht. Unsere Sehnsucht galt einem fernen Land, das die Jüngeren nie gesehen hatten.
Aber Sie selbst waren doch noch Kinder, als es geschah, wende ich ein. Viele waren noch nicht einmal geboren. Was konnten Sie dafür, was die Generationen vor Ihnen getan hatten? Dafür waren doch nicht Sie verantwortlich? Die Gefragten zucken die Achseln. Es gibt eine Solidarität der Generationen, antworten sie. Aus der kommen wir nicht heraus.
Aber da höre ich einen anderen widersprechen: „Was können wir dafür, was unsere Väter und Großväter getan haben? Dafür sind wir doch nicht verantwortlich. Dennoch müssen wir die Suppe auslöffeln. Das ist doch nicht gerecht. So kann Gott doch nicht handeln, dass er die Sünden der Eltern an den Kindern bestraft.
Manchmal müssen andere die Suppe auslöffeln, aber die Gerechtigkeit Gottes darf nicht in Frage stehen. Das ist nicht leicht zu begreifen. So kann es passieren, dass Wahrheiten, die anderen das Leben gedeutet haben, der nächsten Generation nichts mehr nützen. Dann muss man sie wegwerfen und etwas Neues suchen. Gewiss ist das nicht so leicht. Menschen sind nun einmal Gewohnheitstiere. So leicht trennen sie sich nicht von alten Gewohnheiten oder Deutungen, mit denen sie einmal gelebt haben. Da ist immer die Angst, dass das Leben jeden Sinn verliert, wenn man die alten Deutungen in den Müll wirft. Aber jeder braucht eine Geschichte, in die er das, was ihm passiert ist, einordnen kann. Anders ist es kaum zu ertragen. Wenn sich von jetzt auf gleich alles ändern kann, wenn sich plötzlich ein Riss in der Erde auftun und einen verschlingen kann, dann muss man irgendwie damit umgehen.
Natürlich könnte man immer noch sagen: Es gibt keine höhere Macht, die unser Leben bestimmt. Es ist doch sowieso alles nur Zufall. Natürlich gibt es Leute, die das behaupten. Aber die Frage bleibt, ob sie wirklich so stoisch, so tapfer sind, wie sie tun, oder ob sie das nur behaupten.
Wenn die alten Geschichten brüchig geworden sind, müssen sie neu erzählt werden.
Aber nicht nur im Leben eines Individuums ist das so. Auch im Leben eines Volkes kann es passieren, dass die alten Deutungen nichts mehr taugen. Wer ein Beispiel aus der neuesten Zeit braucht, der denke nur an das Thema der Klimaerwärmung, das plötzlich alles, was als sicher gegolten hat, in Frage stellt. Es scheint so, als müsste von einem Augenblick auf den anderen alles auf den Prüfstand gestellt werden, was früher als unbestreitbar galt. Man kann es leugnen, aber man muss sich dazu verhalten. Am Thema vorbeimogeln kann man sich jedenfalls nicht.
In der Zeit des babylonischen Exils hatte ein Mann, dessen Namen wir nicht kennen, den Gefangenen in Babylon eine glanzvolle Rückkehr in die Heimat vorausgesagt. Ihr ganzes Leben würde neu werden. Die Rückkehr werde so triumphal sein, dass sie alles was bis dahin passiert sei, in den Schatten stelle. Ein paar Jahre später hatten sie tatsächlich in ihr Land zurückkehren können. Die Perser hatten die Babylonier besiegt und die neuen Machthaber hatten den Gefangenen erlaubt, in ihr Land zurückzukehren. Aber die Rückkehr war alles andere als glanzvoll gewesen. Seitdem die Generation der Eltern und Großeltern nach Babylon weggeführt worden war, schien die Zeit im Gelobten Land stehengeblieben zu sein. Es waren Menschen im Land zurückgeblieben, aber die hatten keine Kraft gehabt, etwas Neues aufzubauen. Sie hatten nicht einmal die Kraft gehabt, die Trümmer wegzuräumen. Wenn die Alten noch gelebt hätten, hätten sie wohl gesagt: Genauso sah es aus, als wir fortmussten.
Wie kann man in dieser Situation von Hoffnung sprechen? Wie kann einer da überhaupt noch wagen Prophet zu sein und das Schicksal der Menschen zu deuten? Der Prophet, der hier spricht, wahrscheinlich eine Generation nach dem Propheten, der die Heimkehr vorausgesagt hatte und dessen Namen wir ebenfalls nicht kennen, dieser Prophet versucht es mit einem radikalen Neuanfang. Er kann nicht mehr von triumphaler Rückkehr sprechen, denn die war ja schon geschehen, nur eben nicht in Schönheit und überwältigendem Glanz. Also spricht er nicht mehr vom Volk als Ganzem, sondern vom Einzelnen. Gott, so sagt er, will die Bedingungen, unter denen menschliches Leben stattfindet, ändern. Sie sollen nicht mehr scheitern können. Weinen und Klagen soll aufhören auf der Erde. Eltern sollen nicht mehr den Tod ihrer Kinder betrauern müssen. Menschen sollen alt und lebenssatt sterben. Die Menschen sollen auch weiterhin arbeiten, aber ihre Arbeit soll sie glücklich machen und sie sollen nicht mehr um die Früchte ihres Tuns betrogen werden.
Das ist vielleicht noch nicht das Ewige Leben, wie wir es uns vorstellen und wie das Neue Testament es uns verkündet, aber dennoch ist es noch einmal etwas anderes als die Vorstellung der älteren Propheten, die sich das Glück des Einzelnen nur in der Gesamtheit des Volkes vorstellen konnten.
Leben muss gedeutet werden, damit es sinnvoll erscheint. Und manchmal helfen einem die alten Deutungen nichts mehr. Dann muss man sich umwenden und den Blick auf etwas anderes richten. So erging es Israel nach seiner Rückkehr aus Babylonien in das Land, das einmal Heimat ihrer Vorfahren gewesen war und das ihnen nun fremd und abweisend erschien.
Vielleicht ist es Ihnen in der letzten Zeit oder früher in ihrem Leben auch so gegangen. Ein Mensch, den man geliebt hat, stirbt und die Zeit bleibt stehen. Die Gedanken kreisen nur noch um den Verlust. Wie weiterleben, wenn die Verstorbene nicht mehr da ist? Die Gedanken wandern zurück, man erinnert sich an dieses oder jenes Erlebnis mit der Verstorbenen, und manchmal kreisen sie auch oder bleiben stecken. Gut möglich, dass man das Gefühl hat, die anderen seien weit entfernt. Es scheint so, als ob das Leben ohne uns stattfinde. Man tut seine Pflicht, aber es fühlt sich an, als sei man ein Automat.
Es kann ein langer Prozess werden. Die Angehörigen müssen herausfinden, was der oder die Verstorbene für ihr Leben bedeutet und sie müssen erst einmal mit der Trauer fertigwerden. Sie haben die Verstorbene doch geliebt. Ihr Verlust ist an jeder Ecke spürbar. Vielleicht ist es am Anfang ein geradezu unerträglicher Gedanke, dass das Leben weitergehen muss, auch wenn der oder die Verstorbene nicht mehr da ist.
Und irgendwann fragt man sich: War’s das jetzt?
Vielleicht ist das ja genau die Frage, die uns weiterbringt. Das Gefühl: Das kann doch noch nicht alles gewesen sein. Wohin denn nun mit all der Liebe, die wir noch zu geben haben? Wem noch sagen, was zu sagen ist?
Unser Predigttext sagt: Schaut nicht zurück. Wendet euren Blick nicht mehr in die Vergangenheit. Schaut lieber auf das Neue, das Gott schaffen will. Schaut auf den neuen Himmel und die neue Erde. Von daher kommt euch Heil.
Das sind große Worte. Vielleicht zu groß für uns. Aber vielleicht hören wir eines Tages wieder die Vögel im Garten zwitschern. Oder wir stellen fest, wie schön es ist, wenn das Laub sich färbt. Wir gehen spazieren und am Ende genießen wir einen Wein in einer gemütlichen Gastwirtschaft mit dem Blick auf eine schöne Landschaft. Und vielleicht können wir dann auch den Worten des Neuen Testaments glauben, das sagt: Eure Toten sind nicht in der Erde, wo sie zu Staub zerfallen. Sie sind jetzt bei Gott. Sie können Gott schauen und Gott vollendet ihr Leben. Es ist nicht mehr wichtig, was ihnen geglückt oder woran sie gescheitert sind. Wichtig ist nur noch, dass sie bei Gott sind.
Eines Tages wird auch euer Leben vollendet sein und auch ihr werdet Gott schauen dürfen. Und dann werdet ihr auch die wiedersehen, die euch in eurem Leben viel bedeutet haben. Dann werden eure Fragen beantwortet sein.
Das kann uns Hoffnung geben. Wir alle werden sterben; sowohl die Menschen, die wir geliebt haben, als auch wir selbst. Aber unser Leben wird nicht umsonst gewesen sein, wenn wir unsere Hoffnung auf Gott setzen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der letzte Sonntag im Kirchenjahr. Anschließend an den Gottesdienst gehen die Menschen auf den Friedhof und schmücken die Gräber ihrer Angehörigen. Manche kommen, wie die Angehörigen der im zu Ende gehenden Jahr Gestorbenen, weil ihre Namen im Gottesdienst verlesen werden. Andere weil sie in früheren Jahren einen Angehörigen oder Freund verloren haben.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Es war der Gedanke: „Manchmal muss Leben neu gedeutet werden“, den ich auch in der Überschrift genannt habe, dem ich nachgehen wollte. Manchmal müssen die alten Deutungen durch neue ersetzt werden. So wie es auch im Predigttext passiert.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich finde es spannend, dass auch in der Bibel Deutungen menschlichen Lebens nicht für alle Ewigkeit gelten müssen, sondern ersetzt werden können, wenn die Situation es erfordert.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach machte mich auf verschiedene Formulierungen aufmerksam, die ihr nicht seelsorgerlich genug erschienen. Das empfand ich als hilfreich und habe es geändert.