Manna - Predigt zu 2. Mose 16,2-4.11-26 von Werner Grimm
16,2-4.11-26

Manna 

Vorbemerkungen:

 Die folgende Predigt bezieht sich auf eine leicht erweiterte Text-Lesung (+V.4.19-26), die es erlaubt, den ‚Feierabend‘ mit dem ‚Feiertag‘ zusammen als zwei gleich wichtige Komponenten eines Lebensrhythmus‘ zu betrachten.
Vor oder nach der Predigt könnte die Gemeinde das bekannte Paul-Gerhard-Lied „Geh aus mein Herz“ singen, da die Predigt an einer Stelle auf dessen Inhalte verweist.


Liebe Gemeinde,

Annäherung an die Mannageschichte

Die folgende kleine Geschichte ist weithin bekannt, aber es ist wie mit Mozart-Melodien. Wieder und wieder werden sie uns serviert, aber man wird ihrer trotzdem nicht überdrüssig, weil sie uns im besten Sinne ‚treffen‘. Ich erzähle in geraffter Form:

In einem Hafen an der Atlantikküste liegt ein ärmlich gekleideter Mann in seinem Fischerboot und döst. Ein Tourist spricht ihn an: „Sie werden heute einen guten Fang machen - wollen Sie nicht hinausfahren?“ Der Fischer schüttelt den Kopf: „Ich bin heute schon draußen gewesen: Vier Hummer sind in meinen Körben und zwei Dutzend Makrelen. Für heute genug.“ „Es geht mich ja nichts an“, sagt der Tourist, „aber stellen Sie sich vor, Sie fahren ein zweites, gar ein drittes Mal hinaus und fangen acht Dutzend Makrelen ... Spätestens in einem Jahr können Sie sich ein Motorboot kaufen, später würden Sie ein kleines Kühlhaus bauen, eine Räucherei – bald könnten Sie ein Fischrestaurant eröffnen und Fische nach Paris exportieren. Des Touristen Augen leuchten: „Und dann...“. Der Fischer klopft ihm auf den Rücken: „Was dann?“, fragt er leise. „Dann“, sagt der Tourist, „könnten Sie in aller Ruhe hier am Hafen sitzen, in der Sonne dösen und auf das herrliche Meer blicken.“ Darauf der Fischer: „Aber nichts anderes tue ich doch gerade“.

Gern gehört, doch selten beherzigt – das kleine Meisterstück von Heinrich Böll. Nun, dieses Schicksal teilt es mit seiner unbewussten biblischen Vorlage, der uralten Mannageschichte:

-       Lesung von Ex 16,2-4.11-18 -

Eine wörtliche Aneignung der Manna-Geschichte ist unmöglich

Wie sollen wir diesen Bibeltext in unser Leben ‚integrieren‘? Überall Tamarisken pflanzen, damit auch uns die Kügelchen von ihrem Saft täglich „vom Himmel regnen“, so wie’s den Hebräern in der Wüste damals geschah? Das wäre doch wohl absurd, und schon im 2. Jh. n. Chr. soll ein Rabbi einem solch wörtlichen Verständnis der Geschichte mit überlegenem Lächeln gewehrt haben: „Liebe Leute, ihr alle wisst ja, dass ein kleines Kind, ein 40-Jähriger und eine 90-Jährige je ganz verschiedene Nahrung brauchen. Also, wir müssen uns das so vorstellen: Jeder hat das Manna so gegessen, wie er es vermochte. ‚Brot‘ -  das war es in erster Linie für die jungen Leute; ‚Honigkuchen‘ – so kam es zu den Älteren.  Als ‚Buttermilch‘  erreichte es die Babys, und für die kranken Leute kam das Manna als Brei.“ Man darf diese Flexibilität Gottes sicherlich noch etwas weiter denken: Jeder einzelne Mensch soll in seinem Leben das bekommen, was er zu seiner Lebenserfüllung braucht: Ich brauche meinen täglichen Waldspaziergang, du brauchst dein tägliches Lied, er braucht seinen täglichen Sport, sie braucht ihr tägliches Buch. Es wäre misslich, wenn ich mir von anderen Menschen vorschreiben lassen müsste, was ich brauchen soll! Ob ich freilich wirklich alles brauche, was ich zu brauchen meine, das ist nochmals ein anderes Kapitel!

Was brauchen wir?

Woran denken wir, wenn wir im Gottesdienst Gott um „unser tägliches Brot“ bitten? Vielleicht zuerst an die vielen Hungernden in den Wüsten der Welt. Hören ihr ‚Murren‘: Teilt endlich der Erde Güter mit uns, die ihr an prallvollen Fleischtöpfen sitzt und dabei die Schlachttiere quält und die Umwelt mit Giftstoffen belastet! Und von daher bekäme der zweite Gedanke Maß und Richtung: Was brauche ich, Bürger eines reichen Landes? Was brauche ich wirklich, heute noch und morgen wieder? Was dagegen schwätzen sie mir auf, was redet mir die ‚Werbung‘ ein? Muss ich zum Beispiel auch den letzten norwegischen Fjord noch gesehen haben? Die Mannageschichte lässt mich darüber nachdenken. Sie zieht mich ins Gespräch mit meinen bis dahin gesammelten Lebenserfahrungen: Was tat mir in tiefster Seele von jeher nachhaltig gut, und was erregte mich nur und hinterließ schalen Nachgeschmack? Du, Seele, tief in mir, wonach sehnst du dich in Wahrheit?

Der sich-sorgende Mensch

Mit diesen Gedanken nähern wir uns dem Zentrum der Mannageschichte – jener Maßnahme oder besser ‚Maß-Gabe‘, durch die Gott eine revolutionäre Denk- und Verhaltensweise in die Weltgeschichte einwirft. Und zwar muss sie dort greifen, wo uns Menschen die Sorge um die Zukunft gefangen hält.

Nun ist es zunächst einmal etwas Urmenschliches und also Natürliches, nach Morgen und Übermorgen zu fragen. Und dort, wo Menschen Verantwortung tragen für das Wohl einer Familie oder eines Gemeinwesens, dort ist es ihre Pflicht, vorausschauend Vorsorge zu treffen, damit auch über die nächste Generation bestimmte schlimme Dinge nicht hereinbrechen. Vorsorge ist ein Humanum, und schon der Josef der Bibel, seinerzeit Minister in Ägypten, hat das vorgelebt, als er in guten Zeiten die Kornkammern füllte und man auf diese Weise sieben Hungerjahre überleben konnte.

Drei Strategien des Sorgens

Aber die Manna-Geschichte befasst sich mit einer etwas anderen Art des Sich-Sorgen-Machens, nämlich mit unseren ängstlichen, selbst-bezogenen Sorgen. Drei Strategien, mit diesen Sorgen umzugehen, meine ich zu erkennen:

Die erste Strategie

Gerne dürfen andere für mich sorgen: das Vögelchen, das nicht aus dem Nest will und kaum registriert, dass das Nest allmählich zum Käfig wird, und wenn es etwas davon merkt, dann denkt es sich: „Und ist es schon ein Käfig, so ist es doch ein goldener Käfig.“ Und behält brav auf der Stange Platz und erwartet das Futter.

Ja, so scheuen sich auch manche Menschenbabys vor der Unheimlichkeit der Freiheit. Sie wollen gar nicht erwachsen werden. Sie lieben die gewisse Bequemlichkeit, an den Fleischtöpfen Ägyptens zu liegen oder im Hotel Mama zu speisen. Dass ein pharaonischer Vater sie anherrscht: Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst und auf meiner Tasche liegst, so lange musst du schon meinen Anweisungen folgen! – „Babys“ nehmen das in Kauf. Frei werden, Verantwortung für das eigene Leben tragen, für sich selber sorgen lernen – da tun sie sich schwer.

Leider muss man sagen, dass auch eine kleine Zahl der Hartz 4 - Empfänger die Baby-Mentalität pflegt und somit unsozial eingestellten Politikern billige Argumente gegen die kostbare Errungenschaft der Sozialhilfe liefert. Das ist jammerschade, denn es immunisiert uns gegen den wirklichen Jammer. Für diesen tragen also die Schmarotzer der Gesellschaft eine gewisse Mitverantwortung. Das muss auch einmal im Namen des Gottes, der in die Freiheit führte, gesagt werden. Zu erinnern ist auch an Artikel 10 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten“ (1997), wonach alle Menschen verpflichtet sind, „ihre Fähigkeiten durch Fleiß und Anstrengung zu entwickeln“.

Die zweite Strategie

Aber die meisten von uns sind eher einer Mentalität verfallen, die aus einer Mischung Ameise und Hamster besteht. Vielleicht deshalb, weil ein entsprechendes Verhalten in ihnen „einprogrammiert“ ist seit jenen Tagen der Armut. Da mussten sie für sich selber und für die Familie unter schwierigsten Verhältnissen das tägliche Brot organisieren, aber würde es auch für Übermorgen noch reichen, so bangten sie. In  der Nachkriegszeit z.B., als sie immer wieder das Nötigste zum Überleben für die ihnen anvertrauten Menschen beschaffen mussten. Ansammeln für kalte Winter; schaffe, schaffe, erst a mol e Häusle baue – das machte Sinn. Und man entwickelte Tugenden wie Sparsamkeit, Fleiß, Nimmer-müde-Sein. Und jetzt sind diese Tugenden des Vorsorgens eingefleischt, auch wenn sie unter den heutigen Verhältnissen das Leben unter Umständen sogar hindern.

Vielleicht ist uns das ja schon mit in die Wiege gelegt, dass wir fleißig ansammeln und Polster bilden, von denen wir in schlechteren Zeiten zehren können. Dass wir Deiche bauen. Dass wir für Übermorgen vorsorgen und Eventualitäten einkalkulieren, dass wir unser Leben absichern, so gut es nur geht: vom Risiko des Schuldhaft-einen-Autounfall-Verursachens bis zum Risiko des schlechten Wetters im Urlaub.

Aber eben in diesen letztgenannten und ähnlichen Dingen da schleicht sich dann gern etwas in unser Sorgen ein, was unsere Seele kränkt. Einer wissenschaftlichen Studie zufolge machen sich bis zu einer Million Leute in Deutschland in einem krankhaften Ausmaß Sorgen. Sie kreisen mit ihrem Denken ständig um Fragen wie „Wird die Mutter auch nächstes Jahr noch gesund sein?“, oder „Werden wir das Geld für die Schuldentilgung auch in fünf Jahren noch zusammenbringen?“ oder „Was hat das leichte Ziehen in der Magengegend zu bedeuten? Soll ich zum Arzt oder soll ich nicht?“ Und von derartigen kreisenden Sorgen kämen Müdigkeit, Nervosität, Schlafstörungen, Magen- und Kopfschmerzen.

Der dritte Weg: Das Manna-Symbol

An dieser Stelle nun greift Gott ein, in dem er uns mit dem Manna bekannt macht: der dritte strategische Weg.

Die Herausgeber dieser biblischen Geschichte müssen der Meinung gewesen sein, dass es sich in ihr um ein für die Menschen elementares Thema handelt, das selbst gegenüber den Zehn Geboten Priorität verdient, denn die Zehn Gebote offenbart Gott erst vier Kapitel und einige Kilometer später am Sinai. Und in der Tat: Könnte man sich für unser Leben etwas Grundlegenderes vorstellen als das, was Gott mit dem Manna stiftet, nämlich: Feierabend und Feiertag? Symbolisch erzählt: Mit dem täglichen Manna, das bis zum späten Nachmittag längst eingesammelt ist, hält Gott nämlich einen Feierabend für uns frei. Und mit der am 6.Tag doppelt gewährten Portion Manna richtet er darüber hinaus noch den Feiertag ein! So bremst er jenes Sorgen in uns, das uns innerlich so unruhig sein lässt, das uns beständig antreibt und zur Beschleunigung in allen Verrichtungen drängt. Ohne eine solche von außen kommende Bremse würde unser Sorgen schwerlich einen ‚Halt‘ finden. Feierabend und Feiertag – eine tief in unser Leben greifende Vorgabe des Schöpfers – eine, in der Er uns in seinen Rhythmus des Schaffens und Ruhens mit hinein nimmt. Jedes Mal ward es Abend, und Gott betrachtete, was er geschaffen hatte, und sah es an, und siehe, er befand es für gut. Und am siebten Tag nahm Er erst recht Abstand von seinen Werken und ruhte und feierte, so erzählt es die Genesis.

Und nun wirft also Gott mit dem Manna das Doppelpack von Feierabend und Feiertag hinein in die Welt-Geschichte, und zwar auf den Weg des Volkes, das er in die Freiheit geführt hat. Sie besteht für die Hebräer und später für das Hirten- und Bauernvolk Israel unter anderem darin, sich den Feierabend und den Ruhetag guten Gewissens zu erlauben, denn sie sind von Gott gegeben. Gerade auch demjenigen, der  werktags bei der Nahrungsbeschaffung die „Zahl der Leute in seinem Zelte“ (2.Mo 16,16) bedenkt! Was verallgemeinert heißt: Gerade wer in seinen Handlungen  immer auch das Wohl der anderen, die zu seinem Lebenskreis gehören, mit im Auge hat – gerade auch dem Fürsorglichen stehen Feierabend und Feiertag zu! 

Wie kann die Manna-Lebensweise bei uns ein Stück Wirklichkeit werden?

Freilich, der Manna-Lebensstil, ohne Absicherungen im Vertrauen auf Gottes Gabe von Tag zu Tag zu leben – in Reinkultur wird er stets nur wenigen „begnadeten“ Gotteskindern erschwinglich sein.

Aber, sagen Sie selbst, ein bisschen mehr vom Geist der Manna-Sammler damals dürfte es schon sein. Denn das Leben ist hier und heute und jetzt. Ich verfüge ja nicht über den zukünftigen Tag, und nicht alles müssen die Kinder erben. Der Kornbauer im Gleichnis Jesu hat den Fehler gemacht, dass er souveräner Herr seines Lebens sein wollte, als er das Leben für die Zukunft auf die Seite legte, und eben diese Zukunft erlebte er nicht mehr – er war eben nicht der souveräne Herr seines Lebens, und der Himmel hat es anders beschieden. Aber der Tag heute ist uns geschenkt, und Gott stellt sich vor und macht es uns sogar vor, dass wir unseren Feierabend nehmen. Geben wir also der Daseinsfreude an jedem Tag, den wir aus Gottes Hand empfangen, eine Gelegenheit, auszubrechen, etwa im Geiste und in der Richtung des schlechthinnigen Sommerlieds: „Geh aus mein Herz und suche Freude …“

Die arbeitenden, die zwingenden, die ordnenden Hände sinken zu lassen, die sorgenden Gedanken zu verscheuchen –  mir selbst fällt es nicht leicht. Wie nur einschwingen in den heilsamen Rhythmus der Manna-Sammelnden?

Nein, kein Alles oder Nichts! Sonst geht es uns wie jenen Leuten, die entweder ganz dünn sind wie ein Strich oder kugelrund wie der Ball, die das Maß einfach nicht finden, die mit ihrer Askese sich übernehmen und dann ins Gegenteil verfallen. So sollten wir es mit der Mannageschichte gewiss nicht tun. Aber wie dann? Wie ein wenig mehr Manna-Mentalität gewinnen?

Jesus von Nazareth, der bedeutendste Ausleger der Manna-Geschichte[1], gibt uns da einen nur scheinbar naiven Rat und kitzelt etwas oft Eingeschlafenes wieder wach in uns: „Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorget nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.“

Mit anderen Worten: Das Gegengewicht gegen das überbordende Sorgen ist das uralte Gottvertrauen, das Kinder auch heute noch von ihren Eltern mitbekommen oder nicht mitbekommen, das Vertrauen in des Allmächt‘gen Güte, der weiß, wessen wir zu unserem Leben bedürfen. Der Urgrund aller Religion.

 


[1] Dazu eine ausführliche Begründung und Darstellung in meinem Buch: „Jesus. Mosaiksteine“ (Biblische Raritäten 13), Tübingen 2013 (362 Seiten mit Farbfotos), S.15-46.

 

Perikope
03.08.2014
16,2-4.11-26