Mehr als entweder oder - Predigt zu Lukas 10,38-42 von Barbara Bockentin
10,38-42

Die letzten Gäste waren gegangen. Sie blieb noch einen Moment in der geöffneten Haustür stehen. Dann wandte sie sich um und schloss die Tür hinter sich. Sie seufzte. Wie so manches Mal vorher, so fragte sie sich auch jetzt wieder, warum sie sich das immer wieder antat. All die Arbeit. Alle Planung. Sie selbst hatte nicht viel von dem Abend gehabt. Immer wieder war sie aufgesprungen, kaum dass sie selbst zum Essen gekommen war. Hatte nachgeholt, abgedeckt, anderes aufgedeckt. Sie machte das gern. Es machte ihr Spaß, vorher zu überlegen, was sie kochen konnte. Aber wenn der Tag da war, dann verfiel sie jedes Mal zusehends in Hektik. Und wenn die Gäste nach und nach eintrudelten, konnte sie das nicht ablegen, selbst wenn alles vorbereitet war. Den Besuch konnte sie nicht so richtig genießen. Sie guckte auf die Uhr. So spät schon. Aber ihr Bruder war ja immer lange auf. Da konnte sie auch jetzt noch anrufen.

Er schaute das Telefon an. Wieder so ein Gespräch mit seiner Schwester. Inzwischen gab es das in schöner Regelmäßigkeit. Und immer dieser vorwurfsvolle Unterton. Seit sein Vater allein lebte, ging das so. Immer wieder rief sie ihn an, um ihn „auf Stand“ zu bringen, wie sie es nannte. Er hatte eher das Gefühl, dass sie an sein Gewissen appellierte. Wann er denn mal wieder vorbeischauen würde. Bei ihrem Vater. Er hätte doch schon lange versprochen, mal nach dem Dach zu sehen. Mit Handwerkern könne er einfach besser und auch mit dem Vater. Der müsse manchmal zu seinem Glück gezwungen werden. Da wäre er, der einzige Sohn, einfach der bessere Ansprechpartner. Er hörte sich das alles immer wieder an. Aber dabei blieb es auch. Er äußerte Verständnis. Er versprach, mit dem Vater zu sprechen. Was immer seine Schwester wollte. Aber hinfahren, nein, dazu reichte seine Zeit nicht. Schließlich hatte seine Familie auch ein Anrecht auf ihn. Die Arbeitsbelastung wurde einfach nicht weniger. Er konnte sich nicht zerreißen. Ein andermal gerne.

Der folgende Tag war von vielen Terminen geprägt. Als er nach Hause kam, nahm ihn gleich seine Frau beiseite. Sie hatte mit Sophie, ihrer ältesten Tochter gesprochen. Er hörte noch, wie eine Tür knallte. Dann schauten sich die beiden ratlos an. Aus dem Kinderzimmer der Großen drang das wilde Schluchzen bis zu ihnen. „Ihr habt Nele ja doch viel lieber als mich.“ Dabei hatte sie das mit keinem Wort gesagt. Sicher, sie hatte sich lang und breit darüber ausgelassen, dass Sophie sich mehr anstrengen müsse. Wenn sie auf der Schule bleiben wolle, ginge es nicht anders als mit Fleiß. Als Nele in den Flur kam, fragte sie, was denn los wäre. Die Eltern zuckten mit den Schultern. Immer dasselbe eben. Sophie war einfach schwierig jetzt in diesem Alter. Da konnte schon beim kleinsten Wort aus einem eben noch fröhlichen Kind ein wütendes werden. Und immer wieder der Vorwurf, dass sie sie nicht lieb hätten. Der Vater ging und klopfte an ihre Tür.

Eins aber ist not. – Täglich gilt es viele Entscheidungen zu fällen. Manchmal blitzschnell, ohne viel Zeit zum Überlegen. Da kann es schnell passieren, dass man es hinterher besser weiß. Oder dass andere es einem aufs Butterbrot schmieren: „Das hätte ich dir gleich sagen können.“ Wie belastend.

Eins aber ist not. – Jede Situation erfordert eine andere Entscheidung. Wer alles über einen Kamm schert, der wird niemandem und nichts gerecht. Hinter dieser Erkenntnis steht gleich eine andere: Man muss wendig sein. Sich anpassen können. Sich rasch einen Überblick verschaffen. Und dann eine passende Entscheidung fällen. Und diese in die Tat umsetzen. Wie anstrengend.

Eins aber ist not. – Als Jesus Marta mit diesen Worten antwortete, war das Missverständnis wohl schon vorprogrammiert. So haben es jedenfalls Generationen von Christenmenschen verstanden. Marta hatte das Nötige versäumt. Sie hatte es nicht einmal gesehen. Maria aber …

Aber war es wirklich so? Ergriff Jesus Partei? Oder wies er nicht vielmehr auf etwas hin? Darauf, dass Marta und Maria verschiedene Entscheidungen getroffen hatten. Marta vergrub sich in der Küche. Maria machte es sich zu Jesu Füßen bequem und hörte mit offenen Ohren und offenem Herzen zu. Mit seiner Antwort wies Jesus darauf hin, was das Notwendige in diesem Moment war. Wie missverständlich.

Vor der Geschichte von Marta und Maria erzählt Jesus das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Hier ist Hilfe gefragt. Sie ist es, was in dieser Situation Not tut. Jetzt hat sich etwas anderes ergeben. Jesus ist zu Besuch. Die Gelegenheit, ihm zu zuhören, ihm ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, von ihm zu lernen. Maria trifft die für sie richtige Wahl, während Marta sich anders entscheidet. Maria wird von Jesus dazu ermuntert, zu ihrer Wahl zu stehen: zu hören und zu lernen. Und Marta wird ernst genommen in ihrer Fürsorge für die Gäste. Zum Schiedsrichter allerdings taugt Jesus nicht. Und auch seine Antwort lässt sich dazu nicht verwenden.

Eins aber tut not. – Wieder war ein großes Fest angesagt. Diesmal war der Bruder auch dabei. Er hatte sich Zeit genommen und war schon am Tag vorher mit seiner Frau und den beiden Töchtern angereist. Seinen Vater hatte er besucht. Hatte mit ihm erledigt, was zu erledigen war. Nun saßen sie alle beisammen. Stimmengeschwirr lag in der Luft. Er schaute auf und sah seine Schwester, ein vollbeladenes Tablett in der Hand. Er sprang auf, nahm es ihr ab und drückte sie in einen Stuhl.

Perikope
03.03.2019
10,38-42