Mein Gewinn: in der Schlange stehen - Predigt zu Philipper 3,4b-11 von Katrin Berger
3,4b-11

Mein Gewinn: in der Schlange stehen - Predigt zu Philipper 3,4b-11 von Katrin Berger

Ich bin nicht wie Paulus.[1]
Ich bin kein Mann und schon gar kein Jude.
Ich gehöre nicht zum auserwählten Volk Gottes.
Nicht zum Stamm Benjamins und zum Stamm Davids erst recht nicht.
Ich wurde nicht nach einer Woche beschnitten, natürlich nicht.
Ich bin und fühle mich nicht rein, natürlich nicht.
In meinem Stammbaum gibt es nur einen Menschen mit hebräischen Namen,
aber was das bedeutet, wissen wir nicht.
Nach allem was ich weiß, tippe ich auf Nichts.
Mein Cousin heißt zwar Samuel und meine Cousine Sarah,
aber sie sind evangelisch-reformiert.
Mein Vater ist römisch-katholisch
und meine Mutter lutherisch-ausgetreten.
Ich bin nicht wie Paulus.
Ich habe die Feinde Gottes nie verfolgt.
Ich weiß nicht mal wer das wirklich sein soll, wenn ich so darüber nachdenke.
Keiner ist nur Feind Gottes. Alle sind auch Kinder Gottes.
Keiner ist nur Kind Gottes (auch nicht Paulus), alle sind auch Feinde Gottes.
Einmal. Zweimal. Mehr oder weniger. Immer wieder.
Wir lieben weder uns selbst noch die anderen wirklich (auch nicht Paulus).

Trotzdem bin ich nicht wie Paulus.
Ich möchte nicht für Gottes Sache sterben.
Ich will nicht mal wirklich für die Sache Gottes leiden.
Auferstehung bitte jetzt und immer, ich bin doch getauft.
Der leibliche Tod soll warten, ich hab noch was vor.
Ich will noch lieben und leben, für die Sache Gottes.[2]
Vielleicht bin ich ein bisschen, 
aber nein, ich bin wirklich nicht wie Paulus, oder?

Ich bin eine weiße Frau in Deutschland.
Geboren in Bethel, in Bielefeld. 1982.
Ein Einzelkind im Akademikerhaushalt.
Immer genügend Geld, Bildung, medizinische Versorgung, Frieden sowieso.
Auf dem Dach Solarzellen, in der Kühltruhe Biofleisch.
Meine Eltern hatten Zeit für mich. 
In der Grundschule gab es ein Mädchen aus der Türkei und eins aus Russland.
Und eins aus der DDR, aber mit Autos kannte ich mich noch nie aus und deshalb habe ich die Witze über deren Trabi erst Jahre später kapiert.
Ich war ein weißes Mädchen in Deutschland zwischen lauter anderen weißen Mädchen.
Nie hab ich alles bekommen, was ich wollte.
Aber das lag nur an der Erziehung meiner Eltern und den Prinzipien meiner Oma.
Nie war ich die Schönste, mit meiner Neurodermitis, den kurzen Haaren und der Zahnspange,
aber über mich gelacht haben sie auch nur 1-2 Mal, ich weiß nicht mal mehr worüber.
Nie war mein Leben richtig leicht, aber wenn alle so eine Kindheit gehabt hätten wie ich,
dann wäre dies eine fast gerechte Welt.

Ich war eine weiße junge Frau in Deutschland.
Mein Pfarrer hat mir Mut gemacht, Pfarrerin zu werden.
Aber das sahen andere weiße Männer und Frauen aus Deutschland anders. 
Frauen sollen das nicht.
Frauen können das nicht.
Männer sind grundsätzlich alle gleich anders,
also alle besser für das Pfarramt geeignet. 
Frauen sind grundsätzlich alle gleich anders,
also alle schlechter für das Pfarramt geeignet, eigentlich gar nicht.
Schwächen wollten sie mich, schwer gemacht haben sie es mir und tun es manchmal immer noch, aber sie waren zu spät und zu wenige sind sie auch.
Es standen immer genug Menschen hinter mir.
Wenn alle so eine Jugend gehabt hätten wie ich in den 90er Jahren in Deutschland,
wären wir stark genug, nur noch das zu tun, was wir können und wollen.Denn das sollen wir.
Ich war eine weiße Frau aus Deutschland in Philadelphia, USA.
Fremd war ich dort, interessant, besonders, schön-anders. 
Nicht so wie die Schwarzen im eigenen Land.
„Du weißt nicht, wie das ist!“, sagt mir meine schwarze Mitstudentin.
„Wenn der Supermarktdetektiv deinen gesamten Einkauf mit den Augen begleitet.“
Nein, weiß ich nicht, bei mir tut er das nicht. Ich bin weiß, und Weiße, das weiß man doch, klauen viel weniger. 
„Du weißt nicht, wie das ist!“, sagt mir die mexikanische Mutter.
„Wenn man nachts Angst hat, dass dein Kind mit dem Auto von der Polizei angehalten wird, ohne Grund.“
Nein, weiß ich nicht, ich bin noch nie angehalten worden. Weiße werden weniger angehalten, auf Weiße wird weniger geschossen und wenn, dann weniger oft tödlich. 
„Du weißt nicht, wie das ist!“, sagt mir der große starke Afroamerikaner.
„Wenn man als erfolgreicher Geschäftsmann in einer guten Gegend ein Haus kauft und plötzlich alle Nachbarn wegziehen, weil die Immobilienpreise sinken.“
Nein, weiß ich nicht. Denn ich lebe nur mit Weißen zusammen. Wenn das anders wäre, wüsste ich: Schwarze Menschen im Viertel machen die Preise kaputt.
„Du weißt nicht, wie das ist!“
Nein, wusste ich wirklich nicht. Ich bin weiß. Nie hat mir ein anderer Weißer erzählt, wie viele Vorteile das hat. Meine Vorteile waren Selbstverständlichkeiten. Privilegien für Weiße. Aber nur für Menschen aus Europa oder Amerika,
weniger Angst, weniger Vorurteile, weniger Überwachung,
mehr Vertrauen, bessere Jobs, mehr Geld, bessere Bildung,
mehr Gesundheit, besseres Leben.
Für Christen zuerst.
Die sind ja am längsten da, und wenn auch nicht in der Mehrzahl, dann immer noch die meisten, am Besten organisiert oder irgendwas sonst besser, höher, weiter.

„Du weißt nicht, wie das ist!“, sagt meine Freundin mir, sie will auch so gerne Pfarrerin werden. „Du weißt nicht, wie das ist, wenn man sich nicht in der Öffentlichkeit küssen kann.“
Nein, weiß ich nicht. Ich verliebe mich bisher nur in Männer, aber sie in Frauen und das sehen selbst westliche, christliche Gemeinden noch immer nicht so gerne. Zumindest nicht beim hauptamtlichen Personal.

Ich bin eine Frau aus Deutschland, heterosexuell, christlich und weiß, aber ich weiß: Ich weiß nicht viel von Gott, wenn ich glaube, dass es das ist, was mein Leben wertvoll macht.

Ich weiß das, weil andere zu mir gesagt haben:
„Du weißt nicht, wie das ist.“
Ich weiß das nur, weil andere mir die Augen geöffnet haben.
Ich war mindestens so blind wie Paulus, ich war mir so sicher.
ICH habe mir das verdient, das ist doch selbstverständlich,
dass man mir so begegnet, das ist doch mein gutes Recht,
habe ich gedacht.

Aber dies alles, was mir früher als Vorteil erschien, habe ich durch Christus als Nachteil erkannt. (Phil 3,7)

Ich war mindestens so blind wie Paulus, ich habe lange nicht mal meine Vorteile als das gesehen, was sie sind: unverdiente Privilegien.
Ich war dankbar für mein Leben, aber für Privilegien kann man nicht mehr unbeschwert dankbar sein, wenn man vor denen sitzt, die sie nicht haben. Wenn man in denen, die vor einem sitzen, Christi Ebenbild sieht und sie sagen: „Du weißt nicht wie das ist, du kennst mich nicht.“
Dann ist das, was vorher Vorteil war, zum Nachteil geworden.
Vor Gott und vor Jesus kann man sich nichts verdienen. Weder mit seiner Herkunft noch mit dem, was man deshalb geworden ist und erreicht hat. 
Vor Gott sind alle gleich und wer meint er oder sie wäre aber mehr oder besser, dem sagt Jesus: 
„Du kennst mich nicht, ich war immer bei den Armen, nicht den Reichen.
Du kennst mich nicht, ich war immer bei den Sündern, nicht den Gerechten.
Du kennst mich nicht, ich war immer bei den Anderen, nicht den Gleichen.
Du kennst mich nicht, ich war immer bei denen, die draußen sind und nicht drinnen.
Du kennst mich nicht, ich war immer unterwegs, ich bin nie geblieben.
Du kennst mich nicht, ich bin Gott und doch bin ich Mensch geworden ohne einen einzigen Vorteil in Anspruch zu nehmen.
Du kennst mich nicht, wenn du nicht weißt, wie das ist.“


Wenn man Jesus so kennen lernt,
wenn die Vorteile zu Nachteilen werden,
dann wird alles ganz anders, man selbst wird anders.
Es kann sehr wehtun, wenn sich so viel zum Gegenteil wendet.
Es kann sehr wehtun, wenn man sich von einer anderen Seite sieht.
Paulus hat sich schuldig gemacht an den Kindern Gottes und ich mich auch.
Wer Privilegien selbstverständlich in Anspruch nimmt,
hält sich selbst für wertvoller als andere Kinder Gottes.
Wer an seinen Vorrechten festhält,
wird zum Feind der Kinder Gottes und damit von Gott selbst. 
Das zu erkennen hat Paulus wehgetan, mir auch.
Deshalb hat es eine Weile gedauert, bis ich ansatzweise sagen konnte, was Paulus voller Freude im Philipperbrief schreibt:


“Ich betrachte überhaupt alles als Verlust im Vergleich mit dem überwältigenden Gewinn, dass ich Jesus Christus als meinen Herrn kenne. Durch ihn hat für mich alles andere seinen Wert verloren, ja ich halte es für bloßen Dreck.“ (Phil 3,8)


Es kann eine Weile dauern, bis man sich über den überwältigenden Gewinn freuen kann, den man hat, wenn man Jesus kennt. Erst muss man sich verabschieden, von dem, der man war, von der, die man war. Und dann muss man sich verabschieden von dem, was man hat.
Nicht mehr: Ich habe da aber ein Recht drauf, ich komme zuerst. Sondern: Die haben da auch ein Recht drauf, ich stelle mich hinter sie in die Schlange.


Es kann eine Weile dauern, bis man sich über den überwältigenden Gewinn freuen kann, dass man das Gegenteil sein kann von dem, was man war.

„Freuet euch, abermals sage ich euch freuet euch“ (Phil 4,4), schreibt Paulus, Jahre nach seinem Damaskuserlebnis.
Ich freue mich auch noch, Jahre nach meiner Zeit in Amerika, und immer wieder.
Und stelle mich in die Schlange, wie viele andere auch, hinter die Kinder Gottes, die noch kämpfen müssen um das, was Gott für sie will.
Hinter andere Frauen, wenn ihnen immer noch gleiche Bezahlung und Anerkennung ihrer Arbeit im Haus und mit Kindern verwehrt wird.
Hinter homosexuelle Paare, deren Liebe und Segnung für viele in dieser Kirche immer noch ein Skandal ist.
Hinter Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen, denen immer wieder unterstellt wird, sie seien schlecht für unser friedliches Zusammenleben.
Hinter Menschen ohne Heimat und Zukunft, deren Recht auf ein gutes Leben in Frieden und Würde immer wieder als unmöglich und unbezahlbar hingestellt wird.
Hinter Menschen mit anderer Haut und anderen Namen, denen immer noch mehr Kriminalität und sonst allerlei schlechte Eigenschaften zugetraut werden. 
 

Da in der Schlange, da trifft man Menschen, die von Gott noch alles erhoffen, weil die Welt es ihnen nicht gibt und sie es selber auch nie könnten.

Da in der Schlange, da trifft man Menschen, die erzählen können, wie das ist, als Armer, als Sünder, als jemand, der draußen steht und anders ist, noch nicht angekommen, sondern unterwegs.

Da in der Schlange, da kann man immer wieder sehen, wie Gott ist. Seine Gerechtigkeit reicht. Viel weiter als jeder Vorteil es jemals könnte. Seine Gerechtigkeit reicht für alle.

Ich bin nicht wie Paulus, sondern wie viele weiße westliche privilegierte Frauen und Männer, die sich immer wieder in die Schlange hinter die anderen stellen. 
Hinter diesen Menschen fühle ich mich wohl, ich bin dort nicht mehr wert als ich bin.
Ich habe dort nichts zu verlieren, das mir sowieso nicht gehört.
Bei diesen Menschen ist viel Liebe und Freundschaft.

Ich bin nicht wie Paulus und wahrscheinlich werde ich das auch nie,
aber ich hoffe wie er auf die Gerechtigkeit Gottes – und Jesus Christus immer wieder neu kennen zu lernen und an ihn zu glauben ist mein Gewinn.

 

 

[1] Sebastian Kuhlmann, Der Kühlschrank neben der Kanzel, GPM 70. Jahrgang, Seiten 365- 372, besonders 369.

[2] Ebenda.