"Mein Nächster auf der Kirchenbank", Predigt zu Römer 15,5-13 von Wilhelm v. der Recke
15,5
Mein Nächster auf der Kirchenbank
Römer 15, 5 – 13[i]
I. Das kommt uns wahrscheinlich bekannt vor. Die wichtigsten Stichworte aus der Lesung kennen wir – in dieser oder in ähnlicher Mischung. Von Nächstenliebe ist die Rede, von Geduld und Hoffnung, von guter Gemeinschaft und Gotteslob. – Aber was will Paulus damit sagen? Worauf will er konkret hinaus? Wahrscheinlich fiele es uns schwer, seinen Gedankengang mit eigenen Worten wiederzugeben.
Wer sich die Mühe macht, genauer hinzuhören, und wer auch den größeren Zusammenhang berücksichtigt, der merkt schnell: Der Apostel wird ziemlich konkret und er mutet seinen Lesern einiges zu. Was er schreibt, war schon zu seiner Zeit keine leichte Kost. Heute legt es sich erst recht schwer auf den Magen. Paulus nimmt wenig Rücksicht auf unsere angeborenen, sehr menschlichen Bedürfnisse: Auf den Wunsch, etwas Besonderes zu sein. Zu einer unverwechselbaren Clique zu gehören. Mit sich selbst im Einklang zu leben.
Vielleicht war das zur Zeit unserer Großeltern anders. Es wurde bereitwilliger geschluckt, wenn vor dem alten Adam und der verführerischen Eva gewarnt wurde. Heute ist man nicht mehr bereit, solche Mahnungen einfach hinzunehmen. Heute, wo öffentlich propagiert wird, dass wir ungeniert an uns selbst denken sollen. Dass wir uns ohne schlechtes Gewissen verwöhnen lassen können. Dass wir gerade das genießen müssen, was ehedem verboten war. Das Leben ist kurz, man sollte so viel mitnehmen, wie man kann.
Sie werden fragen. Ist denn das so falsch? Soll man denn nicht auch an sich selbst denken? Darf man sich denn nichts Besonderes gönnen? Was haben Kinder von einer Mutter, die selbst immer zurücksteckt, die sich abhetzt und für die Familie aufopfert?
Der Einwand ist berechtigt. Es gibt eine aufdringliche, ja zerstörerische Selbstlosigkeit – zerstörerisch für die Betroffenen und ihre Umgebung. Wenn es heißt: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst, dann setzt das voraus, dass man sich erst einmal selbst liebt.
Das aber ist in der Regel nicht unser Problem: Wir dürfen, ja wir sollen uns selbst annehmen. Diese Botschaft dringt allmählich durch. Das wissen wir von der Psychologie. Das hören wir von der christlichen Verkündigung, solange es sie gibt: Wenn Gott uns so nimmt wie wir sind, dann sollen wir auch selbst ja zu uns sagen. In der Tat, wir können andere nur lieben, wenn wir uns selbst leiden mögen. – Aber wir sollen eben auch die anderen lieben!
II. Jeder von uns lebe so, dass er seinem Nächsten gefalle – zum Guten und zur Erbauung, schreibt Paulus. Dem Nächsten gefallen – das klingt anbiedernd. Doch gemeint ist das Gegenteil von selbstgefällig: Wir sollen auf denanderen zugehen und auf ihn eingehen. Wir sollen überlegen, wie wir ihn aufrichten und wieder aufbauen können, wenn er durchhängt. Also, wie wir alles zum Besten wenden.
Typisch Gutmenschen, mag mancher denken, ein bisschen weltfremd! – Doch das ist keine überspitzte moralische Forderung. Es geht schlicht und einfach um das Menschliche, ohne das wir nicht leben können. Wir sind nun einmal soziale Wesen. Wir sind aufeinander angewiesen – vom Babykörbchen bis zum Sterbebett. Mal mehr, mal weniger; mal geht es um körperliche Hilfe, mal um seelischen Beistand. Jeder für sich und alle gegen alle – das geht auf die Dauer nicht. Selbst bei jenen, die meistens oben schwimmen.
Wir brauchen einander. Schon mit ein bisschen Höflichkeit und Nettigkeit im Kleinen, schon mit dem ernsthaften Bemühen um soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde im Großen kommen wir ziemlich weit. Das ist einfach vernünftig. Wenn wir es darüber hinaus aus tiefer Überzeugung und mit innerer Teilnahme tun, dann hat es eine noch ganz andere Qualität.
Doch damit stoßen wir schnell an die eigenen Grenzen. Das macht uns angst. So intensiv können wir gar nicht auf andere eingehen. Deshalb schreibt Paulus in einem späteren Vers: Nehmt einander an, wie Christus uns angenommen hat! Wir erleben es doch am eigenen Leibe, schreibt er. Wir erfahren es tief in unserem Inneren, was es heißt: Ohne Wenn-und-aber akzeptiert zu werden. So wie wir sind, mit allen Fehlern und Schwächen. Wir wissen, wohin wir gehören und an wen wir uns wenden können. Dann ist eigentlich nur konsequent, dass wir weitergeben, was wir selbst empfangen haben. Dass wir uns anderer so annehmen, so wie wir es selbst erfahren haben.
III. Nehmt einander an, wie Christus sich unser angenommen hat. Bonhoeffer hat dieses Wort als den schönsten Trauspruch der ganzen Bibel bezeichnet. Das ist kein Zufall: Das Zusammenleben in der Ehe ist das Paradebeispiel von Nächstenliebe – im Guten wie im Bösen: Einer nimmt den anderen wie er ist – er muss nicht erst liebenswert gemacht werden. Man kann sich auf einander bedingungslos verlassen. Das ist ein solides Fundament. – Wenn es gut geht! Wehe, wenn die Ehe stattdessen zur Nahkampfarena wird!
Paulus denkt bei diesem Spruch sicher nicht an die Ehe. Er denkt auch nicht so sehr an das Zusammenleben im allgemeinen. Ihm liegen die Gemeinden am Herzen, die überall rund ums Mittelmeer aus dem Boden sprießen. Dort, im Umgang miteinander, müssen die frisch gebackenen Christen ihren Glauben bewähren. Alle verbindet der neue, der Heilige Geist. Ansonsten sind sie ein bunter Haufe: Von Haus sind sie Juden, Griechen oder Römer. Sie sind Männer und Frauen – auch alleinstehende und sehr selbstbewusste Frauen. Wenige sind gebildet und wohlhabend, die meisten kommen aus eher bescheidenen Verhältnissen, darunter sind Sklaven, Hafenarbeiter und ehemalige Prostituierte.
Von manchen sagt Paulus, sie seien stark. Denn für sie zähle allein der Glaube an Jesus den Christus, ansonsten hielten sie sich an den gesunden Menschenverstand. Andere bezeichnet Paulus als schwach; sie sind eher ängstlich. Ja, Jesus ist die Entdeckung ihres Lebens – aber vorsichtshalber beachten sie zusätzlich noch an alle möglichen anderen Regeln und alte Tabus. Ihnen allen hämmert der Apostel ein: Nehmt euch so wie ihr nun einmal seid. Ihr Starken, seid nicht hochmütig und selbstgefällig. Und ihr anderen, seid nicht rechthaberisch und kleinlich. Alle gehören gemeinsam dazu, so wie ganz unterschiedliche Glieder zusammen einen Leib bilden. Auf keines kann man verzichten, keins darf verloren gehen. Macht das Beste aus eurer Vielfalt. Nur so kann die Gemeinschaft aufgebaut und gestärkt werden.
IV. Ist das heute nicht mehr aktuell? Auf den ersten Blick könnte man das meinen. Tatsächlich bleiben die Kirchengemeinden eine ständige Bewährungsprobe für uns Christen: Auch als Christen brauchen wir die anderen. Keiner kann für sich selber Christ sein. Unser Glaube würde sich schnell verflüchtigen. Oder er würde sich zur Ruhe setzen: er begnügte sich mit dem Streben nach innerer Harmonie und spirituellem Wohlbefinden. Der Glaube verkäme zu einem zahnlosen Tiger; zu einer Hauskatze, die genüsslich schnurrt, wenn man sie nur streichelt.
Nein, wir brauchen die anderen Christen, und zwar gerade die, die auch tatsächlichanders sind. Nicht nur die Gleichaltrigen. Nicht nur die, die aus demselben Milieu und denselben Glaubenstraditionen kommen. Die denselben Stallgeruch mitbringen. Nicht nur die, mit denen wir uns sowieso gut verstehen und die uns bestätigen. Das ist typisch für Sekten – bei ihnen sind der Hintergrund, die Denkart weitgehend dieselben. (Dadurch unterscheiden sich z. B. die Zeugen Jehovas von der Neuapostolischen Kirche und diese sich von der sog. Christengemeinde.) Ähnlich ist es bei zahlreichen Freikirchen in den USA: Man wird in eine baptistische Gemeinde hineingeboren; nach Studium und Heirat schließt man sich einer presbyterianischen (reformierten) Gemeinde an; wenn man es in Beruf und Gesellschaft zu etwas gebracht hat, wählt man die episkopale (anglikanische) Kirche als passenden Rahmen.
Das ist in unseren viel gescholtenen Volkskirchen im alten Europa anders, seien sie nun reformiert oder lutherisch, katholisch oder orthodox. Gottseidank! Man teilt die Kirchenbank auch mit denen, neben die man sich nicht so schnell im Bus setzen würde. Unsere Kirchen sind für jeden offen. Und so wird es auch von uns Christen erwartet, dass wir für jeden offen sind – was immer uns an ihm stören oder gar abstoßen mag. Alles andere wäre Verrat an dem, nach dem wir uns nennen und der mit allen Menschen solidarisch wurde.
Tatsächlich gibt es auch bei uns die Tendenz zu einförmigen Gemeinden – in denen man unter sich ist, wo man Leute trifft mit demselben Lebenszuschnitt und Geschmack. Leute, die auch gerne Orgel- und Flötenmusik hören, die literarisch anspruchsvoll sind, die ein gutes pädagogisches Programm von den Gruppen erwarten, in die sie ihre Kinder schicken. Man braucht die anderen, die da nicht so gut hineinpassen, gar nicht verdrängen. Sie bleiben schon von alleine weg.
Das große, offene Haus der Kirche wird so zu einer geschlossenen Etagenwohnung. Man ist unter sich, und so fühlt man sich wohl. Doch handelt es sich dann noch um die Schwestern und Brüder, von denen Jesus spricht? Die ungebeten neben uns auftauchen? Die einfach da sind und die man sich nicht aussuchen kann? Doch gerade sie stellen unseren Glauben und unsere Liebe auf die Probe?
Vor ein paar Wochen war im Sonntagsevangelium die Rede von den geringsten Brüdern und Schwestern. Im Blick auf sie wird Jesus uns am Ende sagen: Was Ihr ihnen getan habt, das habt ihr mir getan. Und was Ihr ihnen verweigert habe, das habt ihr mir verweigert (Matthäus 25, 31 ff). Dabei denkt er kaum nur an medienwirksame soziale Aktivitäten oder an einzelne Einsätze, an denen wir uns mit spitzen Fingern beteiligen. Er denkt an gelebte Gemeinschaft, an das konkrete Auseinandersetzen und sich wieder Zusammenraufen. Es geht ums Eingemachte.
V. Man heiratet diesen Mann oder jene Frau, weil man meint, dass man mit ihm oder mit ihr gut zusammenpasse. Das ist ein Sonderfall. In der Regel kann man sich seinen Nächsten nicht aussuchen – weder in der Familie noch bei der Arbeit, weder im Verein noch in der Kirche. Darin besteht die Herausforderung. An diesen gelegentlich unbequemen Nächsten werden wir gemessen. Bei ihnen sollen wir uns bewähren. Ihnen sollen wir helfen, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Damit bauen wir sie auf. Damit kräftigen wir unser eigenes geistliches Immunsystem. Damit errichten und erhalten wir die Gemeinde Jesu. Wir dienen dem Ganzen.
Glaube ohne den – häufig ungeliebten – Nächsten gibt es nicht. Glaube ohne die anderen Christen gibt es nicht – und diese Gemeinschaft ist gelegentlich ziemlich kunterbunt und riecht nicht immer angenehm. Ich weiß nicht, ob das der Glaube ist, den wir suchen. Aber das ist der biblische Glaube. So vielstimmig das Neue Testament auch sein mag, in der Beziehung lässt es keine andere Lesart zu.
[i]Tatsächlich legt der Autor den ganzen ersten Teil von Kapitel 15 der Predigt zugrunde. Der Text macht es dem Hörer schwer. Beim Lesen des Predigttextes würde ich beginnen mit Vers 2, der griffig formuliert ist und der für diese Predigt – gemeinsam mit Vers 7 – eine tragende Rolle spielt. Weglassen würde ich die Verse 10f, weil die vielen Zitate ermüden, natürlich auch alle in Klammern stehenden Herkunftsangaben.
Wem die Predigt zum umfangreich ist, empfehle ich, die Teile I und II zu kürzen und sich auf die Konkretisierung in III und IV zu konzentrieren – obwohl sie vielleicht nicht jedermanns Sache ist.
Römer 15, 5 – 13[i]
I. Das kommt uns wahrscheinlich bekannt vor. Die wichtigsten Stichworte aus der Lesung kennen wir – in dieser oder in ähnlicher Mischung. Von Nächstenliebe ist die Rede, von Geduld und Hoffnung, von guter Gemeinschaft und Gotteslob. – Aber was will Paulus damit sagen? Worauf will er konkret hinaus? Wahrscheinlich fiele es uns schwer, seinen Gedankengang mit eigenen Worten wiederzugeben.
Wer sich die Mühe macht, genauer hinzuhören, und wer auch den größeren Zusammenhang berücksichtigt, der merkt schnell: Der Apostel wird ziemlich konkret und er mutet seinen Lesern einiges zu. Was er schreibt, war schon zu seiner Zeit keine leichte Kost. Heute legt es sich erst recht schwer auf den Magen. Paulus nimmt wenig Rücksicht auf unsere angeborenen, sehr menschlichen Bedürfnisse: Auf den Wunsch, etwas Besonderes zu sein. Zu einer unverwechselbaren Clique zu gehören. Mit sich selbst im Einklang zu leben.
Vielleicht war das zur Zeit unserer Großeltern anders. Es wurde bereitwilliger geschluckt, wenn vor dem alten Adam und der verführerischen Eva gewarnt wurde. Heute ist man nicht mehr bereit, solche Mahnungen einfach hinzunehmen. Heute, wo öffentlich propagiert wird, dass wir ungeniert an uns selbst denken sollen. Dass wir uns ohne schlechtes Gewissen verwöhnen lassen können. Dass wir gerade das genießen müssen, was ehedem verboten war. Das Leben ist kurz, man sollte so viel mitnehmen, wie man kann.
Sie werden fragen. Ist denn das so falsch? Soll man denn nicht auch an sich selbst denken? Darf man sich denn nichts Besonderes gönnen? Was haben Kinder von einer Mutter, die selbst immer zurücksteckt, die sich abhetzt und für die Familie aufopfert?
Der Einwand ist berechtigt. Es gibt eine aufdringliche, ja zerstörerische Selbstlosigkeit – zerstörerisch für die Betroffenen und ihre Umgebung. Wenn es heißt: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst, dann setzt das voraus, dass man sich erst einmal selbst liebt.
Das aber ist in der Regel nicht unser Problem: Wir dürfen, ja wir sollen uns selbst annehmen. Diese Botschaft dringt allmählich durch. Das wissen wir von der Psychologie. Das hören wir von der christlichen Verkündigung, solange es sie gibt: Wenn Gott uns so nimmt wie wir sind, dann sollen wir auch selbst ja zu uns sagen. In der Tat, wir können andere nur lieben, wenn wir uns selbst leiden mögen. – Aber wir sollen eben auch die anderen lieben!
II. Jeder von uns lebe so, dass er seinem Nächsten gefalle – zum Guten und zur Erbauung, schreibt Paulus. Dem Nächsten gefallen – das klingt anbiedernd. Doch gemeint ist das Gegenteil von selbstgefällig: Wir sollen auf denanderen zugehen und auf ihn eingehen. Wir sollen überlegen, wie wir ihn aufrichten und wieder aufbauen können, wenn er durchhängt. Also, wie wir alles zum Besten wenden.
Typisch Gutmenschen, mag mancher denken, ein bisschen weltfremd! – Doch das ist keine überspitzte moralische Forderung. Es geht schlicht und einfach um das Menschliche, ohne das wir nicht leben können. Wir sind nun einmal soziale Wesen. Wir sind aufeinander angewiesen – vom Babykörbchen bis zum Sterbebett. Mal mehr, mal weniger; mal geht es um körperliche Hilfe, mal um seelischen Beistand. Jeder für sich und alle gegen alle – das geht auf die Dauer nicht. Selbst bei jenen, die meistens oben schwimmen.
Wir brauchen einander. Schon mit ein bisschen Höflichkeit und Nettigkeit im Kleinen, schon mit dem ernsthaften Bemühen um soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde im Großen kommen wir ziemlich weit. Das ist einfach vernünftig. Wenn wir es darüber hinaus aus tiefer Überzeugung und mit innerer Teilnahme tun, dann hat es eine noch ganz andere Qualität.
Doch damit stoßen wir schnell an die eigenen Grenzen. Das macht uns angst. So intensiv können wir gar nicht auf andere eingehen. Deshalb schreibt Paulus in einem späteren Vers: Nehmt einander an, wie Christus uns angenommen hat! Wir erleben es doch am eigenen Leibe, schreibt er. Wir erfahren es tief in unserem Inneren, was es heißt: Ohne Wenn-und-aber akzeptiert zu werden. So wie wir sind, mit allen Fehlern und Schwächen. Wir wissen, wohin wir gehören und an wen wir uns wenden können. Dann ist eigentlich nur konsequent, dass wir weitergeben, was wir selbst empfangen haben. Dass wir uns anderer so annehmen, so wie wir es selbst erfahren haben.
III. Nehmt einander an, wie Christus sich unser angenommen hat. Bonhoeffer hat dieses Wort als den schönsten Trauspruch der ganzen Bibel bezeichnet. Das ist kein Zufall: Das Zusammenleben in der Ehe ist das Paradebeispiel von Nächstenliebe – im Guten wie im Bösen: Einer nimmt den anderen wie er ist – er muss nicht erst liebenswert gemacht werden. Man kann sich auf einander bedingungslos verlassen. Das ist ein solides Fundament. – Wenn es gut geht! Wehe, wenn die Ehe stattdessen zur Nahkampfarena wird!
Paulus denkt bei diesem Spruch sicher nicht an die Ehe. Er denkt auch nicht so sehr an das Zusammenleben im allgemeinen. Ihm liegen die Gemeinden am Herzen, die überall rund ums Mittelmeer aus dem Boden sprießen. Dort, im Umgang miteinander, müssen die frisch gebackenen Christen ihren Glauben bewähren. Alle verbindet der neue, der Heilige Geist. Ansonsten sind sie ein bunter Haufe: Von Haus sind sie Juden, Griechen oder Römer. Sie sind Männer und Frauen – auch alleinstehende und sehr selbstbewusste Frauen. Wenige sind gebildet und wohlhabend, die meisten kommen aus eher bescheidenen Verhältnissen, darunter sind Sklaven, Hafenarbeiter und ehemalige Prostituierte.
Von manchen sagt Paulus, sie seien stark. Denn für sie zähle allein der Glaube an Jesus den Christus, ansonsten hielten sie sich an den gesunden Menschenverstand. Andere bezeichnet Paulus als schwach; sie sind eher ängstlich. Ja, Jesus ist die Entdeckung ihres Lebens – aber vorsichtshalber beachten sie zusätzlich noch an alle möglichen anderen Regeln und alte Tabus. Ihnen allen hämmert der Apostel ein: Nehmt euch so wie ihr nun einmal seid. Ihr Starken, seid nicht hochmütig und selbstgefällig. Und ihr anderen, seid nicht rechthaberisch und kleinlich. Alle gehören gemeinsam dazu, so wie ganz unterschiedliche Glieder zusammen einen Leib bilden. Auf keines kann man verzichten, keins darf verloren gehen. Macht das Beste aus eurer Vielfalt. Nur so kann die Gemeinschaft aufgebaut und gestärkt werden.
IV. Ist das heute nicht mehr aktuell? Auf den ersten Blick könnte man das meinen. Tatsächlich bleiben die Kirchengemeinden eine ständige Bewährungsprobe für uns Christen: Auch als Christen brauchen wir die anderen. Keiner kann für sich selber Christ sein. Unser Glaube würde sich schnell verflüchtigen. Oder er würde sich zur Ruhe setzen: er begnügte sich mit dem Streben nach innerer Harmonie und spirituellem Wohlbefinden. Der Glaube verkäme zu einem zahnlosen Tiger; zu einer Hauskatze, die genüsslich schnurrt, wenn man sie nur streichelt.
Nein, wir brauchen die anderen Christen, und zwar gerade die, die auch tatsächlichanders sind. Nicht nur die Gleichaltrigen. Nicht nur die, die aus demselben Milieu und denselben Glaubenstraditionen kommen. Die denselben Stallgeruch mitbringen. Nicht nur die, mit denen wir uns sowieso gut verstehen und die uns bestätigen. Das ist typisch für Sekten – bei ihnen sind der Hintergrund, die Denkart weitgehend dieselben. (Dadurch unterscheiden sich z. B. die Zeugen Jehovas von der Neuapostolischen Kirche und diese sich von der sog. Christengemeinde.) Ähnlich ist es bei zahlreichen Freikirchen in den USA: Man wird in eine baptistische Gemeinde hineingeboren; nach Studium und Heirat schließt man sich einer presbyterianischen (reformierten) Gemeinde an; wenn man es in Beruf und Gesellschaft zu etwas gebracht hat, wählt man die episkopale (anglikanische) Kirche als passenden Rahmen.
Das ist in unseren viel gescholtenen Volkskirchen im alten Europa anders, seien sie nun reformiert oder lutherisch, katholisch oder orthodox. Gottseidank! Man teilt die Kirchenbank auch mit denen, neben die man sich nicht so schnell im Bus setzen würde. Unsere Kirchen sind für jeden offen. Und so wird es auch von uns Christen erwartet, dass wir für jeden offen sind – was immer uns an ihm stören oder gar abstoßen mag. Alles andere wäre Verrat an dem, nach dem wir uns nennen und der mit allen Menschen solidarisch wurde.
Tatsächlich gibt es auch bei uns die Tendenz zu einförmigen Gemeinden – in denen man unter sich ist, wo man Leute trifft mit demselben Lebenszuschnitt und Geschmack. Leute, die auch gerne Orgel- und Flötenmusik hören, die literarisch anspruchsvoll sind, die ein gutes pädagogisches Programm von den Gruppen erwarten, in die sie ihre Kinder schicken. Man braucht die anderen, die da nicht so gut hineinpassen, gar nicht verdrängen. Sie bleiben schon von alleine weg.
Das große, offene Haus der Kirche wird so zu einer geschlossenen Etagenwohnung. Man ist unter sich, und so fühlt man sich wohl. Doch handelt es sich dann noch um die Schwestern und Brüder, von denen Jesus spricht? Die ungebeten neben uns auftauchen? Die einfach da sind und die man sich nicht aussuchen kann? Doch gerade sie stellen unseren Glauben und unsere Liebe auf die Probe?
Vor ein paar Wochen war im Sonntagsevangelium die Rede von den geringsten Brüdern und Schwestern. Im Blick auf sie wird Jesus uns am Ende sagen: Was Ihr ihnen getan habt, das habt ihr mir getan. Und was Ihr ihnen verweigert habe, das habt ihr mir verweigert (Matthäus 25, 31 ff). Dabei denkt er kaum nur an medienwirksame soziale Aktivitäten oder an einzelne Einsätze, an denen wir uns mit spitzen Fingern beteiligen. Er denkt an gelebte Gemeinschaft, an das konkrete Auseinandersetzen und sich wieder Zusammenraufen. Es geht ums Eingemachte.
V. Man heiratet diesen Mann oder jene Frau, weil man meint, dass man mit ihm oder mit ihr gut zusammenpasse. Das ist ein Sonderfall. In der Regel kann man sich seinen Nächsten nicht aussuchen – weder in der Familie noch bei der Arbeit, weder im Verein noch in der Kirche. Darin besteht die Herausforderung. An diesen gelegentlich unbequemen Nächsten werden wir gemessen. Bei ihnen sollen wir uns bewähren. Ihnen sollen wir helfen, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Damit bauen wir sie auf. Damit kräftigen wir unser eigenes geistliches Immunsystem. Damit errichten und erhalten wir die Gemeinde Jesu. Wir dienen dem Ganzen.
Glaube ohne den – häufig ungeliebten – Nächsten gibt es nicht. Glaube ohne die anderen Christen gibt es nicht – und diese Gemeinschaft ist gelegentlich ziemlich kunterbunt und riecht nicht immer angenehm. Ich weiß nicht, ob das der Glaube ist, den wir suchen. Aber das ist der biblische Glaube. So vielstimmig das Neue Testament auch sein mag, in der Beziehung lässt es keine andere Lesart zu.
[i]Tatsächlich legt der Autor den ganzen ersten Teil von Kapitel 15 der Predigt zugrunde. Der Text macht es dem Hörer schwer. Beim Lesen des Predigttextes würde ich beginnen mit Vers 2, der griffig formuliert ist und der für diese Predigt – gemeinsam mit Vers 7 – eine tragende Rolle spielt. Weglassen würde ich die Verse 10f, weil die vielen Zitate ermüden, natürlich auch alle in Klammern stehenden Herkunftsangaben.
Wem die Predigt zum umfangreich ist, empfehle ich, die Teile I und II zu kürzen und sich auf die Konkretisierung in III und IV zu konzentrieren – obwohl sie vielleicht nicht jedermanns Sache ist.
Perikope