Liebe Schwestern und Brüder,
es ist eine idyllische ländliche Szene: Die Männer haben das Kornfeld per Hand abgeerntet, die Garben gestapelt und fort getragen. Was verblüffend ist: So sorgfältig sie auch geerntet haben, so achtlos wirken sie, als sie die herunter gefallene Ähren und Halme einfach liegen lassen. Die Nachlässigkeit hat Methode. Kaum sind die Schnitter vom Feld, kommen Kinder, Jugendliche, Frauen auf den Plan. Auch ein paar Fremde sind da. Sie laufen das Feld ab und sammeln, ohne sich dabei allzu sehr ins Gehege zu kommen. Sie sammeln, was sie sammeln können. In aller Ruhe, vollkommen ungestört, denn mit Recht dürfen sie sammeln, nicht heimlich oder verboten. Es ist ihr Recht. Das Recht der Schwachen und Armen. Mit vollen Tüchern gehen sie wieder zurück in den Ort.
Was hier passiert, folgt einem alten Gesetz Israels: Du sollst keine Sorgfalt walten lassen, wenn Du Dein Feld aberntest, heißt es im Deuteronomium (Dtn 24,17-21), denn was liegen bleibt, sollst Du für die Fremden, die Witwen und Waisen liegen lassen.
Was genau passiert hier eigentlich? Ist es nicht verblüffend, dass in dieser Szene die Schnitter zwar anscheinend sehr fleißig und ordentlich als gute Schnitter routiniert das Feld abernten, aber andererseits lassen sie ganz bewusst herunter gefallene Ähren einfach liegen? Ja, sie lassen ganz bewusst einige Ähren mehr fallen, ernten scheinbar nachlässig das Feld ab, so dass es sich später für die, die die Nachlese betreiben, richtig lohnt. Ganz genau, genau so scheint es zu sein. Denn die am Rand geduldig gewartet haben, bis die Schnitter weg sind, haben noch richtig viel ein zu sammeln. Mit ihren Tüchern prall gefüllt mit Ähren werden sie später nach Hause gehen. Dort die Ähren mit der Hand auslesen, die gewonnenen Körner auf einem Mahlstein zerkleinern, mit Wasser einen Mehlbrei anrühren und in kleinen Öfen und über Feuern zu eine Art Brot backen. Nährendes Brot für alle, für sich und ihre Zugehörigen.
Hier wird so etwas wie ein Prinzip beschrieben, vielleicht kann man sogar sagen, dass dies so etwas wie das Gegenteil unseres gesellschaftlichen Leistungsprinzips ist: nämlich nicht alles bis aufs Letzte abzuernten, nicht das Allerletzte aus dem selbst besäten Feld für sich herausholen, sondern bewusst übrig zu lassen für bedürftige Andere, für hungernde Andere. Ein Minimum an Aufwand und ein Maximum an Effekt: die, die Hunger haben, werden selbst aktiv, laufen zum Feld, sammeln ihre Ähren, tragen sie nach Hause und versorgen sich selbst und ihre Familien. Ein schönes Prinzip. Im alten Israel scheint diese Prinzip sogar Gesetz gewesen zu sein, ja, sogar mehr: Gottes Gesetz.
Auch für uns Christinnen und Christen heute weltweit gehört so etwas wie „Schwache in der Gesellschaft achten und schützen“ zu unseren Grundprinzipien. Und auch unser Grundgesetz hat als ersten Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Darüber können wir immer wieder froh und dankbar sein. Denn wie wäre das in Deutschland, wenn sich plötzlich gar keine/r mehr für die Schwächsten interessiert? Wenn Kinder, Alte, Schwache, Flüchtlinge oder Menschen mit Beeinträchtigungen grundsätzlich keinen Schutz mehr erfahren sollen? Es ist ein hohes Gut, wenn der Mensch an sich geschützt ist ohne Ansehen der Person. Wir tun gut daran, dies nicht als Luxus zu empfinden, sondern als etwas, das wir in jeder Situation einfordern und verteidigen, der Schutz der Person an sich. Es ist notwendig. Notwendig für das Menschsein.
„Ethik ist wichtiger als Religion.“ So lautet der Titel eines kleinen Büchleins, in dem ein Interview von Franz Alt mit dem Dalai Lama abgedruckt ist, Friedensnobelpreisträger und als Religionsführer Tibets wohl einer der berühmtesten Flüchtlinge der Welt. 1989 erhielt er in Oslo den Friedensnobelpreis für seine Friedensphilosophie. Darin entwickelt er eine große Ehrfurcht vor allen Lebewesen und die Vorstellung einer universellen Verantwortung, die sowohl die Menschheit als auch die Natur umfasst.
Im Interview aus dem Jahr 2015 legt der Dalai Lama dar, warum er Ethik, also, was das Richtige zu tun ist, für die Zukunft unserer Gesellschaft als für noch wichtiger hält als Religion. Es ist zweitrangig für ihn, welcher Religion wir jeweils angehören, wie wir unsere Gottesbeziehung pflegen oder wie wir sonst geistlich-spirituell unterwegs sind. Stattdessen empfiehlt er als viel dringlicher für die Menschheit, dass wir entwickeln, was für uns jeweils das Richtige ist zu tun. Am besten entwickeln wir eine gemeinsame Ethik für alle Menschen dieser Erde, schlägt er vor. Ein wichtiges Argument wäre für ihn dabei, dass zum Überleben der Menschheit das Gemeinsame wichtiger sei als das Hervorheben des Trennenden.
Ethik ist wichtiger als Religion. Fast 3000 Jahre früher hat der Prophet Jesaja eine ähnliche Botschaft für die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt Jerusalem. Gutes tun, den Schwachen zu ihrem Recht zu verhelfen, es vor Gericht fair und gerecht zugehen lassen – das alles ist auch für ihn nicht nebensächlich, sondern sogar die Voraussetzung für ein gutes Verhältnis mit Gott! Als Prophet verzweifelt er förmlich an den Bewohnerinnen und Bewohnern Jerusalems, wenn er ihnen gegenüber feststellen muss: Eure Verantwortung nehmt ihr nicht wahr! Wenn ihr weiter so vorgeht, dass gerade ihr Oberen die armen Landbewohner ausnutzt und ihre Klagen vor Gericht abweist! Dass gerade ihr euch im Gericht bestechen lasst durch Geschenke und der mittellosen Witwe nicht das zukommen laßt, was ihr zusteht! Dass gerade ihr in der von Gott besonders erwählten Stadt eure Macht als Führungselite missbraucht, um euch selbst zu bereichern! Dann bin nicht nur ich selbst fassungslos, verzweifelt und wütend, nein, dann wird es Gott einfach nur übel.
Der Prophet Jesaja stimmt die Totenklage an, eine Totenklage über eine noch höchst lebendige Stadt Jerusalem: „Ihr seid tot, während ihr noch lebt, weil ihr ethisch tot seid!“ Denn wo gibt es Schutz und Sicherheit, wenn selbst die Burg Jerusalem den Schwachen keine Zuflucht mehr bietet? Wenn selbst hier das Recht des Armen, der Schwächsten, der Witwe und der Waise mit Füßen getreten wird? Der Prophet hält sich jetzt nicht mehr zurück, er übergibt sich, er schmeißt den Führenden den ganzen Ekel Gottes förmlich vor die Füße, Gott selbst sagt: „ich ekel mich vor Euren ganzen Opfern, vor Euren ganzen Festen, vor all dem Blut……“.
Der Predigttext sagt uns damit ganz klar: Wenn die ethische Grundlage nicht stimmt, brauchen wir auch keinen Gottesdienst zu feiern. Der ganze Opferkult kommt an seine Grenzen, wenn sonst etwas faul ist im Staate Dänemark. Es gibt ein altes Gesetz in Israel, demnach der Schwache geschützt werden muss. Wenn dies nicht gewahrt wird, sieht Gott kein Opfer mehr als wohlgefällig an, sei es noch so stattlich. Ethik ist wichtiger als Religion, als Opfer und Kult. Es ist der Schutz der sozial Schwachen, Witwen und Waisen, es geht um Gerechtigkeit. Das ist das, was für Gott an erster Stelle kommt, erst dann kommt alles Weitere.
Jesaja ist verzweifelt und wütend. Gott wird übel und ekelt sich nur noch vor seinem eigenen Volk.
Der Text lässt an Jesu „Tempelreinigung“ denken, den berühmten Wutanfall des Sohnes Gottes in den Vorhöfen des Tempels in Jerusalem, gleicher Ort viele hunderte Jahre später. Jesus stiebt wütend und verzweifelt durch den ganzen Tempel und wirft Tische und Bänke. Er tobt in gerechtem Zorn gegen diesen ganzen Betrieb im Hause des Vaters, bei dem das eine, das Wesentliche, vergessen wird: die Zuwendung zum Nächsten, zu den Bedürftigen, zu den Schwächsten. Genau das wird verpasst. Jesus kann es nicht fassen. Das, was er Zeit seines ganzen Lebens den Menschen immer wieder vorgelebt hat.
Wascht Euch. Reinigt Euch. Lernt Gutes tun. Trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache. Gottes Wort, so führt es der Prophet Jesaja den Bewohnerinnen und Bewohnern vor Augen. So ist es Jesu Anliegen in seiner Aktion, seiner Zeichenhandlung, heute würde man vielleicht sagen, seiner „performance“ in den Tempelvorhöfen.
Was sollen wir also tun wir Christinnen und Christen am Buß- und Bettag? Wie entwickeln wir am besten, was jetzt für uns zu tun ist als Gesellschaft, als Kirche? Es liegt auf der ganzen Linie, dass Jesus sich denen zuwendet, die damals gesellschaftlich ausgegrenzt wurden: Aussätzigen, Frauen, Besessenen, Kindern…. , denen zuwendet, die „im Dunkeln sind“. Gerade da blitzt das Reich Gottes auf, erzählt die Bibel. Das sollten wir also auch tun wie Jesus, dahin schauen, wo andere nichts sehen.
Die im Dunkeln sieht man nicht – alleine und verzweifelt im Gefängnis.
Die im Dunkeln sieht man nicht – in Moria im Flüchtlingslager, wenn die Berichterstattung sich längst wieder anderen Themen zuwendet.
Die im Dunkeln sieht man nicht – zuhause allein gelassen, abgehängt in der Schule ohne Eltern, die in der Hausaufgabe betreuen könnten oder als Nachhilfe unterstützen.
Wie entwickeln wir am besten, was jetzt für uns zu tun ist als Gesellschaft, als Kirche? Indem wir bewusst gerade dorthin schauen, wo Dunkel herrscht, wie Jesus das getan hat. Da, wo niemand gerne hinschaut. Indem wir uns den Ausgegrenzten unserer Gesellschaft bewusst zuwenden und uns für gerechte, menschenwürdige Bedingungen einsetzen. Indem auch für uns und gerade in der Kirche für uns selbst gilt „Ethik ist wichtiger als Religion“ in all unseren Vollzügen, in unserem Umgang miteinander und indem wir uns aktiv dafür einsetzen. Indem wir überhaupt grundsätzlich bereit sind, uns weiter zu entwickeln und hinzu zu lernen. Indem wir gemeinsam lernen, Gutes zu tun und nach dem Recht zu trachten, Gottes Recht, das die Schnitter auf dem Feld bei der Ernte dazu bewegt, genügend Ähren für andere übrig zu lassen.
Wenn wir so aufbrechen, sind wir nach unserem Predigttext auf dem richtigen Weg.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Vor Augen habe ich Menschen,
- die sich wie ich mit dem Ausgang der Wahl in den USA beschäftigen und mit aktuellen allgemein gesellschaftlichen Fragestellungen und Phänomenen
- die sich als Christ*innen die Frage stellen – vielleicht auch nach der letzten EKD-Synode und der Veröffentlichung der Zwölf Leitsätzen des Zukunftsteams „Auf ins Freie – Kirche auf gutem Grund“ - wo es mit der Kirche in Zukunft hingehen soll.
Hilfreicher als Zahlen und Fakten zu Ihrer Gemeinde sind Hinweise dazu, welche Men-schen Sie beim Predigtschreiben vor Augen hatten. Notieren Sie bei Bedarf auch Beson-derheiten zu Anlass, Zeit oder Art des Gottesdienstes, die den Leser/innen den Zugang zu Ihrer Predigt erleichtern.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Entdeckung der Bibelstelle „Du sollst keine Sorgfalt walten lassen, wenn Du Dein Feld aberntest.“ Dtn 24,17-21 als Verdeutlichung von „Gottes Recht“, wie es sich in den Prophetentexten wiederspiegelt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wie können wir das „Ährensammelprinzip“ in unserer Zeit effizient umsetzen? Also Gerechtigkeit zwischen den Generationen (Klimaschutz), Achten der Menschenwür-de, Schutz der Alten…..
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Einen klareren Gedankengang. Ich habe zusätzliche „Moves“ gestrichen.