„Menschliche Triebfedern und Gottes Liebe als Halt“
Liebe Gemeinde,
„Ohne Eitelkeit gibt es kein Schreiben“, hat der unvergessene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki einmal gesagt. Ohne Eitelkeit gibt es keine Literatur; Goethe, Schiller, Thomas Mann und andere lassen grüßen. Ich gestehe, dass ich im ersten Moment mit Entsetzen jenen Satz gelesen habe: „Ohne Eitelkeit gibt es kein Schreiben.“ Denn zugegeben. Ich kann weder das Wort leiden noch den dahinter stehenden Sachverhalt. Wer sich eitel in den Vordergrund drängt, um sich im Beifall zu sonnen, stößt bei mir auf wenig Gegenliebe. Aber andererseits: Was spricht gegen die wunderbare Literatur, die wir Goethe, Schiller und Thomas Mann verdanken? Ist eine solche Eitelkeit nicht unvergleichlich besser als die der Fernsehstars und Talkshow-Besucher, die gar nichts zu sagen haben?
Ich bin über den Satz von Reich-Ranicki richtig ins Grübeln gekommen. Offensichtlich gibt eine ruhmsüchtige Triebfeder, einen eitlen Hang zur Selbstdarstellung, der etwas Positives auf die Welt bringen kann: Literatur, die bis heute Menschen entzückt, sie ins Nachdenken bringt, ermutigt und aufbaut.
Menschliche Triebfedern, menschliches Verlangen, darum geht es dem Jakobus im Predigttext für den heutigen Sonntag. Ein jeder wird von seinen eigenen Begierden gereizt und gelockt, haben wir gehört. So ist es nun einmal: Der Mensch ist nicht eine seelenlose Rechenmaschine oder die wandelnde Vernunft schlechthin. Der Mensch ist bei aller Vernünftigkeit auch eine Triebnatur. Siegmund Freud etwa, der Begründer der Psychoanalyse, hat dies immer wieder beschrieben. Eitelkeit, Macht, Sexualität, Wohlstand, der Wunsch nach Anerkennung und Sicherheit - jeder von uns wird von seinen oder ihren eigenen Triebfedern bewegt. Und das muss von vornherein auch noch nicht unbedingt schlecht sein. Wie gesagt: „Ohne Eitelkeit gibt es kein Schreiben.“
Allerdings kann durchaus Böses dabei herauskommen, wenn wir schrankenlos unseren Trieben nachgeben: Wenn die Begierde empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod. Die Triebfedern des Menschen an sich, oder wie Jakobus sagen würde, die Begierden an sich, sind nicht das Problem. Aber aufgepasst: Triebfedern sind das Einfallstor für die Sünde, die den Tod mit sich bringt.
Die Gier nach Macht und Herrschaft; so manchen machtgierigen Diktator oder Despoten hat es in den letzten Jahren erwischt…
Gier nach Sexualität. Seit den wilden 68er Jahren werden die Kirchen massiv angegriffen wegen ihrer angeblich veralteten Sexualmoral. Und heute stehen die Kirchen am Pranger, weil sie sich angeblich an ihre eigene Sexualmoral zu wenig gehalten haben! Das Stichwort vom Kindesmissbrauch hat jedenfalls deutlich gemacht, wie gefährlich schrankenlose Sexualität ist: Sie ist ein Verbrechen! Ein solches Verbrechen ist eine Sünde, die den ewigen Tod der Seele bedeutet: Das zumindest würde Jakobus sagen und uns auf diese Weise mit ganzem Ernst fragen: Wie wollt ihr euer Leben mit Vernunft und allen Trieben gestalten?
Ob wir wollen oder nicht: Die Menge an Triebfedern, die uns in Bewegung setzt, führt dazu, dass wir immer wieder in Gefahr stehen, uns für Abwege zu entscheiden: für Irrtümer, die weder uns noch unseren Mitmenschen gut tun. Und das entfernt uns vom Gott des Lebens!
Die Gefahr, dass wir unseren Trieben in schlechter Weise nachgeben und uns auf Abwege begeben, nennt die Bibel Versuchung. Wer mit der Versuchung zu kämpfen hat, der empfindet sich als ein Angefochtener, als ein Mensch im Zwiespalt mit sich selbst, seinen Gefühlen und seinen Sehnsüchten. Da liegt es nahe, einen einfachen Ausweg zu wählen: Gott ist an allem schuld, heißt es dann. Jakobus wehrt so einen einfachen Ausweg entschieden ab: Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde. Denn Gott selbst versucht niemand! Irrt euch nicht! Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts.
Die eigene Verantwortung beim Kampf gegen Versuchungen, gegen das Fehlverhalten der eigenen Triebfedern, die eigene Verantwortung dürfen wir nicht abwälzen, meint Jakobus. Zugleich sollen wir uns klarmachen, dass Gott schlechthin Güte und Liebe ist; selbst wenn wir in Momenten der Anfechtung das nicht wahrnehmen.
Liebe Gemeinde, heute ist der erste Sonntag der Passionszeit. Es beginnt die Zeit der Vorbereitung auf Karfreitag und Ostern. Es ist die Zeit, in der die Kirche das Leiden Jesu bedenkt. Zu diesem Leiden gehören Versuchungen und Anfechtungen. Wir haben im Evangelium davon gehört. Nichts Menschliches ist Jesus fremd gewesen, auch nicht Triebfedern und Begierden. Was hat ihm geholfen gegen die Versuchungen, gegen Esssucht, Spielsucht und Herrschsucht?
Jesus hat sich immer wieder an Gottes Verheißungen und an Gottes Liebe erinnert. Das hat ihm Halt gegeben inmitten von Verlockungen und Anfechtungen. Und daran dürfen auch wir uns orientieren! Auch uns hat Gott wirksam seine Liebe zugesagt. Bleibendes und gültiges Zeichen der Liebe Gottes ist unsere Taufe. Die ist in Kraft! Wir sind nicht irgendwie achtlos auf die Erde verstreute menschliche Wesen sondern Gottes geliebte Kinder! Jakobus sagt: Gott hat uns geboren nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, damit wir Erstlinge seiner Geschöpfe seien.
Wenn wir uns auf Gottes Liebe besinnen, wenn wir uns von ihr tragen lassen, dann weicht das Dunkel, dann sinkt die Gefahr, dass wir Versuchungen erliegen! Selig der Mensch, der die Anfechtung erduldet; denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, die Gott verheißen hat denen, die ihn lieb haben.
Die Passionszeit, die vor uns liegt, die Fastenzeit mit der Aktion ‚Sieben Wochen Ohne’ ist eine gute Gelegenheit, den eigenen Triebfedern nachzuspüren und sich selber einen Verzicht oder eine Verhaltensänderung aufzuerlegen; damit uns neu zu Bewusstsein kommt, was wesentlich ist für unser Leben und was nicht. Die Passionszeit ist eine gute Gelegenheit, eingefahrene Gewohnheiten in Frage zu stellen, damit sie uns nicht zur Anfechtung werden. Die Passionszeit ist eine gute Gelegenheit, über den Satz nachzugrübeln: „Ohne Leiden und Sterben Jesu keine Erlösung für uns.“
Gott, lieber himmlischer Vater,
der du uns tröstest wie einen seine Mutter tröstet,
du wendest uns in Jesus Christus Deine Liebe zu:
Lass uns spüren, dass Du uns trägst,
Steh uns bei in der Anfechtung,
Hilf uns, wenn Sucht und Versuchung
uns zuschaffen machen.
Eröffne uns Wege und Auswege zum Leben.
Das bitten wir Dich im Namen Jesu Christi.
AMEN