Menschlicher Herzenswunsch: Nahung zum Gott der Barmherzigkeit - Predigt zu Hebräer 4,14-16 von Angelika Volkmann
4,14-16

Menschlicher Herzenswunsch: Nahung zum Gott der Barmherzigkeit

Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten am Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden, wenn wir Hilfe nötig haben.

Liebe Gemeinde,

wenn wir jemanden lieben, dann ist es unser Herzenswunsch, diesem Menschen unsere Liebe zu zeigen. Und wodurch? Indem wir ihm etwas geben, was uns etwas kostet. Das muss gar nicht finanziell sein. Eine Mühe, eine Anstrengung, ein Zeiteinsatz, um einem Mitmenschen etwas zu ermöglichen, zu erleichtern, zu schenken, das bringt uns einander näher. So zeigen wir Liebe, so empfangen wir Liebe. Letztlich indem wir uns selber schenken, unsere Zeit, unsere Nähe. Durch Hingabe.

Liebe Gemeinde, das, worum es in diesen Zeilen des Hebräerbriefes geht, kennen wir alle. Auch wenn uns die kultische Bilderwelt des Hebräerbriefes fremd ist.

Wir suchen die Nähe Gottes. Auch das ist ein Herzenswunsch. Wir wollen nicht allein sein in der Welt. Es gibt eine Sehnsucht, in Beziehung zu sein mit dem, was uns übersteigt, mit dem Transzendenten, dem Heiligen. Wir möchten ihn lieben und geliebt werden. Wir wollen unsere Freude mitteilen, unseren Dank für unser Leben, wir suchen Trost in schweren Zeiten, möchten uns und andere Gottes Schutz anbefehlen. Wir wollen verstanden und aufgerichtet werden, wenn wir uns verfehlt haben. Ja, wir wollen Gott, dem wir unser Leben verdanken und der uns liebt, ebenfalls etwas geben, etwas schenken.  Vor allem wollen wir in Beziehung sein zum großen Du, wollen angesprochen werden, uns zu ihm hinwenden können, gemeint sein, geliebt sein. Alleine sind wir verloren, sind wir wie tot. Durch Gottes gütigen Blick sind wir lebendig.

„Immerfort empfange ich mich aus Deiner Hand. Das ist meine Wahrheit und meine Freude. Immerfort blickt Dein Auge mich an, und ich lebe aus Deinem Blick, Du mein Schöpfer und mein Heil. Lehre mich, in der Stille Deiner Gegenwart das Geheimnis zu verstehen, dass ich bin. Und dass ich bin durch Dich und vor Dir und für Dich.“ 1)
So spricht Romano Guardini von unserer Angewiesenheit auf Gott, von unserem Herzenswunsch, ihm nahe zu sein.

Und die gute Botschaft klingt auch bei ihm gleich mit: Gott gewährt dem Menschen die Möglichkeit, sich ihm zu nahen. Denn auch er hat Sehnsucht nach dem Menschen.

Gott redet an und hört zu. Gott schenkt die Gebote, die Gottesdienste, die Rituale. Seit alter Zeit. Er schenkt die Möglichkeit, ihm etwas zu geben. In diesem Zusammenhang spricht die Bibel von Opfern: Speise und Trank werden Gott dargebracht, Tiere werden geschlachtet, das zubereitete Fleisch in der Gemeinde gemeinsam verzehrt, ihr Blut gilt als Symbol für das Leben und wird rituell Gott gegeben.  Martin Buber und Franz Rosenzweig übersetzen das hebräische Wort korban nicht mit „Opfer“, sondern mit „Nahung“. Eben weil es um einen Herzenswunsch des Menschen geht, nicht um etwas Unbotmäßiges, das Gott fordert. Der Mensch will Gott nahe sein und Gott schenkt Möglichkeiten, wie das geschehen kann.

Zum Beispiel am jährlichen großen Versöhnungstag Jom Kippur. Im Tempel werden an diesem Tag besondere Opfer gebracht. Der Hohepriester geht an diesem Tag ins Allerheiligste des Tempels. Nur er darf diesen Ort betreten und nur an diesem Tag. Das Volk wartet draußen. Im Allerheiligsten befindet sich die Bundeslade mit dem goldenen Gnadenthron (2.Mose 25,17) und zwei goldenen Engeln. Von denen hatte Gott vor langer Zeit gesagt: „zwischen den beiden Cherubim will ich mit dir alles reden“ (2.Mose 25,10-22).  Dies ist der Ort, wo sich Himmel und Erde berühren! Der Ort der Gotteskommunikation! Der Ort der Nahung.
Der Hohepriester besprengt die Bundeslade mit dem Blut von zwei Opfertieren als Symbol für Lebenshingabe. Stellvertretend für das ganze Volk empfängt er Versöhnung. Alle Schuld wird weggenommen und symbolisch von einem Bock aus der Mitte der Gemeinschaft weggebracht und in die Wüste getragen, sodass sie das Zusammenleben nicht mehr belastet. Wie heilsam! Wie wohltuend! Gott schenkt ein gemeinsames Fest, das Reue und Neubeginn ermöglicht. An diesem Tag und an diesem Ort  tut Gott dem Menschen Gutes: vergibt alle Sünden, heilt Gebrechen, erlöst Leben vom Verderben. Krönt den Menschen mit Gnade und Barmherzigkeit – am Gnadenthron im Allerheiligsten. Das ist die offene Tür zum Himmel! Ja, Gott ermöglicht den Menschen Nahung.

Zur Zeit, als der Hebräerbrief geschrieben wird, gibt es den Tempel nicht mehr. Die Römer haben ihn und die ganze Stadt Jerusalem zerstört.  Doch der Versöhnungstag wird beibehalten. An die Stelle der Tieropfer tritt – wie schon Israels Propheten und später die Pharisäer anmahnten  - die Lebenshingabe im spirituellen Sinne in Gestalt von Gebet, Torastudium und dem Halten der Gebote. Das ganze Leben soll Hingabe an Gott sein. Nahung. Das können wir von den Juden lernen. Auch ohne blutige Opfer wirkt dieser Tag Versöhnung. Auch das lernen wir unseren jüdischen Geschwistern – bis heute. Wichtig vor der Vergebung ist die aufrichtig empfundene und eingestandene Reue. Der Jom Kippur ist bis heute der höchste jüdische Feiertag auf den sich die Menschen mit einer Bußzeit vorbereiten und diejenigen, die sie verletzt haben, um Verzeihung bitten.

Der Brief „An die Hebräer“ ist am Ende des ersten Jahrhunderts an eine Synagogengemeinde gerichtet, zu der christusgläubige Juden gehören. In ungebrochener Kontinuität zur hebräischen Bibel erläutert der Brief, wer Christus ist. Der Brief spiegelt gleichsam eine innerjüdische Diskussion wieder.

Heidenchristen, die kein Verständnis für Israels Kultus haben, und manches befremdlich finden könnten, sind bei dieser Erläuterung nicht im Blick. Das Nachdenken über das Zusammenleben von Judenchristen und Heidenchristen fehlt ebenfalls vollständig. In ungebrochener Kontinuität mit dem jüdischen Glauben erklärt dieser Brief der verzagten judenchristlichen Gemeinde, die in ihrem Glauben an Jesus Christus unsicher geworden ist, wer Jesus Christus ist.

Dieser große Hohepriester ist Gottes Sohn. Gott hat ihn dazu berufen. Er ist nicht nur kultisch rein, sondern überhaupt ohne Sünde. Auch er handelt stellvertretend  - doch nicht nur für Israel, wie der Hohepriester  - sondern für alle, die an ihn glauben.
Er hat die Himmel durchschritten. Durch sein Leben, sein Gebet, sein Torastudium. Durch seine tätige Liebe, seinen Tod und seine Auferstehung.

Er hat schon in dieser Welt mit den Kräften der kommenden Welt gelebt und gezeigt, dass das möglich ist. Weil er nicht nur Sohn Gottes, sondern gleichzeitig Mensch ist, kennt er alle menschlichen Schwäche, jedes Leiden, auch alle Versuchungen und teilt das mit den Menschen. In den Tagen seines irdischen Lebens hat er sich mit Bitten und Flehen, mit Tränen und Schreien an Gott gewendet, der ihn vom Tod erretten konnte und ihn erhört hat. (vgl. 5,7) Er leidet mit den Menschen. Scheut vor keiner Qual zurück. Hat Hass, Verrat, Folter durchlebt. Hat somit auch die Hölle durchschritten. Und konnte selber in der Liebe bleiben und für seine Peiniger beten.
In seinem Leben und in seinem Sterben hat er sich Gott hingegeben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit all seiner Kraft. Aufgrund dieser liebenden Hingabe wirkt er Versöhnung und Vergebung für alle, die an ihn glauben. Gott hat ihn nicht im Tod gelassen. Sondern hat sich durch die Auferstehung hinter ihn gestellt und ihn bestätigt und gezeigt, dass er Versöhnung und Vergebung schenkt.

Lasst uns an dem Bekenntnis zu Jesus Christus festhalten! Um der Lebenshingabe Jesu Christi willen. Lasst uns von seiner Glaubenskraft lernen! 
Lasst ihn unseren Hohenpriester sein. Lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zum Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.
Wenn andere uns verletzen. Wenn andere uns Unrecht tun. Sich von uns abwenden, uns im Stich lassen. Wenn wir alles verlieren. Wenn wir einen Fehler gemacht haben. Was auch immer wir aushalten müssen: Christus ist neben uns und kennt unsere Lage und schaut mit gütigem, versöhnlichen Blick auf uns und das, was uns Mühe macht, schenkt uns Kraft, spricht uns Gottes Vergebung zu, heilt. Wenn wir uns auf ihn ausrichten, haben wir Anteil an dem, was durch ihn geschieht, Anteil am Christusgeschehen in der Welt.

Lasst uns hinzutreten. In der hebräischen Ausgabe des NT steht an dieser Stelle wieder das Wort „Nahung“.
Ja, der Himmel steht uns offen! Auch uns Heiden. Durch Jesus Christus können wir hinzutreten zum Ort der Gottesbegegnung, zum Thron der Gnade, und können Barmherzigkeit empfangen soviel wir brauchen, an jedem Tag.

Amen.

1) Das Zitat von Romano Guardini ist entnommen aus: Romano Guardini, Theologische Gebete, Verlag Josef Knecht, Frankfurt am Main, AD 1944, S. 13 f.
Sonstige verwendete Literatur: Martin Nicol, „Herzenswunsch und Sonntagspflicht. Für eine Spiritualität der Nahung. In:  Weg im Geheimnis. Plädoyer für  den evangelischen Gottesdienst, Vandenhoek und Ruprecht Göttingen 2009, vor allem S. 262– 265, „Opfer als Nahung“.

Perikope
14.02.2016
4,14-16