Mit Nadel und Faden – Predigt zu Markus 10,17-27 von Nico Szameitat
10,17-27

Als ich den schwarzen Mantel zuknöpfe, merke ich schon, wie er mir durch die Finger gleitet, und – klack klack – liegt er da auf dem Boden: Der Knopf. Ok, dann doch erstmal die andere Jacke. Am Abend mache ich es mir dann auf dem alten Ostfriesensofa gemütlich, mit dem Mantel auf den Schoß; auf dem Tischchen liegen der treulose Knopf, Nähgarn, Nähnadel und eine Schere. Für den Sohn einer Schneiderin ist das Knopfannähen ja das geringste Problem. Am schwierigsten ist es nur, den Faden in die Nadel einzufädeln. Sauber abgeschnitten, einmal kurz angeleckt und dann mit ruhiger Hand… klappt!
Und während ich die Nadel mit dem Faden wieder und wieder durch Knopf und Mantel ziehe, von außen nach innen, von innen nach außen, erinnere ich mich, was meine Mutter früher alles genäht hat. Besonders Kinder sind ja sehr nähintensiv…
Nach dem Sturz auf dem Schotterweg musste erst das Knie verarztet und die erschrockene Seele getröstet werden, aber dann bekam abends auf dem Sofa auch die Hose einen Flicken draufgenäht. Und wie oft wurden die Kuscheltiere geflickt oder gestopft: Wenn Hund – ich glaub, der hieß wirklich nur Hund – ein allzu lockeres Auge hatte. Oder wenn der große Teddy mit dem Reißverschluss hinten, der zugleich als Reisetasche diente, wenn es zu Oma ging, wenn dieser große Teddy, dessen Name ich wirklich vergessen habe, schon allzu wundgeliebt war. Mama fädelte ein, Mama nähte, Mama stopfte, und alles, was ich lieb hatte, hielt wieder eine Kinderewigkeit länger. Ich weiß gar nicht, was aus Hund und Teddy geworden ist, vielleicht sind sie irgendwo zuhause auf dem Dachboden. Irgendwann habe ich sie wohl einfach losgelassen.

Der erste Eindruck täuscht. Man muss Jesus aber auch zugutehalten, dass er ziemlich genervt war ist diesem Tag. Weit gekommen ist er nämlich noch nicht. Da kamen schon morgens die ersten Schriftgelehrten und wollten ihn testen; haben ihn in eine Diskussion verwickelt über Heirat und Scheidung; anstatt einfach über die Liebe zu reden. Na gut, die hatte er abgehängt. Dann war er bis auf den Marktplatz gekommen, wollte den Menschen etwas von Gottes Liebe erzählen, da kam es am Rand zu einem kleinen Tumult. Seine Jünger wollten irgendwelche Eltern fortschicken, nur weil die Kinder angeblich störten. Seine Jünger! Gut, also erst eine Lektion zu den Kindern. Als er sie schließlich gesegnet hatte, und die Eltern mit ihren Kindern fröhlich von dannen zogen, war Jesus aufgestanden, war gerade einmal drei Schritte weit gekommen, da sah er schon wieder jemanden angelaufen kommen. „Jede Wette“, sagte Jesus zu Petrus, „das ist auch einer, der mich testen will.“
Und so fährt Jesus den Mann, der sich doch nach Etikette und Knigge formvollendet benimmt, gleich zu Anfang an: „Warum nennst du mich gut? Gott allein ist gut!“ Aber dann merkt er schnell, dass der Mann kein Tester ist, sondern dass er es ernst meint. Und es entspinnt sich ein wunderbares Gespräch. Und auch hier täuscht der erste Eindruck. Denn es geht nicht um Kamele und Nadelöhre. Es geht auch nicht darum, dass Reiche in die Hölle kommen oder so ähnlich. Sondern es geht um erfülltes Leben, über Liebhaben und Loslassen. Es geht um Sehnsucht.
 

Da steht ein Mann, der alles hat, der offensichtlich vermögend ist, der sogar alle Gebote befolgt. Ein Mann, der nach menschlichen Maßstäben ziemlich zufrieden, wenn nicht gar glücklich sein müsste. Und doch ist da eine Sehnsucht…
„Meister, was muss ich tun für das ewige Leben?“ Und mit ewigem Leben ist hier nicht ein unendlich langes Leben im Himmel gemeint. Ewig ist nicht unendlich lang, sondern unendlich gut. „Meister, was muss ich tun für ein unendlich gutes Leben, für ein erfülltes Leben? Kann ich das ansatzweise schon jetzt erleben?“
„Ja“, sagt Jesus. „Und wenn Du die Gebote befolgst, bist du schon auf einem guten Weg. Nur eines fehlt dir. Verkaufe alles, was du hast; gib den Erlös den Armen. Und folge mir nach.“
 

Alles?
Entschuldigung, habe ich richtig gehört: Alles? Mein Haus, mein Garten? Auch die Harry-Potter-Bände und meine CD-Sammlung? Auch den schönen alten Tisch vom Flohmarkt? Der ist doch gar nichts wert. Nur für mich persönlich. Und den edlen Kugelschreiber? Den habe ich doch geschenkt bekommen! Alles, was ich lieb habe? Auch Hund und Teddy?
Der Mann kann nicht. Er kann all das, was er so lieb hat in seinem Leben, nicht einfach loslassen. Ob Jesus das geahnt hat? Vielleicht war Jesus dieses Mal der Tester: „Hey, ich glaube, du kannst deshalb kein erfülltes Leben haben, weil du die Dinge in deinem Leben zu sehr lieb hast. Und das meine ich jetzt im wörtlichen Sinn: „lieb haben“. Können die Dinge dir nicht einfach nur „lieb sein“? Musst du sie denn unbedingt „lieb haben“? Schau doch mal, manche Dinge sind von dir schon regelrecht wundgeliebt. Wenn die Dinge dir nur lieb sind, dann könntest du sie auch loslassen. Dann besitzen sie dich auch nicht. Denk mal drüber nach!“
 

Der Mann kann nicht. Er kann nicht loslassen. Und Jesus ging traurig davon. Da bin ich mir ziemlich sicher. Es ist nämlich die einzige Stelle in den Evangelien, wo erzählt wird, dass Jesus einen Menschen anschaut und ihn liebgewinnt. Matthäus und Lukas werden später diese Geschichte von Markus abschreiben, aber diesen Halbsatz mit dem „lieb gewinnen“, den lassen sie lieber weg. Jesus spürt: Da meint es einer Ernst mit seiner Sehnsucht nach einem erfüllten Leben. Und diesen Menschen möchte er unter seinen Jüngern, möchte er bei sich haben. Jesus hat ihn lieb gewonnen und möchte ihn nun lieb haben. Das aber geht nicht und so muss Jesus selber loslassen. Das ist für mich die kleine traurige Ironie in der Geschichte, dass derjenige, der vom anderen das Loslassen des Geliebten fordert, am Ende selber das Liebgewonnene loslassen muss. Auch insofern ist diese Geschichte einzigartig. Nur hier wird erzählt, dass Jesus zu einem Menschen sagt „Folge mir nach!“, und derjenige schafft es nicht.
Und so ist auch der Satz von dem Kamel, das nicht durchs Nadelöhr geht, ein großer Seufzer Jesu. Und der Satz, dass bei Gott alle Dinge möglich sind, ist ein großer Hoffnungsfunke Jesu. Ja, wer weiß. Vielleicht gibt es eine zweite Begegnung zwischen Jesus und diesem Mann. Und vielleicht hat dieser in der Zwischenzeit gelernt, dass es einen Unterschied macht, ob ich Dinge wie auch Menschen lieb habe, oder ob mir Dinge wie auch Menschen lieb sind.
 

Am Abend machen wir es uns auf dem alten Ostfriesensofa gemütlich. Gott hat Tee gekocht. „Kluntjes? Kleinen Schuss Rum?“ „Gerne.“ Mit dem Kissen im Rücken sitzt er da im Schneidersitz, mein Leben wieder einmal auf dem Schoß. Auf dem Tischchen Nähgarn, Nähnadel und Schere. Und dann betrachtet er mein Leben. „Na, das sieht ja mal wieder aus…“ Ich puste auf den heißen Tee und sage liebe nichts.
„Was Du da so alles liebhast! Und komm mir jetzt nicht wieder mit Deinem großen Herzen. Warum schleppst Du denn diesen Traum noch mit Dir rum? Ich kann Dir doch einen neuen geben. Und warum klammerst Du Dich a an diesen alten Gegenstand? Und hier hast Du ja wieder ein ganzes Stück wundgeliebt. Willst Du den Teil nicht mal loslassen?“
„Ach, nee, kann da nicht nochmal ein Flicken drauf? Ich habe das so lieb…“
„Das ist doch schon gestopft! Wie soll das denn noch halten? Du muss auch mal loslassen können.“
Ich puste auf den Tee. Wie viele Abende haben wir hier schon gesessen: Gott fädelte ein, Gott nähte, Gott stopfte, und alles, was ich lieb hatte, hielt wieder eine kleine Menschenewigkeit länger. „Aber ich dachte, du könntest das nochmal flicken. Wie heißt es immer? Bei Gott ist nichts unmöglich.“ Da lacht er. So sehr, dass der Tee aus seiner Tasse schwappt und auf meinem Leben landet. Na toll.
„Ach, Du bist mir ja einer… Am Ende musst Du sowieso alles loslassen! Das ganze Leben.“ „Ja, ich weiß. Ok, dann lasse ich den Teil eben los. Und fange da neu an. Aber das Stückchen da, das geht doch noch, oder?“
„Jaja“, grummelt Gott. Und während er die Nadel mit dem Faden wieder und wieder durch mein Leben zieht, von außen nach innen, von innen nach außen, bin ich ihm unendlich dankbar.
 

Amen.

Perikope
15.10.2017
10,17-27