Mit Sterben und Tod leben - Predigt zu Dtn 34,1-8 von Paul Geiß
34,1-8

Mit Sterben und Tod leben - Predigt zu Dtn 34,1-8 von Paul Geiß

Liebe Gemeinde,

heute ist der letzte Sonntag im Kirchenjahr. Für uns evangelische Christen der Gedenktag für die Verstorbenen des vergangenen Kirchenjahres, der Totensonntag, aber zugleich auch der Ewigkeitssonntag. Denn wir glauben und hoffen, dass Menschen nach ihrem Tod in die Ewigkeit, in Gottes Frieden eingehen. Auf vielen Gräbern steht der Spruch: Hier ruht in Gott … und dann der Name. Das glauben und hoffen wir Christen und Christinnen. Wir wollen heute, wo Erinnerungen an die Menschen, die uns verlassen haben, im Vordergrund stehen, miteinander nachdenken, was es bedeutet, mit dem Tod zu leben.

Dazu gehört heute die in der Bibel im Alten Testament überlieferte Geschichte vom Tod des Mose im 5. Buch Mose, Kap. 34, 1–8:

1 Und Mose stieg aus den Steppen Moabs auf den Berg Nebo, den Gipfel des Gebirges Pisga, gegenüber Jericho. Und der Herr zeigte ihm das ganze Land: Gilead bis nach Dan 2 und das ganze Naftali und das Land Ephraim und Manasse und das ganze Land Juda bis an das Meer im Westen 3 und das Südland und die Gegend am Jordan, die Ebene von Jericho, der Palmenstadt, bis nach Zoar. 4 Und der Herr sprach zu ihm: Dies ist das Land, von dem ich Abraham, Isaak und Jakob geschworen habe: Ich will es deinen Nachkommen geben. – Du hast es mit deinen Augen gesehen, aber du sollst nicht hinübergehen. 5 So starb Mose, der Knecht des Herrn, da selbst im Lande Moab nach dem Wort des Herrn. 6 Und er begrub ihn im Tal, im Lande Moab gegenüber Bet-Peor. Und niemand hat sein Grab erfahren bis auf den heutigen Tag. 7 Und Mose war hundert zwanzig Jahre alt, als er starb. Seine Augen waren nicht schwach geworden, und seine Kraft war nicht verfallen. 8 Und die Israeliten beweinten Mose in den Steppen Moabs dreißig Tage, bis die Zeit des Weinens und Klagens über Mose vollendet war.

I.

Dieser Bericht beschreibt den Tod des Mose und wie Gott ihn gestaltet hat. Mose steigt auf den Berg Nebo gegenüber von Jericho, der ist die höchste Erhebung weit und breit. Er sieht die Landschaft ringsherum, das Jordantal, das Westjordanland, die Berge und Hügel, soweit das Auge reicht. Bis zum Meer kann er schauen.
Es ist die Gegend, die heute von Israelis und Palästinensern bewohnt und vom gegenwärtigen Staat Israel besetzt und beherrscht wird.
Wie schon so oft spricht Gott mit Mose. Seit der Erfahrung von Gottes Ruf aus dem brennenden Dornbusch hat er den direkten Kontakt mit Gott. In zahllosen Auseinandersetzungen hat er mit Gott gerungen. Er wollte nicht reden, er meinte, dass er das nicht könne, das störrische Volk der Israeliten zu begeistern. Als er sie schließlich nach großen Mühen aus Ägypten führen kann, scheinen sie ihm nicht dankbar zu sein. Sie sehnen sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurück, sie murren, sind ängstlich und unzufrieden.
Mose erhält von Gott die Thora, die Grundlage des jüdischen und christlichen Sittengesetzes. Das Volk dankt es ihm nicht, es will eines der bekannten Gottesbilder anbeten, einen Stiergott als goldenes Kalb. Hin und her geht es mit Mose. Mal kämpft er vor Gott für sein Volk und kann Gott umstimmen, mal verzweifelt er an seinem Volk, muss Strafen aussprechen und vollziehen. Eingebettet in seine Geschichte sind 632 Gebote, die sich nach jüdischer Auslegung aus den zehn Geboten Gottes ergeben. Mal kämpft das Volk unter seiner Führung gegen zahllose Feinde, mal murrt das Volk, weil es nicht genug zu essen hat.
Vierzig Jahre lang ist er der Führer des Volkes zusammen mit den Ältesten, vierzig Jahre geht es durch die Wüste ohne festen Wohnsitz nur mit den Zelten und den Herden, eine ständig bedrohte nomadische Existenz, das wandernde Gottesvolk. Muss er nicht langsam müde werden, muss er es nicht langsam satt haben, der Führer eines solchen Haufens von ständig unzufriedenen Menschen zu sein?
Auch er selbst ist nicht ohne Fehl und Tadel, Gott lässt ihn nur das gelobte Land schauen, hinein darf er nicht, weil er sich einmal nicht ganz an Gottes Weisungen gehalten hat (4. Mose 20, 1–13).
Aber jetzt ist er an seinem Ende, dazu schreibt der biblische Erzähler, er sei 120 Jahre alt und noch kräftig, keineswegs ein Greis. Da bereitet ihm Gott noch einmal eine große Freude; er lässt ihn schauen, was er dem Volk Israel verheißen hat: Gott will sein Versprechen halten. Die Israeliten werden im gelobten Land siedeln, sie werden als Männer und Frauen in diesem Land leben können und es auch beherrschen. Allerdings zeigt die Geschichte, die danach folgt, eine endlose Kette von Kämpfen und Auseinandersetzungen um das Heilige Land. Sie haben bis heute nicht aufgehört.
Aber Gott hat es versprochen: Ihr werdet in diesem Land zu Hause sein. Eine Zeitlang war es ja auch so. Mose darf also jetzt schon weit in die Zukunft blicken mit dieser wiederholten Verheißung Gottes, jetzt, am Ende seines Lebens.
Immer wieder habe ich es als Pfarrer erlebt: Am Ende ihres Lebens schauen viele Menschen zurück und schauen auch voll Hoffnung in die Zukunft jenseits von Krankheit und Tod. Das geht dann so weit, dass sie ganz bewusst auf neue Art und Weise die biblischen Verheißungen ernst nehmen und neu darauf hoffen, dass die Zukunft von Gott selbst bestimmt wird bis zum Ende aller Zeit und Welt. Am Sterbebett haben wir miteinander den Psalm 23 beten können oder das Vater unser mit der Bitte: Dein Reich komme. Selbst in dem nahen Todeskampf konnten einige noch die Worte, die sie in ihrer Jugend auswendig gelernt haben, mitsprechen, auf ihrem Gesicht zeichnete sich Entspannung und Frieden ab.

Zurück zum Gipfel des Berges, auf dem Mose stand:
Wer einmal auf so hohen Gipfeln gewesen ist und bei klarem Wetter in die Weite blicken konnte, weiß, wie phantastisch das ist: Dörfer und Städte sind zu sehen, fruchtbare Täler und geschäftige Menschen auf Straßen und Feldern. Ich bin immer wieder fasziniert, wenn ich so etwas sehen kann, manchmal nach mühevollem Aufstieg, manchmal beim Überqueren der Alpenpässe. Die Schönheit und Weite der vor mir ausgebreiteten Welt stimmt mich froh und optimistisch: Es muss doch möglich sein, in Gottes Frieden zu leben und Gottes schöne Welt zum inneren und äußeren Frieden zu führen. Alles wirkt von oben so klein und winzig. Und wenn unter Gottes Geist Menschen füreinander zusammenhalten, müsste es doch eine lebenswerte Zukunft geben, an der jeder mitwirken kann.
Mose durfte das sehen und dann sterben. Gott selbst hat ihn begraben, es gibt keine Grabstelle, die verehrt werden kann. Aber er war doch die bewunderte und gehasste Autorität, die das Volk über eine ganze Generation miterlebt hat. Und dann so unbekannt beigesetzt zu sein? Ich denke, das war gut so.
Und dann kurz und bündig der letzte Vers unseres Bibeltextes: 8 Und die Israeliten beweinten Mose in den Steppen Moabs dreißig Tage, bis die Zeit des Weinens und Klagens über Mose vollendet war.
Es gibt eine Zeit des Trauerns, es gibt ein heilsames Ritual nach dem Tod und dann ist die Zeit des öffentlichen Weinens und Klagens vorbei. So beschreibt es die biblische Geschichte heute am Toten- und Ewigkeitssonntag.

II.

Sie fragt uns im Blick auf das, was Mose nach dem Zeugnis der Bibel widerfahren ist: Wie gehen wir heute mit unserer Trauer, mit Sterben und Tod um?

Wenn eine Katastrophe, ein Attentat, eine Wahnsinnstat von verblendeten Menschen geschieht wie in Hanau, in Halle, in Norwegen erst kürzlich, dann ist die Erschütterung weltweit spürbar. Menschen pilgern zu der Stätte des Ereignisses, zünden Kerzen an, legen Blumen nieder, es gibt einen Gottesdienst aller Konfessionen, der helfen soll, mit der Katastrophe umzugehen, Anteilnahme zu zeigen und den Angehörigen Trost zuzusprechen. Dann rückt plötzlich ins öffentliche Bewusstsein, wie zerbrechlich unser gewohnter Alltag ist.
Das verdrängen wir aus unserem Alltagsbewusstsein, so wie wir oft genug Krankheit, Sterben und Tod verdrängen. Sie widersprechen unserem Lebensgefühl, unserer Erwartung an eine heile Welt. Und dann erleben wir plötzlich Krankheit, Sterben und Tod. Liebe Menschen, die uns geprägt haben, die wir mochten, die mit uns zusammen über Jahre und Jahrzehnte gelebt haben, werden krank, sterben. So werden wir mit ihrem Tod konfrontiert. Wie können wir damit umgehen?
Dazu gibt es kein Rezept. Jeder und jede von uns erlebt das sehr verschieden. Als Pfarrer wurde ich Zeuge von hoffnungsloser Erschütterung, Klagen und Weinen über Stunden und Tage bis hin auch zu Erleichterung, dass ein lieber Mensch nach langem Kampf erlöst wurde. Die Gegenwart des Pfarrers, einer Gesprächspartnerin, eines vertrauten Menschen hilft, den Tod auszuhalten. In der Dorfgemeinde habe ich es erlebt: Viele Nachbarn und Freunde besuchen das Trauerhaus und geben den Angehörigen die Gelegenheit, mehrfach über die letzten Augenblicke zu sprechen. Die Beerdigung und die Trauerfeier sind ein hilfreiches Ritual, um im Kreis der Gemeinschaft Abschied zu nehmen. Der Gang zum Friedhof, zum Grab hilft, noch einmal ganz bewusst den letzten Weg mit dem oder der Verstorbenen gemeinsam zu gehen.

In den Dörfern, in denen ich den Pfarrdienst versehen habe, gab es dann einen letzten Spruch, er klingt etwas altertümlich:

Wohlauf, wohlan zum letzten Gang, kurz ist der Weg, die Ruh‘ ist lang.
Gott führet ein, Gott führet aus, wohlauf hinaus, kein bleiben ist in diesem Erdenhaus.

Solche festen gewohnten Rituale helfen, mit dem Tod umzugehen, damit einen die Trauer nicht überwältigt. Und dennoch bleiben die Leere, die Trauer, der Widerspruch gegen diese Art von Abschied zurück. Das kann über Monate und Jahre lähmen. Dann reichen 30 Tage öffentlicher Trauer nicht, um damit umzugehen.
In den Kirchengemeinden werden manchmal Gespräche im vertrauten Kreis angeboten. Ich habe auch erlebt, wie hilfreich es sein kann, aus sich herausgehen zu können, von Trauer betroffene Mitmenschen zu treffen und darüber zu sprechen. Solche Trauergruppen sind eine segensreiche Unterstützung für eine gewisse Zeit.
Aber es bleibt die Aufgabe, den endgültigen Abschied zu verkraften, es bleibt die Aufgabe, das eigene Leben neu zu ordnen und die allmähliche Wiedereingliederung in das alltägliche Leben zu lernen. Und: Trauer braucht auch eine Grenze, eine Begrenzung. Für den Tod des Mose waren es die vorgeschriebenen öffentlichen Trauerzeiten. Heute bedarf es der einfühlsamen Begleitung der Mitmenschen.

In solchen Zeiten helfen mir Gesangbuchverse:
Was helfen uns die schweren Sorgen? Was hilft uns unser Weh und Ach?
Was hilft es, dass wir alle Morgen beseufzen unser Ungemach?
Wir machen unser Kreuz und Leid nur größer durch die Traurigkeit. (Evang. Gesangbuch, 369, 2)

So dichtete Georg Neumark im 30jährigen Krieg. Alle sieben Verse bieten Trost.

III.

Und das führt nun zum letzten Punkt unseres gemeinsamen Nachdenkens: Worauf können wir Christinnen und Christen hoffen? Was hat Gott verheißen?

Am Toten- und Ewigkeitssonntag geht es auch darum, wie die von Jesus Christus verheißene Zukunft der Welt aussehen wird. Seine Verheißung ist: Es wird ein Ende aller Zeit und Welt geben. Er hat versprochen, er will uns wiedersehen, wir erwarten, wie es in einem alten Glaubensbekenntnis heißt, „die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt.“ (Nicänum). In diesen wenigen Worten wird die christliche Hoffnung beschrieben: Auferstehung der Toten, Wiedersehen, Leben in der kommenden Welt.
Verstorbene sind tot. Sie sind, wie ich glaube, bei Gott. Erst am Ende aller Zeit und Welt werde ich wieder vereint sein mit denen, die mir vorangegangen sind, aber gewiss auf eine völlig andere Weise. Darauf hoffe ich und nehme jetzt den Tod ernst.

Der Apostel Paulus hat im 1. Korintherbrief darüber nachgedacht. Im 15. Kapitel vergleicht er den irdischen, vergänglichen Körper mit einem Samenkorn. Das Samenkorn muss vergehen, verwesen, damit eine neue Pflanze wieder erstehen kann. Wir säen also unsere Toten ein in den Gottesacker, in Gottes Erde und ER lässt sie, wenn es Zeit ist, völlig neu erstehen.
Paulus schreibt an seine Gemeinde in Kapitel 15:
42 So ist es auch mit der Auferstehung der Toten: Was hier auf der Erde gesät wird, ist vergänglich. Aber was auferweckt wird, ist unvergänglich! 43 Was hier gesät wird, ist unansehnlich. Aber was auferweckt wird, lässt Gottes Herrlichkeit sichtbar werden. Was hier gesät wird, ist schwach. Aber was auferweckt wird, ist voller Kraft. 44 Gesät wird ein natürlicher Leib. Auferweckt wird aber ein Leib, der vom Geist Gottes geschaffen ist. Wie es einen natürlichen Leib gibt, so gibt es auch einen vom Geist Gottes geschaffenen Leib.
Und er fährt weiter fort:
53 Was vergänglich ist, muss sich in Unvergänglichkeit kleiden. Und was sterblich ist, muss sich in Unsterblichkeit kleiden. 54 So hüllt sich das Vergängliche in Unvergänglichkeit und das Sterbliche in Unsterblichkeit. Wenn das geschieht, geht das Wort in Erfüllung, das in der Heiligen Schrift steht: »Der Tod ist vernichtet! Der Sieg ist vollkommen! 55 Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? (Zitiert nach der BasisBibel)

Johannes Brahms, der großartige Komponist, hat das im ausgehenden 19. Jahrhunderts unnachahmlich in Musik gefasst in seinem Deutschen Requiem.

Es ist aufregend und spannend zu sehen, wie Gott mit Mose und seinem Tod umgeht. Das hilft uns, darüber nachzudenken wie wir mit der Erfahrung von Leiden, Krankheit, Sterben und Tod umgehen können.

Die Christengemeinde hofft voll Inbrunst auf die Auferstehung von den Toten am Ende von Zeit und Welt und auf die Ewigkeit in, mit und bei Gott. Und Gottes Geist macht uns dann vielleicht frei von der Angst im Umgang mit dem Tod. Er macht uns gewiss, dass wir schon heute im Licht seiner Verheißung leben.

AMEN.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Paul Geiß: 

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Coronazeit hat viel Einsamkeit und Isolation zur Folge auch in der Begleitung beim Erleben von Sterben und Tod. Jetzt ist der Gedenktag für die Verstorbenen und das Nachdenken über die Verheißungen vom Ende aller Zeit und Welt und der Ewigkeit. Dazu will die Predigt hoffentlich hilfreiche Anstöße geben und bedenkt insbesondere unseren Umgang mit Krankheit, Sterben und Tod im Licht des von Gott herbeigeführten Tod des Mose und unsere auf Christus basierende Hoffnung vom Ende.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Umgang Gottes mit Mose war hilfreich, besonders die unprätentiöse Art seiner Bestattung ohne Pomp und Mausoleum, die über Jahrzehnte angesammelte Erfahrung über die Atmosphäre im Gottesdienst an diesem Sonntag und meine eigene Reflexion über die Erfahrungen in der Gemeinde und im eigenen Leben im Umgang mit Sterben und Tod.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Trauer braucht auch eine Grenze. Gemeindliche Angebote zur Bewältigung von Trauer im Licht der Christusverheißungen sind lebenseröffnend und stellen es Gott anheim, was mit den Verstorbenen geschieht.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Neben knappen stilistischen Hinweisen waren besonders hilfreich die Vorschläge zu Reduktion von ausufernden Bemerkungen zur gegenwärtigen Lage in Palästina und zur Umstellung einiger Abschnitte. Ein wohltuender Schritt in der Predigtvorbereitung.

Perikope
Datum 21.11.2021
Bibelbuch: 5. Mose
Kapitel / Verse: 34,1-8