Momente, die mich überfordern - Predigt zu Röm 11,33-36 von Karoline Läger-Reinbold
11,33-36

Momente, die mich überfordern

Es gibt Momente, die mich überfordern.
Manchmal, wenn ich mir etwas gönnen will, rufe ich eine Freundin an, und dann gehen wir in diese alte Konditorei. „Das beste Haus am Platz“, wie unsere Mütter früher sagten. Das kleine Café mit großer Tradition. Holzvertäfelte Wände, zierliche Tische und blankpolierte Zuckerdosen. Da, wo die alten Damen ihre Hüte nicht abnehmen, wenn sie bedächtig in der Tasse rühren. Wir suchen uns den besten Platz und an der Kuchentheke haben wir die Qual der Wahl: Walnuss-Marzipan? Käse-Mandarinen-Sahne oder Schwarzwälder Kirsch? Was darf es heute sein? Mehr als ein Stück schaffe ich nicht, und alles schmeckt so traumhaft gut. Die Zuckerbäcker hier sind wirklich große Meister ihres Fachs. Fast andächtig stehe ich davor, minutenlang. Auswahl und Fülle, Schönheit und Duft überfordern mich grad.
Ich weiß: Die Kuchentheke ist ein Luxusproblem. Aber: Sie kennen das auch, oder? Morgens, beim Anziehen, vor dem Kleiderschrank. Oder beim Einkaufen, die Regale voll Shampoo und Duschgel. So viele Farben, viele Möglichkeiten. Es gibt so Momente, da ist das zu viel.

Ich bin überfordert: Da kommt das Kind aus der Schule und weint: Die beste Freundin will nicht mit mir spielen. Gestern war sie so lieb, heute will sie mich ärgern! Ich kann die Welt nicht mehr verstehen. Was kann ich als Mutter, als Vater da tun? Zuhören. Aushalten. Versuchen, zu verstehen und gemeinsam nach Ideen suchen, wie es vielleicht wieder besser wird. Lösungen suchen, für einen Neuanfang.
Es gibt Momente, die mich überfordern. Im Guten und im Bösen auch. Die Ärztin stellt mir eine Diagnose und ich muss entscheiden, worauf ich mich einlassen kann. Tabletten oder erstmal warten, vielleicht noch jemand anders fragen? Oder: Der Chef macht mir ein Angebot für einen anderen Job und ich habe keine Vorstellung davon, ob ich das kann oder will. Ich brauche Zeit und manchmal auf Rat: Was ist hilfreich, was ist richtig, und vor allem: Was passt zu mir?
Am Kuchentresen ist es am Ende leicht. Die Torten sind alle gut, ich vertraue dem Bäcker. Meine Freundin und ich, wir genießen das feine Gebäck und loben die Kunst und den guten Geschmack. Momente von Freude und Dankbarkeit. Für einen kleinen  Augenblick ist unser Weltbild mal ganz in Ordnung.

 

Von den Grenzen des Verstehens

Auch für den Apostel Paulus geht es im Römerbrief um einen solchen Moment des Dankes und des vollkommenen Einklangs. Wer plötzlich die Welt im rechten Licht sieht, der kann nicht anders, als Gott zu loben – selbst dann, wenn er ihn gar nicht ganz versteht.

Wir hören den Predigttext für den heutigen Sonntag:

Römer 11,33-36: O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«?  Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm zurückgeben müsste?« Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

Paulus stimmt ein Loblied an, einen Hymnus auf die Weisheit und Erkenntnis Gottes. Vielleicht überrascht es Sie, wenn ich jetzt sage: Auch Paulus war hier überfordert. 
Um das zu erklären, hole ich kurz aus: Paulus hat ein Verständnisproblem. Er ist ja wie Jesus als Jude aufgewachsen und tief verwurzelt in diesem Glauben. Mit jeder Faser seines Herzens ist er davon überzeugt: Gott hat Israel erwählt, seine Liebe zu diesem Volk ist unverbrüchlich. Durch alle Höhen und Tiefen ist Gott mit ihnen gegangen, und das gilt bis heute. Warum aber teilen nicht alle, die an Gott glauben, auch die Erkenntnis, die Paulus hat? Nämlich dies: Gott hat sich in Christus gezeigt. Er ist der Herr dieser Welt. Diese Frage, dieses Ringen zieht sich durch den ganzen Römerbrief. Gott hat sich allen Menschen offenbart, den Juden und auch den Heiden, damit alle das Heil finden können. Und dann gibt es da Menschen, die folgen ihm nach, und andere machen es nicht.
Paulus will das verstehen, er will es erklären. Er kennt sich aus mit der Bibel, er zitiert aus der Schrift. Und am Ende gibt es für ihn nur diese eine Erklärung: Gott hat es selbst so gewollt. Gott verfolgt einen heiligen Plan. Ein Konzept, das wir nicht verstehen. Und die Erwählung Israels steht nicht auf dem Spiel, sie ist ewig. Denn am Ende werden alle gerettet sein. Gott aber ist frei. Er geht nicht mit jedem denselben Weg.

Diese Kapitel im Römerbrief sind harter Stoff. Es gibt ungezählte Bücher, die versuchen, zu erklären, was Paulus hier sagt und was er wohl meint.
Für mich persönlich erschließt sich das Ganze nur vom Ende, vom Lobpreis her. Der Seufzer des Grübelns und der Überforderung kehrt sich um in ein tief empfundenes Staunen. Paulus besingt Gottes Größe: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“.

Wo ich gedanklich an meine Grenzen komme, da gibt es mehrere Optionen. Ich kann aufgeben, hinschmeißen und sagen: Alles zu schwer für mich. Ich kann noch einmal anfangen, meine Kräfte sammeln, kann mir Beratung suchen und neue Methoden. Oder ich ändere meine Haltung, so wie Paulus hier, und sage: Da, wo ich gedanklich am Ende bin, da spricht jetzt mein Herz, meine Seele. Da wird aus Fragen ein Lob.  

 

Vom Denken zum Staunen

Heute ist Trinitatis, das Fest der heiligen Dreieinigkeit. Auch so etwas, was mich überfordert, gedanklich an die Grenzen bringt. Gott ist einer – und er ist drei. Wie soll ich das verstehen?

Ich denke an die unterschiedlichen Weisen und Wege, auf denen Gott mir begegnet. Er ist der Schöpfer und Erhalter der Welt, ist Grund und Ursprung aller Dinge, er ist Mutter und Vater für mich. Und er begegnet mir in Christus, seinem Sohn, er ist mein Bruder und Freund. Ein Mensch, der gelebt hat, wie wir. Gott begegnet mir in Geschichten – mal konkret und oft auch sehr abstrakt. Er ist Wärme und Licht, lebendige Geistkraft, befreiend, beflügelnd, pure Lebensenergie. Manchmal erlebe ich Gott wie eine Stimme aus der Vergangenheit - und dann wieder wie eine Umarmung im Hier und Jetzt.

Gott ist unverfügbar und unbegreiflich. Und auch hierüber haben sich Generationen kluge Gedanken gemacht und dicke Bücher geschrieben. Man muss den Verstand nicht abgeben, um an Gott zu glauben. Ganz im Gegenteil: Es lohnt sich, seinen Weg mit den Menschen zu studieren und sein Wesen zu erforschen. Und doch bleibt am Ende etwas, was sich dem Verstand entzieht. Etwas, wofür ich keine Worte habe, aber Bilder, Geschichten, Gefühle.
Und im Laufe meines Lebens habe ich gelernt: Nicht alles, was mir lieb und wichtig ist, werde ich bis ins Letzte durchdringen und verstehen. Da geht es mir vielleicht ein bisschen wie Paulus, und ich wechsle vom Denken ins Staunen, vom Grübeln ins Lob.

Momentan ist da Vieles, was mich überfordert und was mich an die Grenzen des Verstehens bringt. Dass in Europa wieder Krieg herrscht. Dass Menschen einander unaufhörlich Gewalt, so viel Schrecken, Zerstörung und Leid antun. Warum hört das nicht auf? Wo ist Rettung und wo ist Hilfe? All diese Fragen, die Schmerzen dieser Welt bringe ich vor Gott. Meine Ratlosigkeit, meine Klage, mein Mit-Leiden, meine Ohnmacht, meinen Zorn.
Aber es gibt auch Momente der Hoffnung. Die große Hilfsbereitschaft und gegenseitige Unterstützung. Ich halte meine Augen offen für alles Gute, das geschieht.

Und dann ist da die Erinnerung an das, was am Anfang steht: Die Zusage Gottes: Ich bin für dich da. Bin der Anfang und das Ende, das A und das O. Bin in Christus für dich da, heute und alle Zeit. Um Gottes Liebe zu glauben, muss ich sie nicht bis ins Letzte verstehen. Ich sehe ihre Zeichen. Ich spüre sie in der Zuwendung durch andere. Ich schmecke sie in Brot und Wein. Ich sehe sie im Licht des neuen Tages. Wo meine Gedanken ans Ende kommen, da kann ich verstummen, kann ich lauschen und hören.

Gott überfordert mich. Oft. Aber eines bleibt mir gewiss: Seine Weisheit ist groß, seine Wege sind wunderbar. Da ist mehr, als ich fassen kann. Mein Glaube lässt mich staunen, und so ende ich mit Paulus in Lob und mit Dank: „Ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen.“

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastorin Dr. Karoline Läger-Reinbold

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
„Trinitatis“ ist ein erklärungsbedürftiges Fest – in diesen Zeiten zumal. Wo finden sich aktuelle Hinweise auf das geheimnisvolle Wirken des dreieinigen Gottes in der Welt?

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Im Römerbrief ringt Paulus um sein Verständnis von Gott und Welt; in den Kapiteln 9-11 geht es um die bleibende Erwählung Israels. Am Ende steht der Lobpreis, das Gebet. Für mich ist das kein Scheitern des Intellekts, sondern die gläubige Anerkennung von Gottes Weisheit und Größe, die sich in Vergangenheit und Gegenwart immer wieder erweisen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Sören Kierkegaard spricht vom Augenblick als „Widerschein des Ewigen in der Zeit“ – Gott erschließt sich den Seinen immer wieder neu für einen kurzen, stimmigen Moment. Solche Momente gilt es zu feiern.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Predigttext ist in die Mitte der Predigt gewandert – für die Hörenden wird es leichter, auf die Worte des Paulus einzusteigen, wenn sie noch frisch im Ohr sind.
Vieles von dem, was uns Theologinnen und Theologen selbstverständlich ist, braucht eine Erklärung in einfachen Worten. Die wichtigste Kontrollfrage für mich lautet: Wozu braucht es gerade hier dieses Wort, diesen Satz?

Perikope
12.06.2022
11,33-36