Liebe Gemeinde,
eine liebe Kollegin hat zum diesjährigen Advent ein Gedicht rundgemailt, das mich anspricht:
Advent vielleicht
Dass wäre schön
auf etwas hoffen können
was das Leben lichter macht
und leichter das Herz
das gebrochene ängstliche
und dann den Mut haben
die Türen weit aufzumachen
und die Ohren und die Augen und auch den Mund
nicht länger verschließen
das wäre schön…
…das wäre schön
wenn am Horizont Schiffe auftauchten
eins nach dem anderen
beladen mit Hoffnungsbrot
bis an den Rand
das mehr wird immer mehr durch teilen
das wäre schön…
... das wäre schön
wenn Gott nicht aufhörte zu träumen in uns
vom vollen Leben einer Zukunft für alle
und wenn dann der Himmel aufreißen würde
ganz plötzlich
neue Wege sich auftun
hinter dem Horizont
das wäre schön
(Carola Moosbach)
Das wäre schön…
Ja, liebe Gemeinde, das wäre schön, wenn plötzlich der Himmel aufrisse über Syrien, über dem Jemen, über dem Grenzgebiet zwischen Mexiko und den USA. Wenn plötzlich der Himmel aufrisse und neue Wege sich auftäten, hinter dem Horizont. Hinter dem Horizont, der in Mexiko am sechs Meter hohen Zaun endet, in Syrien hinter der Frontlinie und im Jemen an der nächsten Straßenkreuzung, die die Scharfschützen im Visier haben.
Das wäre schön, wenn der Himmel aufrisse über der Sprachlosigkeit in vielen Familien. Das wäre schön, wenn angesichts eine schwierigen Diagnose im Krankenhaus Wolken der Ratlosigkeit aufreißen würden. Das wäre schön, wenn plötzlich Licht hineinfiele ins Dunkel der Trauer. Wenn sich in finanziellen Sorgen plötzlich neue Wege auftäten und der Horizont weit würde – das wäre schön.
Israel in Gefangenschaft
Am heutigen zweiten Advent hören wir einen Predigttext aus ferner Zeit. Im Jahr 597 v. Chr. hört Israel als Staat auf zu existieren. Die Babylonier sind die alles beherrschende Großmacht. Ein ums andere Volk unterwerfen sie. Auch Israel. Jerusalem und der Tempel liegen in Trümmern. Weite Teile der Bevölkerung sind weggeführt ins Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris (das Gebiet des heutigen Irak). Die Israeliten sind sehr traurig und haben Heimweh. Sie sind abgeschnitten von allem, was ihnen lieb und teuer ist. Ob sie jemals zurückkehren, ist ungewiss. Und wenn ja: Was werden sie vorfinden? Die Lage erscheint hoffnungslos. – Da erhebt mitten unter den Israeliten einer seine Stimme. Jesaja heißt er. Er hat eine Verheißung für sein Volk:
Predigttext Jes 35, 3-10
Jesaja liefert Hoffnungsbrot
Gewaltige Worte! Jesaja liefert Hoffnungsbrot. Es ist, als reiße er den Himmel auf. Wie kann einer so reden? Jesaja traut sich das, weil er neben dem, was vor Augen ist, noch eine andere Dimension kennt: Die göttliche. „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! … Er kommt und wird euch helfen.“ Also weil Gott handelt, gibt es Zukunft. Er ist gewissermaßen selbst das Mehl des Hoffnungsbrotes.
Ob jemand Jesaja geglaubt hat? Ob jemand gekostet hat von seinem Hoffnungsbrot? Ob bei jemandem das Leben lichter, das Herz leichter wurde? Es ist nicht zu leicht zu hoffen, wenn alles dagegen spricht. Wenn eine niederschmetternde Diagnose im Raum steht; wenn man sich auseinandergelebt hat; wenn die Zäune so hoch sind; wenn das Überqueren einer Straße tödlich enden kann. Es ist nicht leicht zu hoffen, wenn alles dagegen spricht. Niemand garantiert mir, dass das Erhoffte auch eintritt. Deshalb schreibt Fulbert Steffensky über die Hoffnung:
Hoffnung – eine untreue Buchhalterin
„Die Hoffnung … ist eine wundervolle untreue Buchhalterin, die die Bilanzen fälscht und einen guten Ausgang des Lebens behauptet, wo dieser noch nicht zu abzusehen ist. … Hoffnung ist der Glaube, der den Tag schon in der Morgenröte sieht.“*
Steffensky beschreibt hier die Fähigkeit der Hoffnung hinauszublicken über das, was vor Augen ist:
Die Bilanz aus Erfahrung sagt: Das geht nicht gut aus. Die Hoffnung fälscht die Bilanz und sagt: Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Die Bilanz aus Erfahrung sagt: Das ist unmöglich. Die Hoffnung fälscht die Bilanz und sagt: Ich suche weiter nach eine Lösung.
Die Bilanz aus Erfahrung sagt: Da sehe ich keine Zukunft mehr. Die Hoffnung fälscht die Bilanz und sagt: Ich gebe dennoch nicht auf.
Ich will nichts beschönigen. Ich weiß sehr wohl: Es gibt Momente im Leben, da sieht man nicht einmal mehr einen Hauch von Morgenröte. Da ist nur noch Ausweglosigkeit. Oder man ist ganz und gar in Trauer. Dennoch: Paradoxer Weise ist der Punkt, an dem die Nacht am tiefsten ist, zugleich der Punkt, an dem der neue Tag beginnt.
Morgenröte
Für Israel bricht dieser neue Tag tatsächlich an. Die Morgenröte, die am Himmel aufzieht, sind Veränderungen im Politischen. Bei den Persern gelangt Kyros auf den Thron. So wie einst die Babylonier, so zieht nun er gegen die umliegenden Völker. Auch gegen die Babylonier. Für die Israeliten scheint damit erstmals seit langem die Rückkehr in die geliebte Heimat als Möglichkeit am Horizont auf. Hoffnungsbrot!
Eines Tages ist es tatsächlich so weit. Kyros lässt die Israeliten ziehen. Ein langer Tross schlängelt sich durch die Wüste: Männer, Frauen, Kinder, junge und alte Menschen, schnelle und langsame, und viele Tiere. Mühsam ist der Weg. Aber die Israeliten haben Energie: Hoffnungsbrot ist nahrhaft. Nach tagelangem Marsch erreichen sie schließlich die letzten Berghöhen, die noch zu überwinden sind. Nur noch wenige Meter, dann können die Ersten im Zug über die Bergkuppe schauen. Dann liegt der Blick frei auf die Heimat. Plötzlich werden die vorne im Zug ganz still. Es verschlägt ihnen die Sprache. Was für ein Anblick! Der Jordan! Der See Genezareth! Das Grün! Das weite Land! Die anderen schieben von hinten nach. „Ist das schön!“ flüstert einer. „Jesaja hat Recht behalten!“ Da entfährt es einem: „Gelobt sei Gott, der uns erlöst!“ Es dauert nicht lange, dann stimmen sie das große Loblied an: „Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit!“(Ps 103,1-4)
Noch einmal: Morgenröte
Liebe Gemeinde, am ersten Heiligen Abend der Geschichte handelt Gott noch einmal. Nun bricht die Morgenröte an für die ganze Menschheit. Das Kind in der Krippe erhält den Namen Jesus. Das heißt: Gott hilft, Gott rettet. Diesem, seinem Namen, macht Jesus als Erwachsener alle Ehre. Er heilt Kranke, er holt Verlorene in die Gemeinschaft zurück. Er ebnet vielen einen Weg zu Gott, die schon aufgegeben hatten, nach ihm zu suchen. Kinder und Frauen erhalten bei ihm ihren rechtmäßigen Platz. Jesus schreibt die Bilanzen um. Und das ist gut so! Für Viele ist er Hoffnungsbrot. In seiner Nähe werden die Herzen hell. Darum heißt er auch Brot des Lebens und Licht der Welt. Sein Name ist ein Versprechen. Das Versprechen Gottes, für uns da zu sein. Gott hört nicht auf zu träumen vom vollen Leben einer Zukunft für alle.
Alte Geschichten?
Alte Geschichten? Lange vorbei? Mag sein, dass das damals so war, aber heute?
Ich erinnere mich noch gut an den Februar 1989. Da hielt ich mich für ein mehrwöchiges Gemeindepraktikum in der Kirchengemeinde Freiberg in Sachsen auf. Da existiert die alte DDR noch. Es ist ein kalter Winter. Ständig liegt der Geruch von verbrennenden Braunkohlebriketts in der Luft. In den Läden kann man das Nötigste für den täglichen Bedarf kaufen, mehr aber nicht. Vielfalt sieht aber anders aus. Auch an einfachen Dingen wie Möbeln oder Spielzeug für Kinder mangelt es. Man muss warten können. Manchmal jahrelang. Auf eine Fotokamera z.B. oder ein Auto. In vielen Gesprächen schlagen mir Hoffnungslosigkeit und Frust entgegen. Es erscheint völlig ausgeschlossen, dass es zu tiefgreifenden Veränderungen kommen könnte. Allenfalls Kosmetik ist zu erwarten. Manchmal hört man allerdings etwas aus Leipzig. Aus der Nikolaikirche. Da kommen schon jahrelang Menschen zusammen und halten ein Friedensgebet. Hoffnungsbrot wird verteilt. Immer montags. Die Menschen wünschen sich Veränderungen. Reden werden gehalten, es wird gesungen und gebetet. Kerzen werden entzündet. Das Leben wird lichter, Herzen werden leichter. Es werden immer mehr, die in Leipzig zusammenkommen. Und an vielen anderen Orten in der DDR. Immer größer, immer machtvoller wird diese Bewegung. – Sie kennen den Ausgang, liebe Gemeinde. Im November desselben Jahres 1989 ist die Grenze offen. Menschen tanzen auf der Berliner Mauer. 40 Jahre lang war sie eine unüberwindbare Grenze. Vielen, die sie überwinden wollten, hat sie das Leben gekostet. Jetzt ist das Land hell und weit. Das hat niemand erwartet. Diese dynamische Bewegung hat niemand vorhergesehen. Es waren unglaubliche Monate. „Dann werden die Lahmen springen … und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Von Freude und Wonne sind sie ergriffen“(Jes 35) – das ist wahr geworden nicht nur im 6. Jahrhundert vor Christus. Das hat sich auch mitten unter uns ereignet. Gott hört nicht auf zu träumen vom vollen Leben einer Zukunft für alle. Manchmal, da reißt er den Himmel auf und neue Wege tun sich auf hinter dem Horizont.
Über alle Horizonte hinaus
Freilich: Nicht jede Geschichte geht so gut aus. Bei den großen Worten Jesajas bleibt ein Rest. Schon damals zu Israels Zeiten. Ganz so glanzvoll, wie Jesaja es vorhersagt, war die Rückkehr in die Heimat dann doch nicht. Und für uns Deutsche brachte die Wiedervereinigung viel Freude und Glück. Sie beinhaltet aber auch Mühevolles, bis heute. Und auch in unserem persönlichen Leben geht ja nicht jede Geschichte gut aus. Im Gegenteil: Manchmal geht der Weg wirklich bis ganz tief in die Nacht. Die Hoffnungsbotschaft Jesajas gilt dennoch. Ihr Horizont reicht über unser irdisches Leben hinaus. Ich glaube, es ist wahr: Die Mitte der Nacht – und sei es die Nacht des Todes – ist der Anfang des neuen Tages. Ich kann das glauben, weil ich nicht auf meine Kraft setze, sondern auf die Kraft Gottes. Ich vertraue auf Jesus. Das heißt: Gott rettet. Das hat am Tod keine Grenze. Am Ende haben die Bedingungen von Zeit und Raum, haben unsere irdischen Horizonte keine Bedeutung mehr. Deshalb freue ich mich auf Weihnachten: Da liegt es, auf Heu und auf Stroh, das Hoffnungsbrot.
„Wenn Gott die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll des Lobes sein.“(Ps 126,1) „Freude und Wonne werden sein und Schmerz und Seufzen entfliehen.“(Jes 35,10).
Amen.
* zitiert nach „der andere Advent“ – Kalender 2018/19
Vorschläge zur Liturgie:
EG 1,1-3.5
Ps 24 (EG 712)
EG 11,1.5.6
EG 7,1-7
EG 13,1-3
Lesung: Mt 11,1-6