Mut-Tour – Predigt zu Markus 1,32-39 von Silke Panthöfer
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Mut-Tour – Predigt zu Markus 1,32-39 von Silke Panthöfer

Ein Samstagvormittag in der Siegener Innenstadt. Hektisch schiebe ich mich mit den anderen Menschen durch die volle Einkaufsstraße. Gegenüber vom Bahnhof, direkt vorm Sieg-Carré, fällt mein Blick auf ein riesiges Spruchband. Ich lese „Mut Tour – raus aus der Depression“. Das Spruchband gehört zu einem Infostand. Neben dem Stand stehen außerdem einige Tandem-Fahrräder mit vollen Packtaschen. Ich gehe langsamer. Zögere etwas. Es ist doch Samstag. Wochenende. Entspannen. Eigentlich mal keine schweren Themen. Ich bleibe aber stehen. Blicke in freundliche Gesichter. Eine Frau ist gerade im Gespräch mit einem Passanten vertieft. Ich nehme mir ein Informationsblatt. Erfahre, dass hier das Bündnis gegen Depression Siegen-Wittgenstein und Olpe auf seine Arbeit aufmerksam macht. Immer noch ist Depression eine Krankheit, über die man kaum spricht. Erst wieder, wenn sich ein Prominenter das Leben nimmt. Ein Musiker oder Sportler. Es gibt so viele Vorurteile und Vorbehalte gegenüber den Menschen, die an Depression erkrankt sind. Solche wie: „Der müsste sich nur mal zusammenreißen.“ Oder: „Da stimmt doch bei denen was in der Ehe nicht.“ Depression bedeutet Makel. Ein Zeichen der Schwäche. Oder des persönlichen Versagens. Das macht dann oft noch einsamer und kränker. Eine gläserne Wand zwischen Gesunden und Kranken. Die Erfahrung machen viele Menschen mit schweren Erkrankungen, nicht nur psychisch Erkrankte.

Und dann weiß ich auch, warum hier diese vollgepackten Tandemräder rumstehen. Die MUT-TOUR ist eine bundesweite Fahrradtour. An Depression erkrankte Fahrer radeln dabei gemeinsam mit Nicht-Betroffenen durch ganz Deutschland. Auf ihren Tandems legen sie rund 7.000 km zwischen der Nordsee und den Alpen zurück und durchqueren dabei über 70 Städte. An diesem Tag sind sie hier bei uns in Siegen. Interessierte sind unterwegs eingeladen, auf Tagestouren mit zu radeln. Mut Tour. Raus aus der Depression. Betroffenen Mut machen, Wege aus der Krankheit zeigen und in der Öffentlichkeit Zeichen setzen. Eine tolle Idee und Aktion.

Mir fällt ein Gespräch mit meinem Nachbarn neulich ein. Wir haben uns eigentlich nur unterhalten, wenn wir uns zufällig beim Müllrausbringen oder auf der Treppe getroffen haben. Er war immer gut gelaunt. Hat mir erzählt, dass er am Wochenende angeln geht oder mit der Freundin auf ein Konzert. So small talk eben. Von Nachbarin zu Nachbar. Vor zwei Wochen habe ich ihn wiedergetroffen, nach längerer Zeit. Ich erfahre, dass er stationär in Herborn in der Psychiatrie war. Wegen einer Depression. „Ich hab mir das selbst nicht eingestehen wollen, dass ich krank bin.“ Sagt er. „Ich hab immer eine Maske aufgesetzt. Und dann konnte ich irgendwann nicht mehr. Meine Freundin hat sich von mir getrennt. Dann bin ich zusammengebrochen. In der Psychiatrie hab ich das begriffen. Das mit meinen Masken.“ Es berührt mich, dass er mir so offen davon erzählt. Ich bin aber auch ein bisschen erschrocken. Er ist mein Nachbar. Mir ist nicht aufgefallen, dass er länger nicht da war. Mir ist überhaupt nichts aufgefallen. Sitzen wir alle in unseren Häusern und Wohnungen und wissen so wenig voneinander?

Auch in Galiläa sitzen die Kranken hinter den Türen ihrer Häuser. Manchmal auch auf der Straße. Blinde, die ihren Lebensunterhalt durch Betteln bestreitet. Wer gesund ist und jung und von der eigenen Hände Arbeit leben kann, hat Glück. Alle anderen müssen um ihr Überleben kämpfen. Harte Regeln in harten Zeiten. Und dann ist da dieser Jesus von Nazareth. Sie alle in Galiläa hören von ihm. „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.“ predigt er in den Synagogen. Dieser Jesus von Nazareth legt die heiligen Schriften auf eine neue Weise aus. „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“
Ein anderer Geist weht durch die Synagogen. Ein befreiender Geist. Und die alteingesessenen Geister bekommen Angst. Dieser Geist der Freiheit und der Gnade treibt die Geister aus, die meinen, wer arm sei oder krank ist, sei selbst schuld oder habe zu wenig gebetet oder noch schlimmer: würde für ein Vergehen, eine Sünde von Gott bestraft! Auch heute gibt es diese gnadenlosen dämonischen Geister noch, die meinen, an einer Krankheit oder Behinderung sei der-oder diejenige selbst schuld. Oder eine Strafe Gottes. Es gehört einfach nur zum Leben und zum Menschsein dazu, dass wir verletzlich und verletzbar sind. Und nicht alles machen und kontrollieren können. Das Gesunde ist nicht das Normale!
Jesu Aufmerksamkeit gilt denen, die wenig Ansehen haben, ausgegrenzt werden, dem Leben verloren gehen, das die Gesunden leben. Für sie gibt es Hoffnung.
Er berührt nicht nur mit Worten. Seine Nähe und Zuwendung, seine Berührungen verwandeln und heilen. Wie erlösend kann es sein, wenn jemand mir einen liebevollen Blick schenkt oder einfach nur die Hand hält. Den Arm um die Schulter legt. Ich bin da. Hab keine Angst.
„Keine Katze mit 7 Leben, keine Eidechse und kein Seestern, denen das verlorene Glied nachwächst, kein zerschnittener Wurm ist so zäh wie der Mensch, den man in die Sonne von Liebe und Hoffnung legt.“ So heißt es in einem Gedicht von Hilde Domin. Jesus legt Menschen in die Sonne von Liebe und Hoffnung. Und so beginnt das Zerbrochene, die Wunden und Verletzungen zu heilen. Das spricht sich in Galiläa wie ein Lauffeuer rum. Am Abend aber, da die Sonne untergegangen war, brachten sie zu ihm alle Kranken und Besessenen. Und die ganze Stadt war versammelt vor der Tür. Und er heilte viele, die an mancherlei Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus. Raus aus den engen Häusern. Raus aus der Depression. Sehen: Ich bin ja nicht allein. So vielen geht es wie mir.

Am Stand des Bündnisses gegen Depression spreche ich mit einem Mann. Er erzählt mir seine Geschichte mit der Krankheit Depression. Einige Aufenthalte in der Psychiatrie. Immer wieder diese Rückschläge. Er muss seinen Beruf aufgeben. Wird vorzeitig berentet. Der Kampf mit der Depression nimmt viel Raum in seinem Leben ein. In einer Gesprächsgruppe hat er Halt gefunden. Eine ambulante Hilfe unterstützt ihn zuhause. Dann aber sagt er diese Worte, die ich nicht vergessen werde. Er sagt: „Manche machen einen Bogen um mich. Sie sehen nur den chronisch psychisch Kranken in mir. Das tut weh. Aber ich bin nicht meine Krankheit. Ich bin mehr als meine Krankheit.“ Dann erzählt er weiter. Er hat eine Aufgabe gefunden, die ihn jetzt ausfüllt und glücklich macht. Da er mit Holz gut umgehen kann und handwerklich begabt ist, repariert er Stühle und andere kleine Dinge in einem Kindergarten in der Nähe seiner Wohnung.

Die Mut-Tour radelt am nächsten Tag wieder weiter, in die nächste Stadt. Aber die Begegnungen bleiben. Eine schreibt sich eine Adresse von einer Selbsthilfegruppe auf. Der andere erzählt vielleicht zuhause am Mittagstisch seiner Familie von der Mut-Tour und der Initiative gegen Depression. Und daraus ergibt sich ein schönes Gespräch miteinander. Und in mir arbeitet dieser Satz weiter. „Ich bin nicht meine Krankheit, ich bin mehr als meine Krankheit.“ Er trotzt seiner Erkrankung Leben ab. Will nicht nur als Opfer von Umständen gesehen werden und sieht sich selbst nicht so. Er ist nicht geheilt im medizinischen Sinne. Aber heil geworden.

Auch Jesus und seine Jünger radeln mit ihrer Mut-Tour weiter durch Galiläa. Die Begegnungen bleiben. Hinterlassen Spuren, legen Samen. Machen heil. Auf zum nächsten Ort, sagt Jesus. Einen gnädigen Gott verkündigen, denen die zerschlagenen Herzens sind. Und Menschen zusammenbringen. Zeichen und Wunder geschehen lassen für mehr Menschlichkeit.
Amen.

 

Perikope
Datum 22.10.2017
Bibelbuch: Markus
Kapitel / Verse: 1,32-39