Mut zum Sein! - Predigt zu Johannes 15,26-16,4 von Klaus Pantle
15,26-16,4

Mut zum Sein!

Jesus spricht: Wenn aber der Beistand kommen wird, den ich euch senden werde vom Vater, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, der wird über mich Zeugnis ablegen.
Und auch ihr seid meine Zeugen, denn ihr seid von Anfang an bei mir gewesen.
Das habe ich zu euch geredet, damit ihr nicht strauchelt.
Man wird euch aus der Synagoge ausstoßen.
Es kommt aber die Zeit, dass, wer euch tötet, meinen wird, Gott damit einen Dienst zu leisten. Und das werden sie darum tun, weil sie weder meinen Vater noch mich erkennen.
Aber dies habe ich zu euch geredet, damit, wenn ihre Stunde kommen wird, ihr euch daran erinnert, dass ich's euch gesagt habe. Zu Anfang aber habe ich es euch nicht gesagt, denn ich war bei euch.


1
„Wir wissen, dass jeder von uns für sich krepiert, und wir gehen davon aus, dass die Welt sich auch ohne uns dreht. Aber vielleicht stimmt das gar nicht. Wenn jemand stirbt … vielleicht stirbt ja dann alles, jeder und alles und nur ein Nichts bleibt übrig, ein Hohlraum. (Oder Geister, Geister wären ein Trost).“ Das sagt die Bühnenfigur Barbara Fordham in Tracy Letts Theaterstück „August: Osage County. Eine Familie“. Der soeben beerdigte Vater war das geheime Zentrum der Familie und hatte sie zusammengehalten. Auf der Bühne wird nun vorgeführt, wie ein Sozialgefüge durch einen Tod buchstäblich auseinanderfliegen kann. Am Ende fragen sich die Hinterbliebenen: Was bleibt? Und was wird?

Genau dies hat der Verfasser des Johannesevangeliums im Blick: die Gefahr, dass nach Jesu Tod die noch junge Lebensgemeinschaft der ihm Nachfolgenden zerfallen könnte.  So lässt er Jesus wie eine Bühnenfigur vor seinem angekündigten Tod einen großen dramatischen Monolog halten, seine „Abschiedsrede“: „Wenn ich nicht mehr bei euch bin, bleibt ihr nicht allein. Ein anderer wird an meine Stelle treten: ‚der Beistand’, der zugleich ‚Tröster’ ist und ‚Geist der Wahrheit’. Der wird unter euch gegenwärtig sein, uns in Verbindung und euch in Bewegung und die Gemeinde am Leben halten.“

Aber die Fragen: Was bleibt? Und was wird? - die bleiben. Sie stellten und stellen sich nach Jesu Tod bis heute immer wieder neu. Wie zeigt er sich, dieser „Beistand“? Wie wirkt er, dieser „Tröster“? Wie kann es aussehen, ein Leben im „Geist der Wahrheit“?

2
Vielleicht kann uns der Autor Göran Rosenberg auf eine Spur bringen. Er erzählt folgende Begebenheit:
„Als wir an einem frühen Abend Anfang Mai das kahle Zimmer in jenem staatlich finanzierten, privat betriebenen und mit Gewinn arbeitenden Pflegeheim betreten, in dem mein Schwiegervater im Sterben liegt, sitzt dort ein junger Mann und hält ihm die Hand. Es handelt sich um ein provisorisches Pflegeheim für sehr alte und sehr hilflose Menschen, die alle nicht mehr lange zu leben haben… Jetzt dauert es nicht mehr lang, sagt er, sieht auf und lächelt zärtlich, er lächelt weniger uns an als vielmehr den sterbenden Mann im Bett. Erst als Schwiegermutter sie ihm vorsichtig abnimmt, läßt er die Hand los. …
Als alles vorüber ist und wir in den provisorischen Korridorverstecken eine Kerze gefunden und für ein wenig Andacht um das ruhige Bett gesorgt haben, als dann ein Arzt erscheint, um den Todesfall zu bestätigen, fällt mir der junge Mann ein, der Schwiegervater die Hand gehalten hat. Warum hat er das getan?“


Warum hat er das getan? Der junge Mann war dort Aushilfspfleger, von einer Leiharbeiterfirma für kurze Zeit und wenig Geld „ausgeliehen“ für bestimmte Handlangerdienste. Rosenberg erfuhr, dass der junge Mann sich mit seinem Schwiegervater zu dessen Lebzeiten öfter unterhalten hatte. Das war nicht einfach, da dieser schwerhörig und langsam im Begreifen war und nur Schwedisch sprach, was die wenigsten Aushilfskräfte dort gut konnten. Der Hilfspfleger, der aus Griechenland stammte, sprach gut Schwedisch. Er pflegte sich mit dem alten Mann zu unterhalten – er „kannte“ ihn also -, obwohl das nicht zu seinen Aufgaben zählte, obwohl er dafür nicht angestellt war und dafür auch nicht bezahlt wurde. Das löste in Rosenberg ein Nachdenken aus über die Frage, was Menschen zum Guten, was sie, selbst unter prekären Arbeits- und Lebensbedingungen, zum Menschlichsein antreibt - welcher „Geist“ das ist.

Das ist eine elementare Frage im Blick auf unser Zusammenleben in der Gegenwart: Wie können wir „menschlich“ miteinander umgehen und zusammen leben in einer Gesellschaft und in einer Welt, wo vor allem zählt, was wettbewerbsfähig ist, was sich rechnet und Profit abwirft? Dem nicht nur Stand zu halten, sondern dagegen zu halten und dabei weder in Resignation noch in hilflose Wut zu verfallen, ist nicht einfach.

Der „Geist der Wahrheit“ treibt uns zuerst zur Erkenntnis der Wahrheit über uns selbst. „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, sagt der Psalmist (Psalm 90,12). Ein Intellektueller wie Rosenberg denkt bei diesem Thema an Aristoteles. Der sagt, dass sich ein gutes Leben für den Menschen nur verwirklichen lässt, wenn er über sich nachdenkt, z.B. darüber, wie er lebt, und wenn er begreift, dass sich ein gutes Leben nur in guter Gemeinschaft mit anderen Menschen führen lässt. Das setzt voraus, dass man sich selbst mit seinen Trieben und Bedürfnissen beschränken und zurücknehmen kann. Der zweite, der Rosenberg in den Sinn kommt, ist der Philosoph David Hume. Der schreibt 2000 Jahre nach Aristoteles, dass das Erkennen unserer menschlichen Einsamkeit und Zerbrechlichkeit wie unserer menschlichen Zusammengehörigkeit bei uns Menschen eine „milde Gefühlsregung gegenüber anderen und eine großzügige Fürsorge für unsere Art und Gattung“ bewirken kann. Das sei letztlich die Quelle dessen, was Hume unter „Moral“ verstand und Aristoteles unter „Tugend“.
„Wissen um unsere menschliche Situation“, schreibt Rosenberg, „nennen wir mit einem gebräuchlichen Wort ‚Gewissen’.“ Gewissen – das ist das Wissen, das uns mit anderen Menschen verbindet und uns dazu bringt, Dinge zu tun, die wir nicht für uns selbst als Individuen tun, sondern für uns selbst als Mitglieder einer Generationen und Individuen überschreitenden Gemeinschaft.
Das setzt voraus, dass wir uns von einem Geist bewegen lassen, der in uns nicht nur Selbsterkenntnis, sondern auch Einfühlungsvermögen weckt, der unsere Fähigkeit und unsere Lust zur Kommunikation anregt, der uns teilhaben lässt an einem kollektiven Gedächtnis und der für die Übernahme langfristiger Verantwortung und Verpflichtungen mobilisiert. Das sind die Voraussetzungen dafür, dass diese Fähigkeiten entstehen, dass sie sich entwickeln und von uns an unsere Kinder und Kindeskinder weitergegeben werden können.

Beim Umgang mit Alten, Kranken und Schwachen jeglicher Couleur lässt sich wie unter einem Brennglas erkennen, wo die Konfliktpunkte zwischen einem von einem „weltlichen“ und von einem „christlichen“ Geist gesteuerten Verhalten liegen. Wenn Krankenhäuser und Pflegeheime primär dazu dienen, Profit zu erwirtschaften, wenn Versicherungen Pflegende dazu zwingen, nur die vertraglich festgelegten Handreichungen zu erledigen und nicht das, was notwendig und aus menschlichen Gründen naheliegend zu tun ist, dann widerspricht das radikal einem Leben im christlichen „Geist der Wahrheit“. In einem System, in dem „persönliche Beziehungen zu den Klienten etwas Verbotenes darstellen – etwas, das man verbirgt, unterdrückt, worüber man am liebsten nicht spricht -, werden verbotene Dienstleistungen außerhalb der bezahlten Arbeitszeit zu einer Art Protesthandlung“ – zu einer Protesthandlung aus dem „Geist der Wahrheit“.

3
Natürlich kann man in unserer Welt den Glauben an die Wirkmächtigkeit dieses Geistes verlieren. Die Kraft, daran festzuhalten, kann einem entschwinden. Kaum jemand, der bewusst wahrnimmt, was um uns herum geschieht, dürfte unberührt bleiben von öffentlich ausgestellter blanker Tötungslust und von Krieg und Terror als Mittel politischer Auseinandersetzung auf Kosten Unschuldiger. Und der Blick auf undurchschaubare wirtschaftliche Geflechte, die soziale Verwerfungen weiter vertiefen anstatt nach Ausgleich zu streben, kann einen in ein Gefühl der Ohnmacht stürzen.

Auch die Gemeinden, für die Johannes sein Evangelium schrieb, lebten im Gefühl des Ausgeliefertseins und eigener Machtlosigkeit. Was unsere Gemeinden von den Gemeinden damals allerdings grundlegend unterscheidet ist, dass wir heute – anders als Christinnen und Christen in manchen Regionen des Nahen Ostens und Afrikas - nicht wegen unseres Bekenntnisses zu Jesus verfolgt und getötet werden. Wir müssen nicht wegen unseres Glaubens unter Einsatz unseres Lebens mit Hilfe krimineller Schlepperbanden auf seeuntauglichen Booten aus unserer Heimat fliehen. Und schon gar nicht werden wir von der „Synagoge“, sprich von jüdischen Geistlichkeiten und Obrigkeiten bedroht, wie es im Johannesevangelium beklagt wird. Bereits wenige Jahrzehnte nach der Abfassung dieses Evangeliums hatte sich das Verhältnis zwischen Christen und Juden diametral verkehrt. Wobei gerade die Erinnerung an die Shoah, diesen finstersten Abgrund von menschlichem Handeln an Menschen und kalkulierter unterlassener Hilfe an ihnen, einem beim Blick auf die heutige Welt den Glauben rauben kann. Wenn die Menschheit nicht einmal daraus gelernt hat.

4
Manchmal, wenn ein Mensch tot ist, scheint wenigstens noch so etwas wie sein „Geist“ in der Gegend herumzuschwirren, meint die eingangs zitierte Bühnenfigur aus Tracy Letts Theaterstück. Tatsächlich weht der „Geist Jesu“, der Geist des Gekreuzigten (und Auferstandenen!) noch immer durch unsere Welt. Trotz aller Verwerfungen, inmitten aller Resignation, Verzweiflung und Wut ist er da als „Tröster“ inmitten von Trostlosigkeiten. Er ist da als „Beistand“ und „Geist der Wahrheit“. Er legt Zeugnis von ihm ab und hält das, was Jesus bewegte, wofür er arbeitete und litt, weiter im Gang und im Schwange. So vorläufig, so schwach oft und fragmentarisch wir das auch sehen, wahrnehmen und - wenn wir uns von diesem Geist bewegen lassen - leben können: Das Wunder war Jesu zärtliche Zuwendung zum Menschen, zum verletzlichen und verletzten Menschen, zum Individuum in seiner jeweils ganz persönlichen Situation – ohne Rücksicht auf seinen sozialen oder nationalen Status oder seine wie auch immer geartete personale Identität. Jesus handelt dabei ohne Rücksicht auf sich selbst. In seiner vorbehaltlosen Zuwendung inszeniert er eine „andere“ Welt, eine Gegenwelt, eine „wahre“ und gerechte Welt, in der der Geist Gottes wenigstens für Augenblicke die Herrschaft übernimmt und die Mächte des Todes nicht das letzte Wort haben.

Wir könnten die Augen schließen und uns auf uns selbst konzentrieren. Wir könnten uns aber auch berühren und anregen lassen, nicht nur zum Handeln, sondern auch zum Nachdenken und Träumen. Wie wollen wir leben? Wie wollen wir sterben? In was für einer Welt wollen wir unsere Enkel und Urenkel aufwachsen sehen? Der Blick auf Jesu Wirken, Reden und Handeln, der Blick auf Jesu Zärtlichkeit, gibt uns Anregungen genug für die Rückgewinnung scheinbar verloren gegangener Utopien über ein anderes Leben in einer anderen Welt als der unseren. Das könnte uns helfen, nach einer Gesellschaft zu suchen, die nicht auf allen Ebenen zur wirtschaftlichen Rentabilität versozialisiert ist. Das wäre eine Gesellschaft, in der man offen die Frage diskutiert, was das Leben eigentlich sein kann außer Arbeit und Konsum und wo und wie man neue Formen gesellschaftlichen Handelns entwickeln kann. Wie wäre es mit ein bisschen weniger Sicherheit und ein wenig mehr Spontaneität? Wie wäre es, mehr ungeprobte Ideen auszuprobieren – die Möglichkeit des Scheiterns inbegriffen?

Der Geist weht noch. Gott sei Dank. Er findet noch Zeuginnen und Zeugen. Er ist stark genug und manchmal ist er gerade „in den Schwachen mächtig“ (2. Korinther 12, 19).
„Dass sich der (christlich fundierte!) Humanismus trotz mächtiger intellektueller und gesellschaftlicher Widerstände jahrhundertelang halten konnte, hat damit zu tun, dass er ein wahrhafter Ausdruck unserer höchst unterschiedlich fühlenden Herzen ist, mit der Anleitung, die er mit seinen vielfältigen und widerstreitenden Versionen für eine erfüllte empfindende Existenz geben konnte. Die Suche nach einem sinnvollen Leben hat nichts Weiches an sich. In einer Gesellschaft, die überquillt von Theorien, die den Menschen verflachen, verkleinern und entmutigen, ist der Humanist (ist die Christin/der Christ) ein Dissident.“ (Leon Wieseltier)

Der „Beistand“, der „Geist der Wahrheit“ kann uns an der Utopie, die wir „Reich Gottes“ nennen, festhalten lassen – ohne dass wir unsere Resignation, Verzweiflung oder Wut  in der Gegenwart ignorieren, aber auch ohne darin stecken zu bleiben. Er gibt uns den Mut zum Sein, wie es uns von Gott zugesagt ist. Und er erfüllt uns mit der Kraft, unsere Resignation, unsere Verzweiflung oder unsere Wut in unseren Mut hineinzunehmen. Der Geist gibt uns die Kraft und den Mut, die Zärtlichkeit Jesu, die die Zärtlichkeit Gottes ist, weiterzuleben und weiterzutragen. Soweit wir das eben können mit unseren beschränkten Mitteln und Kräften. Vielleicht manchmal auch nur zitternd und zögernd einfach weiter in der Hoffnung, dass nichts so bleiben muss, wie es ist.


Literatur:
„August: Osage County. Eine Familie“ von Tracy Letts, Programmheft Nr. 15, Spielzeit 2014/15, Schauspiel Stuttgart
Göran Rosenberg, Gefühl und Kalkül. Warum wir tun, was wir tun – Zuwendung zwischen Gewinnstreben und Moral, in: Lettre International Nr. 70, 3/2005, S. 112ff.
Leon Wieseltier, Bei den Verstörten. Alles messbar und profitabel, Information und Wissen, Mensch und Maschine werden eins. Gegen diese Horrorvision hilft nur Widerstand – im Namen des Humanismus, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.01.2015, S. 12

 

Perikope
17.05.2015
15,26-16,4