Nach dem Ende
"Ihr sollt vor allem wissen, dass in den letzten Tagen Spötter kommen werden, die ihren Spott treiben, ihren eigenen Begierden nachgehen und sagen: Wo bleibt die Verheißung seines Kommens? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es von Anfang der Schöpfung gewesen ist. Denn sie wollen nichts davon wissen, dass der Himmel vorzeiten auch war, dazu die Erde, die aus Wasser und durch Wasser Bestand hatte durch Gottes Wort; dennoch wurde damals die Welt dadurch in der Sintflut vernichtet. So werden auch der Himmel, der jetzt ist, und die Erde durch dasselbe Wort aufgespart für das Feuer, bewahrt für den Tag des Gerichts und der Verdammnis der gottlosen Menschen.
Eins aber sei euch nicht verborgen, ihr Lieben, dass ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag. Der Herr verzögert nicht die Verheißung, wie es einige für eine Verzögerung halten; sondern er hat Geduld mit euch und will nicht, dass jemand verloren werde, sondern dass jedermann zur Buße finde. Es wird aber des Herrn Tag kommen wie ein Dieb; dann werden die Himmel zergehen mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden ihr Urteil finden. Wenn nun das alles so zergehen wird, wie müsst ihr dann dastehen in heiligem Wandel und frommem Wesen, die ihr das Kommen des Tages Gottes erwartet und erstrebt, an dem die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen werden.
Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt."
1. Das Ende
Jeder, der im vergangenen Kirchenjahr einen nahen Menschen durch den Tod verloren hat, kennt sie, die „Spötter“. Das sind die, die einem nach der Beerdigung sagen: „Kopf hoch! Das Leben geht weiter.“ Meist ist das gut gemeint, und die Spötter würden sich selbst nie als solche bezeichnen. Was sie nicht begreifen oder begreifen wollen ist: Das Leben geht gerade nicht weiter. Jeder Tod eines vertrauten Menschen gleicht einem Weltuntergang. Unter jedem Grabstein, den wir setzen, liegt ein Kosmos begraben, und dieser Kosmos ist ein für alle Mal untergegangen. Es ist nicht nur der Verstorbene in seiner einzigartigen Individualität, der endgültig dahin ist. Und es ist nicht nur seine Welt, die untergegangen ist. Mit sich hat er auch unsere Welt, so wie sie war, mit ins Grab genommen. Unsere alte, miteinander geteilte Welt ist nicht mehr. Nichts ist mehr wie es war.
Weltuntergänge gibt es nicht nur am Ende aller Zeiten. Es gibt sie jetzt, hier, mitten unter uns. Wir erfahren sie, werden in sie hineingezogen und mit in den Abgrund gerissen. Die Spötter, die uns sagen: „Das Leben geht weiter“, mögen mit ihrer Rede unbewusst ihr Unbehagen zum Ausdruck bringen, sich der radikalen Weltuntergangserfahrung derjenigen, die einen nahen Menschen verloren haben, zu stellen. Auch kann die Angst mitspielen, sich auf den Trauernden und seine Gefühle einzulassen und dabei mit in die Tiefe gezogen zu werden. Dazu kommt, dass man bei jedem Tod eines vertrauten Menschen brutal mit seiner eigenen Vergänglichkeit konfrontiert wird und nicht jeder möchte sich dem aussetzen.
Allerdings gibt es nicht nur individuelle sondern auch kollektive Weltuntergangserfahrungen. Weltuntergänge können hereinplatzen mitten in unsere scheinbar sichere Gegenwart. Feuer und Wasser können ganze Welten unwiederbringlich zerstören. Vor genau einem Jahr erfasste der Taifun Haiyan die philippinischen Visayas-Inseln und tötete mindestens 6166 Menschen, während 28.626 verletzt und 1785 als vermisst gemeldet wurden. 3,9 Millionen verloren ihre Wohnung. Vom „apokalyptischen Super-Taifun“ war in der Presse die Rede, vom „Monstersturm“, vom „Ende der Welt“. Die Welt der dortigen Menschen ist tatsächlich untergegangen. Nichts ist mehr wie es war. Die meisten Überlebenden hausen noch immer in Evakuierungszentren und Notunterkünften. Und nichts wird mehr, wie es war.
Das Leben geht nicht einfach weiter, wenn die individuelle oder kollektive Welt untergegangen ist. Aber das heißt nicht, dass es kein Leben nach solchen Weltuntergängen gäbe. Nur was dem Ende folgt, ist unwissbar und unsagbar.
2. Nach dem Ende
Die Menschen, die den Taifun Haiyan überlebt haben, vor allem diejenigen, die Angehörige verloren haben, könnten niemals vollständig erklären, was sie wirklich erlebt haben. Wenn sie danach gefragt werden, schweigen viele nur oder blicken ausdruckslos vor sich hin. Was viele aber klar sagen, ist, dass es ein „Danach“ geben soll, ein neues Leben, wie unsicher es auch immer sein mag. Dass es eine Zeit und eine Welt geben soll, in der man „danach“ leben kann.
Wer einen nahen Menschen verloren hat, kennt die Phasen, in denen die Sehnsucht, dem Verstorbenen in den Tod zu folgen und dort wieder mit ihm vereint zu sein, stark ist. Man durchlebt Zeiten, in denen man sich wie gelähmt fühlt und meint, keine Kraft mehr zu haben, um alleine weiter zu leben. In anderen Phasen vermag sich der Lebenswillen wieder in der Vordergrund zu schieben und auch der Blick nach vorne, aber es kann über lange Zeiten ein Schwanken bleiben zwischen Todessehnsucht und Lebenstrieb. „Das Leben will sich erhalten, aber es will auch untergehen...“ (Gottfried Benn). Und das nicht einmal unbedingt jetzt und dann, sondern gelegentlich gleichzeitig, ineinander und durcheinander, im Wirrwarr der Gefühle und Empfindungen während ein und desselben Augenblicks.
Es gibt ein Leben nach der Apokalypse, auch wenn die Menschen, die den Taifun Haiyan überlebt haben, nicht wissen, ob und wann sie ein nächster trifft. Und es gibt ein Leben nach dem Tod eines vertrauten Menschen, auch wenn ich weiß, dass weitere Menschen aus meinem Lebensumfeld sterben werden und auch mich der Tod eines Tages treffen und auch mein irdisches Leben vergehen wird. Aber bis dahin gibt es die Zeit, die bleibt. Um diese Zeit, die bleibt, geht es dem Verfasser des 2. Petrusbriefes. Niemand weiß zu sagen, wie lange sie dauert. Alle Spekulationen darüber sind müßig. Alleine der Herr, so sagt er, ist Herr über die Zeiten und Herr über alle Welten und damit auch über ihr und unser Ende. Und der Herr ist „geduldig“. Wir können die Kalender beiseite legen.
„Wo war Gott, als mein Partner/meine Partnerin, meine Mutter/mein Vater, mein Freund/meine Freundin starb?“ Das Verlassenheitsgefühl dabei kann grenzenlos sein. „Wo war Gott, als Haiyan kam?“ Viele Gläubige haben diese Frage auf den Visayas-Inseln so gestellt. „Wenn kein Gott da ist, wer ist dann da?“ Die Gemeinden versammelten sich bald wieder in ihren kalten, dachlosen Kapellen, warteten in der Dunkelheit mit flackernden Kerzen oder Taschenlampen, oft auch im Regen. Daniel Franklin Pilario, ein Theologie-Professor, der dort einem Gemeindepfarrer nach der Katastrophe über die darauf fodenden Weihnachtstage aushalf, erzählt: „Man konnte noch ihre Ängste und ihr Leiden in ihren trauervollen Blicken spüren. Aber sie gingen nicht weg. Sie fuhren fort mit ihren Gebeten und Liedern. Der Gott der Solidarität mit ihnen war nahe, und ganz besonders im Augenblick des Schmerzes und Verlusts. Liebe und Solidarität ... erinnern nicht nur an das Gelungene, sondern auch an das Zerstörte, nicht nur an das Verwirklichte, sondern auch das Verlorene.“ Liebe und Solidarität wenden sich so gegen die Sieghaftigkeit des Gewordenen und Gegenwärtigen.
Es gibt eine Zeit, die bleibt. Der Herr hat „Geduld“. Er ist nicht nur da, sondern öffnet auch neue Zeiten und Räume. Man kann darin sein Schicksal noch mitbestimmen. Die Zeit, die bleibt, kann heilsam und gefährlich zugleich sein. Es geht darum, die in ihr geschenkten Möglichkeiten wahrzunehmen und sie nach Vermögen zu nutzen.
3. Das Wagnis des Glaubens
Wir haben mehrere Leben. Wir leben in mehreren Welten. Und wenn eine Welt untergeht, kann auch eine neue aufgehen. Im realen Leben geschieht das nicht wie in den mythischen apokalyptischen Vorstellungen nacheinander sondern gleichzeitig ineinander und durcheinander. Der jüdische Religionsphilosoph Jacob Taubes sagte einmal: „Sie müssen schon entschuldigen, aber in einer Welt kann ich nicht leben.“ Das müssen wir Gott sei Dank auch nicht! Wir leben schon jetzt in mehreren Welten. Und einen „neuen Himmel“ und eine „neue Erde“ können wir immer erhoffen und erwarten. Das Harte an den Untergangserfahrungen bleibt, die Wunde der Erfahrung des Todes mag vernarben. Ein Schmerz bleibt immer zurück. Wenn es gut geht, tut er mit der Zeit nicht mehr so weh und blockiert das Neue nicht, sondern lässt es zu, lässt Gegenerfahrungen in Gegenwelten zu, die lösen und erlösen. In der Zeit, die bleibt, können wir leben im Glauben zwischen Erfahrungen von Glück und Spuren des neuen Himmels und der neuen Erde. Wir können leben mit den Wunden unserer durchlebten Katastrophenerfahrungen wie auch mit immer wieder neuen Katastrophendrohungen.
Wir Menschen, zumal wir Glaubenden, können Kräfte erfahren und entwickeln, die überraschend sind. Die zerbrechliche, aber trotzige Hoffnung zeigte sich auf den Philippinen in der Kraft, in der Welt danach weiterzuleben, und das mit erstaunlicher Kreativität und Humor. „Ein Brett an einem Baum vor den Überresten einer kleinen Hütte kündigt den Hilfsmannschaften an: ‚Wir brauchen Haus und Grund, einen Wagen, einen Swimmingpool!’“ Humor kann Zeichen sein für äußersten Überlebenswillen, ebenso wie Phantasie. Ein bisschen Sperrholz und ein Metallring, aus dem Schutt gezogen, ergaben einen behelfsmäßigen Basketballplatz, damit die Kinder wieder spielen konnten. Ein alter Kühlschrank ersetzte ein verlorenes Boot, um wieder fischen gehen zu können. Ein Friseur in einem kleinen Ort begann wieder mit dem Haareschneiden in seinem Laden ohne Dach. Er sagte, auch wenn es noch keine Häuser gäbe und nur spärlich Nahrungsmittel einträfen, sollten die Leute doch wenigstens gut und gepflegt aussehen. Eine Gruppe von Müttern begann, gemeinsam kommunale Anlagen zu bepflanzen. Als nach ein paar Wochen die Pflanzen zu spießen begannen, dienten sie als Fanal der Hoffnung, das alle sehen konnten.
Gemeinsam gelingt das leichter als alleine. Auch bei uns leben Trauernde in der Zeit, die bleibt, von der Hilfe und Solidarität anderer Menschen, von ihrer Nähe dann, wenn sie diese Nähe brauchen und zulassen können.
Der Verfasser des 2. Petrusbriefes reißt in seiner Vision die innerweltliche Perspektive auf. Für ihn ist die innerweltliche Heils- und Unheilsgeschichte gerahmt und aufgesprengt durch Vorstellungen vom totalen Ende und der totalen Verwandlung der Welt. Dabei wird das Neue nicht ausgemalt. Nur eines ist für ihn gesetzt für die neue Welt: Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist das Identitätsmerkmal der neuen Welt dann und soll es auch sein in den neuen Welten jetzt und hier in der Zeit, die bleibt. Das gilt es festzuhalten: Kriege, Finanzkatastrophen und Weltarmut, die ganze Gesellschaften in den Abgrund reißen, sind keine Tsunamis, denen man hilflos ausliefert ist. Sie sind menschengemacht. Von Menschen verursachte Weltuntergänge fallen unter das göttliche Gericht und sollen in der Zeit, die bleibt, zumindest so gut es geht verhindert werden.
Vielleicht kann uns durch alles und durch alle Zeiten und Räume und darüber hinaus ein letzter Trost tragen. In der Zeit, die uns bleibt, können wir lieben und scheitern, kämpfen und unterliegen, weil wir darin Gott ähnlich werden. Geborgenheit und Ungesichertheit der menschlichen Existenz müssen wir aushalten. Aushalten können wir das im Blick auf unseren Herrn Jesus Christus. Denn Jesus ist für Glaubende der Mensch, der „in den Untergang hineingegangen und durch ihn hindurchgegangen ist. In der Menschwerdung, im Weg zum Kreuz und in Höllen- und Himmelfahrt hat Jesus Christus nach dem Glauben der Christen alle Stadien durchschritten die Menschen überhaupt bevorstehen können. Leben ‚in Christo’ heißt, in diese Erfahrungen und Erwartungen mit hineingerissen und dabei nicht allein zu sein“ (Gerhard Marcel Martin). Darauf können wir vertrauen.
Literatur:
Daniel Franklin Pilario, Nach dem Ende. (Post-)Apokalyptische Reflexionen vom „Ground Zero“, in: Die Wiederkehr des apokalyptischen Bewusstseins, Concilium, 50./2014.3, S. 325.326.
Gerhard Marcel Martin, Weltuntergang. Gefahr und Sinn apokalyptischer Visionen, Stuttgart 1984, S. 140