Nachstolpern in der Spur Jesu - Predigt zu Philipper 3,7-14 von Axel Denecke
3,7-14

1.
Wie schön, liebe Gemeinde, dass der heutige Predigttext aus zwei ganz unterschiedlichen Teilen besteht:

Einem ersten Teil, wo einem Angst und Bange werden kann, wo man am liebsten die Bibel gleich wieder zuklappt und sich fragt: Was hat den guten Paulus da bloß geritten?

Und einem zweiten Teil, wo man mit Freuden zustimmen kann, sich selbst und auch anderen sagt: Ja, wenn es so ist, dann bin ich auch heute noch dabei, bin ganz eins mit Paulus.

Wie schön also, dass auf den martialischen ersten Teil der versöhnliche zweite Teil noch folgt.

Doch hören wir erst einmal den ganzen Predigttext, ehe ich mich dann den zwei so unterschiedlichen Teilen zuwende und am Ende auch frage, ob die wohl doch etwas miteinander zu tun haben.

(Lesung von Phil 3,7-14)

 

2.
Ich bin mir natürlich nicht so ganz sicher, ob es Ihnen beim Hören des langen Textes auch so ging wie mir beim Lesen. Ob sie nach den ersten martialischen ersten Sätzen des Paulus bereits abgeschaltet haben oder auch nur den Kopf geschüttelt haben, ob Sie dann die letzten Sätze des Paulus „Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe“ überhaupt noch aufgenommen haben und etwas versöhnt sagen konnten: „Ach, wenn er’s so meint, dann mag es ja angehen“? Mir jedenfalls ging es so, und ich möchte es Ihnen gern erklären.

Ich habe den ersten Teil unseres Textes „martialisch“ genannt. Denn Paulus geht hier recht rigoros vor, rechnet unerbittlich mit seinem bisherigen Leben – ohne Christus – ab, erachtet sein Leben für einen „Schaden“, ja für „Dreck“, das zu nichts taugt. Sein ganzes Leben war sinn- und zwecklos, bis er Christus entdeckt hat.

Kannst es wegwerfen, taugt nichts, auf den Müll damit. Wie kann man nur so reden? So entschieden und unerbittlich mit sich selbst. Ein Leben ohne Christus ist Müll und Dreck und völlig sinnlos. Kann man das so einfach sagen?

Soll ich das all denen heute sagen, die mich nach meinem christlichen Gauben fragen, die sich da langsam herantasten wollen an ihn? Soll ich Ihnen sagen: So wie ihr bisher – ohne Christus – gelebt habt, das war kein Leben, das war alles nur Einbildung, Hokuspokus, auf den Müll damit? Das geht doch nicht. Das ist doch lieblos, herzlos, menschenverachtend. Oder?

Und dann geht der gute Paulus auch noch weiter und knebelt sich noch mehr. Er will mit Christus gleichgestaltet werden, wie er es nennt, will in die „Gemeinschaft der Leiden Christi“ aufgenommen werden, „so seinem Tode gleichgestaltet werden“. So als würde er masochistisch darauf pochen, wie Christus leiden und sterben zu dürfen, damit er dadurch den „Gewinn der Auferstehung“ davon trägt.

Was für ein Lebensprojekt. Kann, ja darf ich das uns heutigen Menschen wirklich weiter empfehlen? Oder soll ich nicht einfach sagen: So bitte nicht! Gott verlangt nicht von mir, dass ich so mit dem Leiden und Sterben Christus gleich werde, nur um dann den „Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes“ zu empfangen. So nicht! Unser christlicher Glaube ist doch keine masochistische Selbstkasteiung. Das kann ich doch keinem von uns zumuten und auch noch aufnötigen? Oder?

Ich muss nicht besonders daran erinnern, dass dies grausame Verständnis des christlichen Glaubens viele Menschen gerade dazu gebracht hat, sich von diesem Gott und diesem Christentum enttäuscht oder auch entrüstet abzuwenden. Der Pastorensohn Friedrich Nietzsche – um nur den prominentesten zu nennen – hat es wohl am eigenen Leibe in seinem Elterhaus so erfahren und hat unerbittlich seine Konsequenz daraus gezogen: Nichts mehr mit Gott und Glauben und Kreuz und Leiden und Todesmasochismus. Und viele, die nicht so klug wie Nietzsche sind, sondern ganz einfach ihren gesunden Menschenverstand einsetzen, haben das Gleiche getan.

Warum also mutet Paulus uns das alles so zu? Ist das wirklich der Kern unseres christlichen Glaubens? Hat denn Jesus selbst so gelebt?

Der Jesus, den wir aus den Evangelien kennen, aus der Bergpredigt, aus den Gleichnissen, aus seinen Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen, Sündern und Gerechten, hochgebildeten Schriftgelehrten und einfachen Leuten vom Lande, Kindern, Frauen, einfachen Fischern und Zollbeamten. Er hat die Welt auch positiv gestaltet, Gottes gute Schöpfung gelobt, mit Freunden gefeiert, gegessen, getrunken, voll das Leben geliebt und geschätzt und war nicht nur auf Leiden und Sterben aus? Hat nicht alles für „Schaden“ und „Dreck“ gehalten. Warum also so?

Ich sage also zunächst entschieden „Nein“ zu diesem Lebenswurf des Paulus und scheue mich auch nicht, das laut und öffentlich zu sagen.

3.
Doch dann hilft mir zum Glück der ganz anders geartete zweite Teil unseres Predigttextes weiter. Da tritt auf einmal ein ganz anderer Paulus auf: Bescheiden, zurückhaltend, ja einfach sympathisch. Er gibt frank und frei zu: „Nicht, dass ich das alles schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei, ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich vom Christus Jesus ergriffen bin. Meine Brüder [und Schwestern], ich schätze mich selbst noch nicht so ein, dass ich das alles schon ergriffen habe“.

Na wunderbar, wie ehrlich Paulus hier ist und wie realistisch er sich selbst einschätzt.

Er hat wohl selbst gemerkt, dass er vorher arg große Worte gemacht hat, die er selbst in seinem Leben (noch) nicht einlösen kann. Er tritt einen Schritt zurück, betrachtet sich selbst und sagt zu sich: „Na ja, gut gebrüllt Löwe, wirklich gut gebrüllt. Aber etwas zu laut und zu martialisch. Ich muss bescheiden sein und ehrlich zugeben: So weit, wie ich da gerade lauthals getönt habe, bin ich noch nicht“. So ungefähr, stelle ich mir vor, hat Paulus zu sich selbst geredet.

Das gefällt mir und so wird er mir sympathisch. Er rückt mir näher. Er ist auch noch nicht weiter als ich selbst in meinem Glauben bin. Und ich kann dem ohne Einschränkung zustimmen.

All die großen Worte über Christus, mit ihm gleichgestaltet zu werden und so weiter, all das kann ich bei mir (noch) nicht einlösen. Und ich danke Dir, lieber Paulus, dass Du das auch ganz offen und ehrlich zugibst. Das erleichtert mich. Da bin ich also mit meinem arg mittelmäßigen Glauben gar nicht so weit von Dir entfernt. Wir treffen uns da, wo wir uns beide sagen: Auf dem Wege sind wir, noch nicht am Ziel. Wir haben Christi Lebensstil zwar vor Augen, er ist unsere innere Orientierungsmarge, er zeigt uns den Weg, aber wir sind noch weit davon entfernt, ihn und seinen Lebensstil wirklich ergriffen zu haben. Er ist uns noch meilenweit voraus. Und das ist auch gut so. So können wir seinem Lebensstil immer „weiter nachjagen“, wie Paulus an dieser Stelle wieder etwas martialisch sagt.

Ich würde eher sagen: So können wir seinem Lebensstil nacheifern, nachfolgen, nachstolpern, nachhinken so gut wir es halt können.

Und warum tun wir es? Warum orientieren wir uns an Jesus? Warum versuchen wir ihm nachzufolgen? Als Christen in seinen Spuren zu wandeln – warum?

Da sagt Paulus den alles entscheidenden Satz: „Weil ich von Christus Jesus ergriffen bin“. Christus hat ihn ergriffen und er kommt nicht mehr von ihm los. Geht einfach nicht. Er ist in den Einflussbereich Christi geraten und nun bestimmt dieser sein ganzes Leben. An anderer Stelle sagt Paulus ganz zugespitzt: „Nun lebe nicht ehr ich, sondern Christus lebt in mir“. Auch wieder ein so großes Wort, aber es macht deutlich, dass er von Jesus Christus so beeindruckt, ja fasziniert ist, dass dieser sein ganzes Leben neu bestimmt.

Ich selbst würde es vielleicht etwas anders ausdrücken, aber in der Tendenz würde ich es auch so sagen wie Paulus.

Ich sage es so: „Der ganze Lebensstil Jesu, so wie er mit Menschen umgegangen ist, wie er seine Gleichnisse vom Himmelreich erzählte, wie er gerade für jeden Menschen das rechte Wort gefunden hat, das zu ihm passt, wie er den Pharisäern zum Pharisäer wurde, den Zöllnern zum Zöllner, den Kindern zum Kinderfreund, wie er Liebe übte wo man sich hasste, wie er zu Petrus sagte: „Stecke dein Schwert in die Scheide, denen wir zum Schwert greift, wird vom Schwert umkommen“, wie er am Kreuz zum dem einen neben ihm sagt: „Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein“, wie er für alle Menschen, die ihn gekreuzigt haben, betete: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“, wie er in seinem ganzen Leben ein ungebrochenes Vertrauen auf Gott, den er seinen Vater nannte, unseren Vater, uns vorlebte, wie er uns zeigte, wie wahres Leben wirklich  aussieht – das alles hat mich „ergriffen“, davon komme ich nicht los, davon will ich auch nicht loskommen und diesen Gott vertrauenden Lebensstil will ich auch zu meinem eigenen machen, so gut ich kann.“

Ja, so würde ich es sagen und dann wie Paulus hinzufügen: „Nicht, dass ich das alles schon ergriffen hätte. Das sei ferne. Ich bin noch meilenweit davon entfernt. Aber ich jage ihm nach, ich pilgere, stolpere ihm nach, so gut ich kann.

Und ich vertraue darauf: Gott hilft mir immer wieder auf die Beine, wenn ich falle. Er richtet mich auf, damit ich weiterstolpern kann auf diesem Weg, um Jesu Lebensstil nachzufolgen“. Und warum das alles? Weil ich von Jesu Lebensstil ergriffen bin, weil ich davon nicht mehr loskomme. Er ist hinter mir und stützt mich. Er ist vor mir und zeigt mir das Ziel.

Dabei will ich ganz ehrlich sein, so ehrlich wie Paulus an dieser Stelle war. Ob ich den Schlusssatz von Paulus nachsprechen kann, das weiß ich nicht. Ich glaube es nicht.

Paulus beendet ja seinen Eloge wie folgt: „Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist […] dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Jesus Christus“.

Nein, das kann und möchte ich nicht sagen. Hier ist mir Paulus wieder zu martialisch und verbissen. Ich will nicht vergessen, was hinter mir liegt. Ich will es achten und ehren, auch daraus lernen, will mich aber von meiner Vergangenheit nicht abschneiden. Sie ist ein Teil von mir und sie zu leugnen, das macht mich kleiner als ich bin.

Paulus ist da anders – nun gut, das ist seine Lebensweise. Jeder von uns ist anders und muss seinen ganz eigenen Lebensweg gehen. Paulus geht seinen und ich orientiere mich durchaus daran, übernehme das eine, übergehe das andere.

Ich gehe meinen, jeder von uns geht seinen ganz eigenen, wenn er denn nur ehrlich ist, wenn er – auf welche Weise auch immer – von Christus ergriffen ist, der ihm den Weg weist.

Und es gibt ja zum Glück so viele Wege, so unendlich viele, um zum Ziel des Lebens zu kommen, um zu Gott zu kommen, um zu sich selbst zu kommen. Und jeder von uns hat seinen ganz eigenen, ja einzigartigen Weg, der unvergleichbar ist mit dem Weg des anderen. Und das ist gut so.

4.
Nun zum Schluss: Passen am Ende die so ganz unterschiedlichen zwei Teile unseres Predigttextes zusammen?

Sie passen nicht zusammen und sie passen doch zusammen,

Sie passen nicht zusammen: Denn der aufgeregt martialische und großspurige erste Teil und der eher bescheidene und ehrliche zweite Teil schließen sich aus. Mit den übergroßen Worten des ersten Teils ist in unserer Kirche oft dogmatisch Schindluder getrieben worden. Und das hat mit dazu geführt, dass Nietzsche und viele andere, die durchaus guten Willens sind, sich vom Glauben und Gott enttäuscht oder sogar angewidert abgewendet haben. Starr und dogmatisch versteift, wie solche Worte mit finsterer Miene oft daher kommen. Wir leiden alle noch an den Folgen solch übergroßer und unmenschlicher Worte. Die Kirche und jeder einzelne Gläubige sollte den Mund nicht so voll nehmen. Dabei kann man sich nur verschlucken und am Ende blamiert dastehen. „Nicht dass ich das alles schon ergriffen hätte“ ist das ehrliche Eingeständnis eines jeden Christen an dieser Stelle. Und vielleicht würde das auch ein Nietzsche oder ein anderer Zweifelnder oder Abtrünniger verstehen.

Also, ein klares „Nein“ zum ersten Teil, es bleibt dabei und ein klares „Ja“ zum zweiten Teil. Beide Teile passen nicht zusammen.

Und sie passen doch zusammen: Denn beides rumort ja in Paulus selbst. Paulus ist beides: er ist martialisch, fordert fast unmenschlich viel von sich, schwingt sich in übergroße Höhen, als Fanatiker, der er Zeit seines Lebens war.

Und er ist gleichzeitig bescheiden und ehrlich und gibt zu: Ich packe es noch nicht. Ich habe es noch nicht ergriffen. Es ist noch viel zu groß für mich.

Beides ist in Paulus. Er ist „martialisch“ und „bescheiden“, hochmütig und demütig zugleich.

Und das gilt wohl auch für uns. Ein jeder von uns ist auf ganz eigene Weise hochmütig und demütig zugleich. Jeder hat seine „martialischen“ und „bescheidenen“ Seiten. Das sollten wir einfach zugeben. Der Mensch ist ein sehr zwiespältiges, oft auch widersprüchliches Wesen. Doch so ist er nun mal von Gott gemacht, mit allen den guten und schlechten Eigenschaften, die jeder hat.

Und gut, nein sehr gut, am Ende getrost, erleichtert und auch erlöst sagen zu können: Sei es, wie es sei. Nicht dass ich all das Große des Glaubens schon ergriffen hätte, ich jage, nein, ich stolpere ihm aber nach, weil ich nicht anders kann, weil ich ergriffen bin vom dem, der mich ergriffen hat: Von Jesus Christus, vom Lebensstil Jesu, dieses einfachen jüdischen Menschen, der vor 2000 Jahre in Galiläa lebte und heute noch überall lebt, wo man ihm nachfolgt, nachpilgert, nachstolpert.

 

Perikope
24.07.2016
3,7-14