"Namentlich erwähnt" - Predigt über Jesaja 43,1-7 von Wolfgang Vögele
43,1

"Namentlich erwähnt" - Predigt über Jesaja 43,1-7 von Wolfgang Vögele

Namentlich erwähnt
Der Predigttext für den 6.Sonntag nach Trinitatis steht bei Jes 43,1-7:
„Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, dennich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. Denn ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Ich habe Ägypten für dich als Lösegeld gegeben, Kusch und Seba an deiner statt, weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe. Ich gebe Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben. So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.“
Liebe Gemeinde,
belebte Fußgängerzone, grauer, tief hängender Himmel, ein unscheinbarer Sommertag, bisher ohne besondere Vorkommnisse. Dann begegnen sich flüchtig die Blicke zweier Passanten. Männer um die Vierzig. Sie begegnen sich an der Kreuzung von Kant- und Rathausstraße, gegenüber der Stadtkirche mit dem Lutherdenkmal. Der Blick des einen bleibt hängen, denn das Gesicht erinnert ihn an jemanden, den er einmal, ganz früher, in der Schule oder anderswo gekannt hat. Er schickt einen zweiten, forschenden Blick hinterher, und nun hat er die Aufmerksamkeit des anderen geweckt. Der blickt unverwandt zurück. Beide gehen sie nur nur zögerlich auseinander, aneinander gekettet durch die Blicke des halben Wiedererkennens.
  - Sollten wir uns kennen?
  Nun hat der eine Passant das Gespräch begonnen.
  - Ich meine, ich hätte Sie schon einmal gesehen.
  - Das kann schon sein, antwortet der andere.
  - Goethe-Gymnasium? Abitur im Jahr 1988?
  - Ja, ich habe das Goethe-Gymnasium besucht. Abitur habe ich erst 1990 gemacht. Dort könnten wir uns begegnet sein.
  - Wie heißen Sie? Peter Maier? Der Bruder von Marianne Maier?
  - Ja natürlich, wie ich mich daran nicht mehr erinnern konnte. Wir haben doch gemeinsam den Tanzkurs und das Handballtraining besucht. Irgendwann haben Sie sich das Bein gebrochen beim Handball.
  - Ja, aber bleiben wir beim Du, wenn wir uns schon so lange kennen.
Die beiden Passanten gehen in ein gemütliches Café und tauschen Erinnerungen und Adressen aus. Eine Schülerfreundschaft hat sich nach Jahrzehnten wiederbelebt. Jemand, der in der Erinnerung nur noch schattenhaft als halb vergessener Name gespeichert war, ist plötzlich wieder zur lebendigen Person geworden, die sich über die Jahre verändert hat. Die vorher unbekannten Passanten haben ihre Freundschaft erneuert, und nun teilen sie wieder eine gemeinsame Geschichte.  Die Namen haben die Erinnerung angefeuert. Bei Jesaja erinnert Gott selbst an die Namen. Gott kann keinen Namen und keine Person vergessen.
Aus dem wieder erkannten Gesicht ist ein erinnerter Name geworden. Und der Name hat sich in eine Geschichte verwandelt. Hinter dem Namen steht eine Lebensgeschichte, die erzählt werden will, zuerst im Café bei einem Espresso, später am Kamin im Wohnzimmer bei einer Flasche Wein. Lassen wir die beiden alten Schulkameraden nun allein mit ihren Geschichten. Mir kommt es, liebe Gemeinde, auf das Wiedererkennen, und auf den Namen an. Viele Menschen erkennen in der Menge der Passanten in der Fußgängerzone gelegentlich Gesichter wieder. Aber oft können sie mit diesen Gesichtern keine Namen mehr verbinden. Die meisten Menschen haben ein schlechtes Namensgedächtnis. Und es ist ihnen peinlich, wenn sie dabei ertappt werden. Man kann sich ja mit allerlei Hilfskonstruktionen behelfen, um sein Gegenüber gerade nicht mit Namen ansprechen zu müssen. Aber irgendwann ist es meist vorbei, und der ertappte Gesprächspartner mit dem schlechten Gedächtnis muß dann sagen: Jetzt müssen Sie mir aber noch einmal aushelfen. Ich erinnere mich sehr gut an Ihr Gesicht. Ich weiß, daß ich Sie kenne, aber ich habe gerade Schwierigkeiten, mich an ihren Namen zu erinnern.
Die meisten Menschen haben großes Verständnis, wenn andere, die sie nur flüchtig kennen, ihren Namen nicht erinnern. Bei engen Verwandten ist das anders. Stellen Sie sich vor, liebe Gemeinde, der ältere Sohn kommt mit seinen beiden Kindern in das Pflegeheim, in dem seine Mutter lebt. Die beiden kleinen Söhne freuen sich auf den Besuch, denn sie haben ihre Großmutter gern. Aber als sie das Zimmer betreten, regt sich die alte Dame auf: Warum stört ihr mich bei meinem Mittagsschlaf? Ich will meine Ruhe haben, ruft sie zornig. Sie ist schon seit einigen Jahren dement. Plötzlich ist nun der Zeitpunkt gekommen, an dem sie weder den Sohn noch die Enkel wieder erkennt. Die beiden kleinen Jungen sind verstört, sie hatten ganz anderes erwartet. Der Sohn ist erschrocken, doch er kann die Mutter beruhigen. Er zeigt auf das Foto, das über dem Bett hängt: Da sieht du uns. Da stehst du. Das daneben bin ich. Und Deine Schwiegertochter steht hinter den beiden Jungen. Da erinnert sich die alte Dame noch einmal. Von da an redet sie die beiden Kinder wieder mit ihren Vornamen an. An den Namen des Sohnes scheint sie sich nicht zu erinnern. Der Besuch dauert zwei Stunden. Sie unternehmen einen Spaziergang und kaufen sich bei einem Italiener ein Eis. Auf der Rückfahrt sitzt der Sohn sehr nachdenklich hinter dem Steuer seines Wagens. So schlimm ist es mittlerweile geworden. Seine Mutter erkennt ihn nicht wieder. Sie hält ihn für einen fremden Menschen. Sie ist dabei, sich in die ganz eigene Welt der Demenz zurückzuziehen. Sie ist dabei, ihn, den Sohn zu vergessen. Der Sohn kann nichts dagegen tun. Gegen Demenz helfen keine Tabletten. Der Krankheitsverlauf kann nicht umgekehrt werden. Die Mutter erinnert sich nicht mehr an den Namen des eigenen Sohnes. Dabei hat sie ihm doch vor Jahrzehnten, nach der Geburt, zusammen mit seinem Vater seinen Namen gegeben.  Kein Sohn und kein Tochter hat sich ihren Namen ausgesucht. Jedes Kind muß lernen, mit dem Namen zu leben, den ihm die Eltern gegeben haben. Namen prägen einen Menschen auf ganz eigene Weise. Bei Jesaja heißt: Gott vergißt keinen Namen.
Die Menschen haben sich Hilfsmittel gebastelt, um den Namen nicht zu vergessen. Der Name steht auf dem Bändchen am Gelenk des kleinen Babies, auf der Brotdose für den Kindergarten, auf dem zerlesenen Schulheft, auf dem verdrückten Kinderpaß und auf dem Reiseausweis, auf der Tauf- und auf der Konfirmationsurkunde. Der Name steht auf dem Schulzeugnis und dem Gesellenbrief, auf dem Führerschein und auf der Steuererklärung, im Stammbuch und im Stammbaum, auf der Trauurkunde, auf der Gesundheitskarte, der Euroscheckkarte, auf der Promotionsurkunde und der Visitenkarte und auf dem Flugticket, auf dem Clubausweis, eingraviert auf dem Wanderpokal und auf der Überweisung für das Krankenhaus, auf dem Kaufvertrag für das Eigenheim und auf der Ergebnisliste für den Marathonlauf,  auf der Patientenverfügung, auf dem Röntgenbild und auf dem Rezept für die Schmerztabletten. Der Name ist im Testament  zu lesen, in der Traueranzeige und schließlich auf dem Grabstein. Wenn der Grabstein lange stehen bleibt, dann verwittert der Name. Nach Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten ist er nicht mehr zu erkennen. Der Name eines Menschen begleitet ein ganzes Leben; der Name erst macht einen Menschen zur unverwechselbaren Person. Aber selbst wenn der Grabstein verwittert ist. Jesaja sagt, Gott vergißt keinen Namen.
Manchmal geht diese Unverwechselbarkeit von Namen in der Masse von Menschen verloren. Niemand merkt sich die Namen aller Toten auf den Grabsteinen, wenn er über einen Friedhof geht. Niemand merkt sich die Namen der 80000 Besucher eines Fußballspiels, einer Demonstration oder einer anderen Massenveranstaltung. Wir haben Schwierigkeiten mit unserer Vorstellungskraft, wenn wir von den 20 Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg hören. Kein Denkmal eines unbekannten Soldaten kann dem gerecht werden. Und noch mehr die 6 Millionen Menschen, die in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet wurden, sie übersteigen jede Vorstellungskraft. Damit diese sechs Millionen ermordeten Menschen nicht vergessen werden, hat der Künstler Günter Demnig das Projekt Stolpersteine entwickelt. Diese Stolpersteine werden am letzten Wohnort ermordeter Juden in den Asphalt eingelassen. Auf ihnen stehen der Name des Ermordeten, sein Geburtsort und –datum sowie Datum und Ort der Ermordung. Und der Name hält diesen Menschen und seine Lebensgeschichte in der Erinnerung, zumindest der Passanten, die jeden Tag diesen Stolperstein passieren. Nicht der Messing-Pflasterstein verleiht dem Denkmal Bedeutung, sondern der Name des Ermordeten. Denn der Name, jeder Name steht für eine gewaltsam beendete Lebensgeschichte. Und es sind die Namen des Volkes Israel, das Gott bei Jesaja aus den vier Himmelsrichtungen zusammengerufen hat.
Liebe Gemeinde, ein Name ist wichtiger als ein Gesicht. Das Gesicht auf  einer Fotografie kann etwas Beliebiges haben, von einem Namen kann man das nicht sagen, auch wenn es viele Menschen gibt, die denselben Vornamen und manchmal auch denselben Nachnamen tragen. Wenn das Geburts- und das Todesdatum hinzukommen, dann werden die meisten Namen unverwechselbar. Sie können nur eine bestimmte Person bezeichnen. Aus dem einen Menschen unter vielen Menschen wird die bestimmte Person, zu der ich eine Beziehung der Verwandtschaft, der Freundschaft oder auch nur der Nachbarschaft gepflegt habe. Bei den Namen, die ich nicht kenne, kann ich mir wenigstens vorstellen, daß hinter dem Namen eine Lebensgeschichte steckt. Und ich hätte mindestens die Möglichkeit , dieser Lebensgeschichte nachzugehen.
Der Prophet Deuterojesaja, um auf ihn zu kommen, scheint von dieser Namens- und Erinnerungsphilosophie etwas geahnt zu haben. Und er bringt neue Farben hinein in das Reden über die Namen. Sonst hätte er nicht so eindringlich diese Gottesrede wiedergegeben: Ich habe dich geschaffen. Ich habe dich  bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.
Von Geburt an gehören der Akt der Schöpfung und der Akt der Namensgebung zusammen. Der Name schillert zwischen Vergeßlichkeit und bleibender Erinnerung. Gegen die Vergeßlichkeit des Menschen, dem noch jeder Grabstein verwittert ist, setzt Deuterojesaja die Erinnerung Gottes entgegen. Gottes Erinnerung bleibt dauerhaft, nachhaltig  und darum unersetzbar. Für das „Buch des Lebens“ (Offb 13,8) existiert kein Radiergummi. Gottes Erinnerung zielt bei Deuterojesaja nicht auf einen einzelnen Menschen, sondern auf ein Volk innerhalb der Völkergemeinschaft.  Gottes Erinnerung zielt auf unzählige Namen.
Wer einen Namen ruft, der will ein Gespräch anfangen.  Die Nennung des Namens erneuert eine Beziehung. Sie hat schon immer bestanden und wartet auf Auffrischung. Lose Enden werden wieder verknüpft. Gott und die Menschen verbinden sich in einem Band des Segens, des Zuspruchs und der Gewißheit. Nicht umsonst erinnert Gott daran, daß die wieder aufgenommene Beziehung auf einer langen Geschichte Israels beruht.
Diese Geschichte können wir in der Bibel nachlesen. Sie beginnt mit der Schöpfung, in dem Gott dem Mensch ausdrücklich das Recht zugesteht, den Pflanzen und Tieren Namen zu geben. Ihren ersten Höhepunkt findet diese Geschichte zwischen Gott und den Menschen in der Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten. Gott erinnert sich an sein versklavtes Volk, und er führt die Menschen mit Hilfe des Mose aus der Tyrannei hinaus, zuerst in die Wüste und nach einer langen Wanderung in ein neues gelobtes Land, das Land wo Milch und Honig fließen.
Damit ist der Grundton dieser Beziehung zwischen Gott und Mensch vorgegeben. Sie ist auf Befreiung und Freude gestimmt. Jahrhunderte später kommt eine zweite Grunderfahrung hinzu: die Rückkehr aus dem babylonischen Exil. Nach einer politischen und gesellschaftlichen Katastrophe, nach einer verheerenden Niederlage gegen eine Großmacht, erweist sich Gott als treu. Er läßt sein Volk im Exil nicht allein, er hat den Namen seines Volkes, die Namen aller Israeliten nicht vergessen. Es ist eine Wiederbegegnung wie die Begegnung der zwei alten Freunde, die sich in der Fußgängerzone getroffen haben.  Gott wird nicht vergessen, nicht den Namen der alten Dame, die ihren Sohn und ihre Enkel nicht mehr wieder erkennt, nicht die Namen all der Ermordeten aus den Konzentrationslagern.
Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Das ist ein Ruf heraus aus der Gleichgültigkeit. Wer den Namen eines anderen Menschen kennt, der kann ihn ansprechen und ein Gespräch mit ihm beginnen. Wer den anderen nicht kennt, der muß schnodderig oder gar unhöflich werden: Heh, Sie da mit dem blauen T-Shirt, kann ich Sie einmal etwas fragen? Es ist nicht sicher, ob ein Gespräch, das so begonnen, lange fortgesetzt werden kann.  Aber wer den Namen nicht vergessen hat, der stiftet das Band einer Beziehung neu, die so schnell nicht wieder gelöst werden kann.
Nun besteht aber ein Unterschied: Eine Beziehung zwischen Menschen besitzt ihren Kern im Gespräch. Menschen, die sich mit Namen kennen, teilen sich mit. Eine Beziehung zwischen den Menschen und Gott besitzt ihren Kern in zwei Polen: im Gebet und im Segen.
Das Gebet ist für die Beziehung zwischen Gott und Mensch, was das Gespräch für die Beziehung unter Menschen ist. Der glaubende Mensch kann Gott anrufen, ihm klagen, ihm danken und ihn bitten. Und Gott wird ihm antworten, vielleicht nicht so, wie es die Menschen erwarten, aber bestimmt so, wie es den Verheißungen Gottes entspricht. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Ich begleite dich durch die Stürme, Fluten und Feuerbrände des Lebens. Und wenn es dir noch so schlecht geht, so kannst du dich auf mich verlassen.
Betrachtet man die Beziehung zwischen Gott und Mensch aus der Perspektive des Menschen, so sprechen wir vom Gebet. Weil Gott die Namen der Menschen kennt, entsteht eine Beziehung aus Dank und Bitte, Verheißung und Erfüllung. Betrachtet man die Beziehung zwischen Gott und Mensch aus der Perspektive Gottes, so sprechen wir vom Segen. Gott steht zu dem, was er verheißen hat, dem Volk Israel zuerst, aber in Jesus Christus auch allen anderen Menschen. Gott kennt die Namen der Menschen. Gerade weil er die Namen kennt, steht er zu seinen Verheißungen. Segen heißen diese Verheißungen, weil sie nicht Utopien sind, die sich erst in der Zukunft erfüllen. Sie erfüllen sich jetzt, in der Gegenwart, heute. Gott begleitet uns, jeden, den er mit Namen kennt, mit seiner Barmherzigkeit. Amen.