"Nehmt einander an", Predigt zu Römer 15, 4-13 von Jens Junginger
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"Nehmt einander an", Predigt zu Römer 15, 4-13 von Jens Junginger

Liebe Gemeinde
  Es gibt keinen mir bekannten Anlass Sie- so wie sie hier heute morgen versammelt sind –  aufzufordern: Nehmt einander an. Nehmt euch untereinander an. 
  Auf Anhieb würden mir eine Reihe von Gruppen, Gruppierungen, Milieus, ethnische Gruppen, Religionen und Völker einfallen, denen man gerne mal zurufen würde: „ Nehmt einander an.“
  Aber ich denke ganz einfach auch an die Konfigruppe und wie manche miteinander umgehen, einzelne sichtbar und spürbar außen vor oder links liegen lassen. Gerne juckt es einen da zu sagen: „Nehmt einander an.“
  Einige weitere wären zu nennen, wo es ein Mehr an gegenseitiger Annahme oder Aufeinander Zugehen bedürfte:
  -              unter den Gegnern und Befürwortern des Bahnhofprojekts
  -              zwischen Politiker und BürgerInnen
  -              zwischen katholischer und evangelischer Kirche
  -              zwischen Christentum und Islam
  -              unter den Bewohnern in den gutsituierten Statteilen und die der sozialen Brennpunkten
  
  Es gibt eine gehörige Zahl von Gegensätzen, Rissen und Gräben, an denen deutlich wird, dass es mit dem Einträchtig zusammenleben wahrlich nicht weit her ist.
  Da ist die eine Lebenswelt, in der ein 15 jähriger einen 17 jährigen wg handy zusammenschlägt, oder ein anderer einfach mal so mit einem Schlagstock zuschlägt, und da ist die andere Welt, in der ein 18 jährigen eine Auszeichnung wegen genialer Erfindungen bekommt. Das sind zwei Lebenswelten, die sich voneinander entfremdet haben.
  So schnell werden die sich nicht gegenseitig annehmen, von allein schon gar nicht. Sie treffen schon gar nicht zusammen – außer vielleicht  beim nächtlichen Gang durch die Innenstadt.
  Dabei wünschten wir es uns. Denn tief in unserem Herzen wohnt  die Sehnsucht , dass Menschen sich gegenseitig annehmen.  Diese Sehnsucht steigt gerade in der Adventszeit an, auf Weihnachten hin. Wir erwarten, wir warten auf das Fest des Friedens und der Eintracht – ein Wort, das nicht mehr ganz so geläufig ist.
  Diese Sehnsucht sitzt sehr tief in Kinderherzen und in den Seelen von Heranwachsenden.
  Ich erinnere mich an einen Jungen, der mit seinen 13 Jahren in  eine erstaunlich reflektierten Klarheit vor weiteren 25 Gleichaltrigen – und das allein schon ist ungewöhnlich - ausgesprochen hat, dass der nicht enden wollende Streit unter den Eltern für ihn der Moment war, an dem der den Glauben an Gott aufgegeben hat.Wir hören ihn geradezu, den inneren Aufschrei: „Nehmt euch endlich an. Nehmt einander an. Ihr müsst ja gar nicht wieder zusammen gehen. Aber nehmt euch aber wenigstens an.
  
  Auch der Apostel Paulus war von einer solchen Sehnsucht erfüllt.  Paulus ist bei seinen Besuchen in den frühen christlichen Gemeinden immer wieder mit Konflikten konfrontiert worden.
  Die junge, kleine  städtische Gemeinde in Rom allerdings hat er nie persönlich kennengelernt. Erfahren hat er aber, dass es auch dort Unstimmigkeiten und Verständigungsschwierigkeiten gab. Da waren- wenn man so will – die Traditionalisten, die sog Judenchristen, die darauf beharrten, dass man nur über die Anerkennung und Befolgung der Tora seinen Glauben zu Jesus Christus finden könne,   er selbst Jude gewesen ist. Und da waren auf der anderen Seite die sog Heidenchristen – zu deren Nachfahren ja auch wir gehören.
  Sie bezeugten mit ihrem Leben, dass man ChristIn sein kann ohne zunächst jüdisch geprägt sein zu müssen, weil das Wort Gottes, die frohe Botschaft für alle Menschen frei zugänglich sein will.
  Paulus plädiert am Ende seines Briefs an die Gemeinde in Rom mit großem Engagement für den gegenseitigen Respekt untereinander und die Akzeptanz des jeweils anderen. .
  4Alles, was in früherer Zeit dort[in der Heiligen schrtift]  aufgeschrieben wurde, wurde festgehalten, damit wir daraus lernen. Denn wir sollen die Hoffnung nicht aufgeben. Dabei helfen uns die Ausdauer und die Ermutigung, wie wir sie aus den Heiligen Schriften gewinnen können. 5Diese Ausdauer und diese Ermutigung kommt von Gott. Er gebe auch, dass ihr euch untereinander einig seid – so wie es Christus Jesus angemessen ist. 6Dann könnt ihr alle miteinander den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus wie aus einem Munde loben. Das gemeinsame Lob Gottes 7Daher bitte ich euch: Nehmt einander an, so wie Christus euch angenommen hat, damit die Herrlichkeit Gottes noch größer wird.  8Denn das sage ich: Weil Gottes Zusage wahrhaftig gilt, trat Christus in den Dienst der Beschneidung. So wollte Gott das einlösen, was er den Stammvätern versprochen hat. 9Aber auch die Heiden haben allen Grund, Gott für sein Erbarmen zu loben.
  Und nun führt Paulus eine ganze Reihe von Bibelzitaten an, um zu unterstreichen, dass Christus für alle Menschen gekommen ist
  Denn in der Heiligen Schrift steht: "Darum will ich mich bei den Heiden zu dir bekennen und deinen Namen mit Liedern preisen." 10An einer anderen Stelle heißt es: "Freut euch, ihr Heiden, zusammen mit seinem Volk. 11Und noch einmal an einer anderen Stelle: "Lobt den Herrn, alle Heiden! Alle Völker sollen ihn preisen!" 12Und schließlich sagt Jesaja: "Aus der Wurzel Isai wird ein neuer Spross hervorgehen. Er wird sich erheben, um über die Heiden zu herrschen. Und auf ihn werden sie ihre Hoffnung setzen." 13 Diese Hoffnung kommt von Gott. Er erfülle euch auch in eurem Glauben mit lauter Freude und Frieden. So soll eure Hoffnung über alles Maß hinaus wachsen durch die Kraft des Heiligen Geistes
  Wir wissen heute : Paulus‘ eindringliche und ausführlich begründete Bitte „nehmt einander an“ wurde nicht wirklich erhört. Spätestens nachdem die christliche Kirche politisch anerkannt, und staatlich unterstütz wurde, kam es zu Trennung zwischen Synagoge und Kirche. Judenchristlichen Gemeinden blieben eine kurze Anfangsepisode. Die sog Heidenkirche hat an der Seite der weltlichen Machthaber einen teilweise mörderischen Siegeszug angetreten, bei dem sie sich heftigst und auf beschämenden weise zutiefst schuldig gemacht hat. Das müssen wir als Christenmenschen, als Kirche, immer mitbedenken, wenn wir in die Versuchung geraten anderen vorzuhalten wie sie sich verhalten müssten.
  Das Engagement des Paulus für die gegenseitige Annahme der Juden- und Heidenchristen damals in Rom versteh ich weit mehr als nur als Impuls  über das Verhältnis zwischen Judentum und christliche Kirche nachzudenken. Das ist durch die Aufarbeitung des Holocaust und der kirchlichen Haltung zum Judentum mittlerweile etwas besser gewordenen.
  Ich verstehe Paulus‘ Aufforderung auch als einen Wink zur Gegenseitige Annahme von Christen und Muslime und überhaupt zur Überwindung von Entfremdungen und gesellschaftlicher Spaltung. Es geht um die Frage, wie gehen wir als Menschen, mit unseren verschiedenen religiösen und nichtreligiösen Bindungen, Traditionen, kulturellen, sozialen und biographischen Prägungen miteinander um.
  Dabei fällt mir auf: Paulus argumentiert rational. Er zitiert, begründet. Er appelliert an den verstand, an den Kopf. Das kennen wir, da erkennen wir uns wieder. Zugleich sagt uns die Erfahrung: Was uns vom Verstand her einleuchtet, dass wird deswegen noch lange nicht umgesetzt. Da braucht es vor allem ein Mehr an zwischenmenschlicher Beziehungspflege.
  Paulus verweist auf  Jesus, wie er Menschen, wie er uns  angenommen hat. An Jesus fällt auf, dass Reden und Handeln, Theorie und Praxis, Argumentieren Tun  zusammengehen. Was er in der Bergpredigt verkündet, ereignet sich in seinem Alltag. Das setzt er um.
  Gerade das hat viele irritiert, verärgert auch. Aber dieses : Nehmt einander an – gerade über Grenzen hinweg,  das lebt Jesus mit Haut und Haarens bis zur letzten Konsequenz. Das macht ihn glaubwürdig, den Spross aus der Wurzel Isais.
  Nun ist aber so– das beobachten sie vielleicht auch an sich selbst -  dass es um ein vielfaches leichter ist anderen zu zu rufen : Nehmt einander an, als selbst bereit oder fähig zu sein andere anzunehmen.
  Man kann sich dabei ertappen, wie man den Kopf schüttelt darüber, dass sich Leute schwer tun sich aufeinander zu zu bewegen. Wir können es kaum verstehen, dass sich politische Positionen und nationale Interessen so schwer tun sich aufeinander zu bewege.
  Schauen wir uns aber allein den langen Prozess der europäischen Einigung an, so merken wir: gegenseitige Annahme ! Das ist ein langer Weg.  Wie weit die gegenseitige Annahme geht, zeigt sich gerade jetzt, in kritischen Zeiten, wenn Solidarität gefragt ist ?
  Ich denke, gegenseitige Annahme zwischen Nachbarn, Nationen, Völker und – wenn wir an die Juden- und Heidenchristen in Rom, an Christen und Muslime heute denken – ist möglich, wenn wir die Überzeugungen, den Glauben und Lebensentwürfe der anderen nicht von Vorneherein „unter den Verdacht der Falschheit und der Unwahrheit stellen.“(Steffensky S.109)
  Zugleich dürfen und müssen wir uns auch eingestehen, was uns befremdlich am anderen erscheint. Dass es Überzeugungen gibt, die man nicht teilt – ganz und gar nicht. Auch das muss gesagt sein.
  Zugleich gilt aber auch: Wenn wir in unserer eigenen Sache überzeugt genug sind und sie glaubwürdig leben – unser Christ sein etwa- , dann „könnten wir anderen Entwürfen mit einer freundlichen und positiven Vermutung begegnen.“ (Steffensky , S.110)Die erste Reaktion auf eine nicht geläufige Gestalt von Glauben oder Lebenseinstellungen wäre „dann nicht das Gefühl bedroht zu sein, sondern die Neugier und das Interesse“ an Verständigung.
  Wir würden verstehen lernen, wie in verschiedenen Sprachen, Ritualen Ausdrucksformen und Verhaltensweisen ähnliche oder vergleichbare „Wünsche an das Leben haben.“ (aaO)Gleichwohl würden wir auch Unterschiede feststellen. Sich gegenseitig annehmen meint ja nicht: Unterschiede eindampfen oder verschweigen. Vielmehr gilt es sie auch auszusprechen.
  Denken wir an den Schlichtungsprozess , so merken wir:  Wir sind erst am Anfang, haben gelernt, dass es gerade bei unterschiedlichen Einschätzungen darauf ankommt: Nehmt einander an, Politik und Bürgerschaft, Unternehmen und Zivilgesellschaft, Parteien und Bevölkerung.
  Denken wir an das Verhältnis zum Islam, dann haben wir noch gar nicht richtig mit gegenseitiger Annehmen  begonnen,
  Bedenkt man dass die Evang. Landeskirche eine Vikarin entlassen hat, weil sie einen Muslim geheiratet hat, dann haben wir als Kirche eine Chance verpasst.
  Denken wir an die getrennten Lebenswelten der sog abgehängten und den Menschen in den besseren Wohngebieten, so wie es sich auch in den Schultypen abbildet, dann gestehen wir uns die Unterscheide noch nicht einmal richtig ein – geschweige denn die Notwendigkeit, dass wir einander doch annehmen wollen.
  Der 13 jährige Junge sehnt sich danach, dass sich die getrennten Eltern nicht weiter und länger bekriegen, beschimpfen und beleidigen, sondern wenigstens mal auf einen Weg begeben, der dazu führt, dass sie sich mit der je eigene Lebensentscheidung annehmen können. Diese Hoffnung hat er – noch. Indem er ausspricht, was ihn bedrückt und belastet, zeigt er, dass er noch eine Erwartung hat. Da ist noch etwas von Gott zu spüren – in ihm.
  Diese Hoffnung kommt von Gott. Sagt Paulus.
  Sie wird genährt von den kleinen Hoffnungsgeschichten aus dem Alltag, die wir manchmal vergessen weiterzuerzählen. Sie erzählen z.B. davon, dass der Wunsch des Paulus „nehmt einander an“ mitunter beherzigt wird, ja gelebt wird. In der Begegnung von Christinnen und Muslima beim monatlichen Frauenfrühstück, beim Austausch über Gemeinsames und Trennendes, beim Schmecken und Ausprobieren.
  Oder auch in einen beispielhaften  Prozess  der gegenseitigen Annahme und der Verständigung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmervertreterinnen anlässlich einer Standortschließung. Der hat dazu geführt, dass die 130 Beschäftigten nicht einfach auf die Straße gesetzt wurden, sondern im Betrieb mit Fachleuten von außen für anschließende Arbeitsplätze weiterqualifiziert werden konnten.
  Auch der Eintrag Im Gästebuch der Vesperkirche in der Schwenninger Pauluskirche ist eine solches Hoffnungszeichen. Da schreibt jemand: „Begegnungen aus allen sozialen Schichten, von fern und nah, gute Gespräche, Seelennahrung und kulinarische Köstlichkeiten, Wärme, liebevolle Bewirtung, weiße Damast-Tischdecken – Mensch was willst du mehr. Danke für diese lebendige Kirche“
  Liebe Gemeinde
  Unsere biblischen und Alltags- Hoffnungsgeschichten brauchen wir nicht aller Welt zu diktieren. Wir brauchen sie vor allem aber für uns selbst. Wir erzählen sie gerne weiter und wollen andere daran teilhaben lassen. Und - wir wollen sie vor allem unseren Kindern weitergeben, denn:
  4Alles, was in früherer Zeit aufgeschrieben wurde, - sagt Paulus - wurde festgehalten, damit wir daraus lernen. Denn wir sollen die Hoffnung nicht aufgeben. Dabei helfen uns die Ausdauer und die Ermutigung., wie wir sie aus den Heiligen Schriften gewinnen können
  Die Hoffnungsgeschichten bestärken uns in der Sehnsucht  – nicht nur im Advent – dass wir mehr erwarten dürfen.   Gott möge uns in unserem Glauben mit lauter Freude und Frieden erfüllen. So soll eure Hoffnung – sagt Paulus -über alles Maß hinaus wachsen durch die Kraft des Heiligen Geistes
  Amen
  
  Literatur: Fulbert Steffensky, Fier des Lebens. Spiritualität im Alltag, Stuttgart 1987³