Der Predigttext wird zu Beginn gelesen (Luther 2017).
I.
Wolken ziehen eilig über den Himmel. Der Wind bläst von vorn. Die Wellen rollen an den Strand. Das Meer ist in großer Bewegung. Wir laufen gegen den Wind, immer gegen an. Die Worte wehen aus dem Mund. Der Wind hat uns im Griff. Wir sehen ihn nicht, den Wind. Aber wir spüren seine Kraft. Wir sehen, was er wirkt: das Meer in Bewegung, eilige Wolken, Sand im Gesicht. „Der Wind bläst, wo er will. Du hörst sein Sausen wohl; aber du weisst nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren wird.“
So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren wird? Was meint Jesus?
Was wirkt der Wind? Wellen, Wolken, Sausen. Was wirkt der Geist? Neugeborenwerden. Wo kommen Wind und Geist her? Wo haben sie ihr Anfang? Beim Wind können wir den Ausgangspunkt kaum finden. Suchen wir den Ursprung des Geistes, dann begegnen wir Gott. Kein alter Mann, der mit dicken Backen bläst. Eher ein Spannungsfeld voller Energie. Da entspringen Wind und Geist.
II.
Nikodemus fragt und hört zu. Es ist Nacht. In der Nacht hört man den Wind stärker, hört man Worte anders, ahnt man das Licht. Aber sieht es nicht. Nikodemus sah, was Jesus tat: Aus Wasser wird Wein. Geschrei im Tempel, den Jesus reinigt. Aus Menschen, die zweifeln, werden Nachfolger*innen Jesu. Alle haben es gesehen. Nikodemus hat es gesehen. Und sagt: „Du, Jesus, kommst von Gott.“
Und doch: Nikodemus hat Fragen. Fragen, die einem nachts durch den Kopf gehen: „Was habe ich gesehen? Was hat das zu bedeuten? Gott selbst in diesem Menschen Jesus? Das Reich Gottes?“ Jesus antwortet in der Nacht: „Nikodemus, du bist ein Lehrer Israels, ein kluger und verständiger Mann. Wir sehen das, was vor Augen steht. Wir sehen die irdischen Dinge. Diese Dinge zeigen aber mehr. Sie weisen auf Gottes Wirken, auf himmlische Zusammenhänge. Wer dies sehen will, muss anders sehen. Muss neu geboren werden aus Wasser und dem Geist Gottes. Muss die Welt mit Gottes Augen anschauen.“
III.
„Welch ein schöner Raum!“ Seit einer Stunde sitze ich mit dem Maler in der lichtdurchfluteten gotischen Kirche. Der Maler sieht mit anderen Augen als ich. Das Licht, die Proportionen, die Farben, die Akzente durch den Renaissance-Altar. Er sieht Dinge, die mir bisher verborgen waren. Ein Schattenspiel, eine Lichtbrechung, ein Farbklang. „Ich bin kein glaubender Mensch. Aber mich beschäftigt das Transzendente.“ Der Maler erzählt von sich. Er wird das Kirchenschiff in der Passionszeit umgestalten, wird den Altar verhüllen. Das Leiden des Menschen und das Handeln Gottes. Landschaft und Himmel. Violett. Das inspiriert ihn. Er macht sich auf den Weg zu einer künstlerischen Gestaltung. Er meditiert und probiert. So entsteht ein großes Flies. Eine Landschaft, ein Ausschnitt aus dem Himmel. „Ich bin kein glaubender Mensch. Aber ich habe den Himmel neu sehen gelernt bei dieser Arbeit. Ich sehe so viel mehr.“ So beschreibt der Maler seine Erfahrungen. Ein Mensch auf der Schwelle. Zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen. Auf der Schwelle wie wir. Mit ihm lerne ich neu sehen, lerne ich anders zu sehen.
So macht es Gott mit uns Menschen: er lehrt uns, neu zu sehen.
IV.
Wie geht „Neugeboren werden“? Nikodemus kann das nicht verstehen. Wieder zurück in den Mutterleib? Jesus meint etwas anderes. Es geht um ein „Geborenwerden aus Wasser und Geist“. Das geschieht, wenn ein Mensch im Namen Gottes getauft wird. Es beginnt etwas Neues. Ein neuer Anfang, neu geschaffen, wieder geboren. Nikodemus fragt, wie ein Mensch neu geboren werden kann. Jesus antwortet: untergetaucht in das Reich des Todes und aufgetaucht zu neuem Leben. Erfüllt durch Gottes Geist. So wird ein Mensch von Gott neu geboren. Gott handelt. Mit uns Menschen geschieht dies.
Und woran erkenne ich das Wirken des Geistes? Wer von Gott neu geboren ist, richtet sich neu aus. Richtet Denken und Handeln an Jesus aus. Ein neues Sehen, ein neuer Blick, eine neue Verbindung, eine neue Bewegung. Im Blickfeld taucht das Himmlische und das Reich Gottes auf, mitten im Irdischen. Im Antlitz des Gekreuzigten leuchtet das Licht Gottes.
Ein Beispiel:
Rasul Sayab kam aus Afghanistan nach Deutschland und stellte einen Antrag auf Asyl. Er wurde am 10.12.2017 in der Erfurter Reglerkirche getauft. Er lebt als Christ und kam jeden Sonntag zum Gottesdienst in die Reglerkirche. Gemeindeglieder begleiteten ihn bei der Verhandlung seiner Zulassung zum Asylverfahren vor dem Verwaltungsgereicht Meiningen. Rasul hat keinen Aufenthaltsstatus in Deutschland bekommen und nun Deutschland auf der Flucht verlassen. Pfarrerin Lipski schreibt: „Rasul ist ein beeindruckender, freundlicher und sehr respektvoller Mensch. Ich bin sehr traurig darüber, dass er weiter in Angst leben muss. Wenn man ihn gefragt hat, wann sein Geburtstag ist, hat er immer gesagt, es sei der 10.12.2017 - der Tag, an dem er getauft wurde.“
V.
Wir sind auf dem Rückweg am Strand. Wir haben den Ursprung des Windes nicht gefunden. Aber nun spüren wir: Die Sonne von vorn, der Wind im Rücken. Er schiebt uns. Wir sprechen. Der Wind nimmt die Worte mit. Gottes Geist richtet unsere Augen aus und wärmt das Herz. Der Wind hat uns durchgepustet. Neue Gedanken, neues Sehen.
Gott wirkt.
Amen
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt halte ich im Gottesdienst der Thomas-Gemeinde Erfurt, eine lebendige Ge-meinde im gutbürgerlichen Süden Erfurts. Ich habe fragende und suchende Menschen vor Augen: Menschen, die eine Familie gegründet haben, Mediziner*innen, Künst-ler*innen, Verwaltungsangestellte, Jurist*innen. Menschen, die den christlichen Glauben intellektuell durchdringen möchten, die ähnlich fragen wie Nikodemus. Menschen „auf der Schwelle“, die Fragen stellen, die nicht einfach zu beantworten sind.
Aber die auch „frohe Botschaft“ hören und erleben wollen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mich hat das Bild vom Wind beschäftigt, dessen Wirkungen wir wahrnehmen. Und mich hat die Frage nach dem Übergang vom Geborenwerden zum Neugeborenwerden beschäf-tigt. Gibt es einen Übergang, eine Vermittlung von dem einen Zustand zum anderen? Wenn ja, wie? Was wirkt Gott, welchen Anteil haben Menschen in diesem Geschehen?
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Gott ist als Schöpfer, Erlöser und Geist zugleich präsent und verborgen. Jesus spricht von der Unverfügbarkeit des Neugeborenwerdens, zugleich zeigt er den Weg auf, wie ein Mensch neu geboren wird: durch die Taufe und Durchdringung mit Gottes Geist. Gott wirkt, der Mensch empfängt.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Das Bild vom Wind am Meer, die Szene mit dem Maler tragen. Die Sprache soll einfach, gut hörbar und doch mit Tiefe sein. Am Ende wurde wichtig, Gottes offenbares und verborgenes Wirken in allem sichtbar werden zu lassen.