Nicht allein in der Nacht - Predigt zu Römer 13,8-14 von Hans Uwe Hüllweg
13,8-14

Nicht allein in der Nacht

„In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine…“ So, liebe Gemeinde, lautete einmal ein überaus erfolgreicher Hit, gesungen von Marika Rökk, Peter Alexander und anderen Showgrößen in den fünfziger Jahren und neuerdings auch von einer der erfolgreichsten deutschen Popgruppen, den „Prinzen“. In diesem Song geht es natürlich um die Liebe, aber der Text hat auch darüber hinaus eine psychologische Dimension. Die Nacht hat nämlich eine besondere Bedeutung in unserem Leben. Die meisten Menschen schlafen sicherlich oder versuchen es; aber viele müssen auch arbeiten, im Krankenhaus und bei der Bahn, in den Kraftwerken, bei der Polizei oder auch hier im Seniorenstift.

Und manch einer fürchtet sich, abends etwa durch den Park oder das nicht so gut beleumundete Viertel zu gehen, weil manchmal Gestalten im Dunkeln tatsächlich oder vermeintlich ihr Unwesen treiben, das das Licht des Tages scheuen muss. Da ist es besser, jemanden bei sich zu haben.

„In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine“ – in dieser Zeile schwingen unterschwellig unsichtbare, doch höchst reale Gefahren und ebenso zwar irreale, aber doch sicht- und spürbare Alpträume mit.

Und wer nicht so einfach in den Tag hinein lebt, wer bewusst über sein Leben nachdenkt, wird manchmal das Gefühl nicht los: „Der Tag ist vorgerückt, die Nacht kommt näher.“ Mit jedem Sonnenuntergang wird unser Leben kürzer, auch mit jedem Geburtstag, den wir feiern, wobei niemand weiß, ob es nicht der letzte ist. Einmal wird die Sonne nur noch eine Handbreit über unserem Lebenshorizont stehen, und wir wissen nicht, wann das sein wird. Morgen schon? Oder in vielen Jahren?

Schon die Jüngeren spüren das Altern. Auch wenn die Statistik uns weismacht, dass man sich erst mit etwa 35-40 Jahren, also wenn ungefähr die Hälfte des Leben nach unserer regulären Lebenserwartung verstrichen ist, mit dem Tode bewusst auseinanderzusetzen beginnt - er ist ja schon allgegenwärtig in seinen Vorboten. Viele setzen sich heftig zur Wehr gegen das Altern: Die Kosmetikindustrie stellt Salben und Wässerchen her gegen die Falten und verdient viel Geld damit. Die einen vergießen Schweiß in den Fitness-Studios, die anderen joggen um den See, und die wenigstens die Optik jung halten wollen, legen sich auf die Sonnenbank.

Im Grund wissen wir aber: Gegen das Älterwerden ist nun mal kein Kraut gewachsen. Der Tag rückt vor, die Nacht näher, und in der Nacht wird der Mensch, ob er will oder nicht, alleine sein. Das ist, bei nüchterner Betrachtung, unser Leben.

Dagegen aber erhebt Paulus seine Stimme. Er behauptet das genaue Gegenteil, und seine Worte klingen wie ein Fanfarenstoß: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist herbeigekommen, es ist Zeit aufzustehen…“

Natürlich ist Paulus kein Phantast. Er kennt sich im Leben aus. Er redet nicht einfach so daher. Und er hat sicherlich auch schon einmal im Wasserspiegel des Brunnens sein Gesicht gesehen, an dem die Spuren des Älterwerdens nicht vorübergegangen sein dürften.

Aber er lässt sich nicht verwirren und sich schon gar keine Angst einjagen. Mit jedem Tag, der vergeht, so ist er überzeugt, wird der Abstand zwischen mir und Christus kleiner. Es geht nicht bergab, sondern bergauf mit mir. Die Nacht brauche ich nicht zu fürchten, denn ich bin schon am Tag nicht alleine. Jesus Christus geht mit mir, jeden Schritt, den ich mache. Nach Gottes Zeitplan werde ich nicht älter, sondern jünger.

Nun können wir nicht erwarten, dass das jeder dem Apostel abnimmt. Auch das Mitfeiern des Gottesdienstes heute, am 1. Advent, bietet uns dafür keine Garantie. Die Skeptiker, die es möglicherweise ja auch unter uns gibt, werden sich fragen, ob das nicht einige Nummern zu groß ist angesichts einer Realität, die uns doch immer wieder in die finstere Wirklichkeit zurückholt. Terror in Europa, Krieg in Ost und Süd, Flüchtlingsstrom in unser Land, dazu mancherlei individuelle Sorgen und Ängste – wen soll das alles kalt lassen?

Doch unser Glaube ist immer einige Nummern zu groß. Wir greifen mit unseren Überzeugungen immer über die Wirklichkeit hinaus. Wollten wir das nicht, wäre unser Glaube arm. Denn Gottes Wirklichkeit, das soll uns im Advent wieder zu Bewusstsein kommen, ist immer einige Nummern größer als unsere.

Nach menschlichen Maßstäben sollte Gott lieber im Himmel geblieben sein! Nichts wie Ärger auf dieser Erde! Die Menschen wenden sich von ihm ab, wollen „autonom” sein, d.h. ihre eigenen Gesetze machen. Der Wille Gottes kann ihnen gestohlen bleiben. Und als sich Gott schließlich aufmacht, um ein Mensch zu werden, da erwartet ihn „am Anfang der Stall und am Ende der Galgen”, wie der Rhetoriker, Philologe und Schriftsteller Walter Jens gesagt hat.

Wer an diesen Gott glaubt, der greift in der Tat über sich hinaus. Und für den ist dieser Satz dann nicht mehr so unwahrscheinlich, wie es zunächst schien: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen”, der Tag nämlich, an dem Gott selbst in die Welt und in sein Leben tritt.

Paulus ist für mich ein beeindruckender Mann. Er redet, wie nur ein Mensch reden kann, der, wenigstens im Augenblick, völlig frei ist von Angst. Er spricht schwungvoll, mitreißend und begeisternd. Das Lied von Jochen Klepper, das wir gleich noch singen werden, versucht, diese Stimmung einzufangen:

Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern,
so sein nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern!

Auch dieses Lied schlägt nicht vor Begeisterung über die Stränge - die musikalische Stimmung in Moll, die ja als schwer und traurig gilt, bewahrt vor überschießender Fröhlichkeit, die das Bewusstsein trübt. Mir scheint, das Lied ist wie eine Hängebrücke zwischen zwei Ufern. Der Text, ganz nah bei Paulus, hängt am Ufer Gottes. Er will uns mit der Gewissheit anstecken, dass wir nicht in eine ungewisse Zukunft hineinlaufen, sondern einem Ziel entgegengehen, an dem Christus uns erwartet. Die Melodie hängt am Ufer unseres Lebens. Sie bewahrt die Bodenhaftung, hat noch ein Ohr für die dunklen Töne der Welt.

Gewiss, das Aufatmen über die schwindende Nacht und die adventliche Vorfreude auf den kommenden Tag Gottes muss auch Konsequenzen haben, und Paulus scheut sich nicht, in aller Deutlichkeit davon zu sprechen. „Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Eifersucht”, so legt er los.

Nun brauche ich Paulus nicht in Schutz zu nehmen, etwa gegen den Verdacht, als ob er hier die alte, vergangene Werkgerechtigkeit wiederauferstehen ließe. Oder als ob er ein sauertöpfischer, stets mit erhobenem Zeigefinger herumlaufender Griesgram wäre, der das Leben nicht genießen, sondern nur verteufeln kann.

Was er dagegen meint: Wer zügellos und ausschweifend lebt, merkt meist nicht, dass der innere Antrieb dafür nicht einfach Freude am Genuss, sondern tief im Innern eigentlich der verbissene Kampf gegen den Tod ist. Wer nicht dem herangerückten Tag entgegenschaut, bleibt auf der dunklen Seite des Lebens stehen. Und in einer solchen Nacht bleibt der Mensch dann wirklich oft allein.

Das aber, so meint Paulus, haben Christen nicht nötig. Ihr Leben erfüllt sich nicht im Lebensgenuss um jeden Preis, um die Nacht zu vertreiben, sondern im kommenden Tag Gottes.

Das ist der Grund dafür, dass unser Leben nicht trostlos, sondern im Gegenteil voller Hoffnung ist. Wir leben zwar noch in der Nacht, aber sie ist schon im Schwinden, und wir sind sozusagen schon vom Licht des neuen Tages angestrahlt.

„In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine” - eigentlich könnte das ein Adventslied werden, wenn der Text so lautete:

In der Nacht ist der Mensch nicht gern allein,
und er brauchte es auch nicht zu sein.
Ein Silberstreif am Horizont zeigt an:
Gott ist im Kommen, ist schon auf der Bahn,
er kommt für uns zu einem guten End -
das ist Advent.

Na ja – da ist das Lied von Jochen Klepper sicher seriöser.

Die Nacht ist vorgedrungen,
der Tag ist nicht mehr fern!
So sei nun Lob gesungen
dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet,
der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet
auch deine Angst und Pein.

Amen.

Einige Anregungen verdanke ich Hans-Georg Lubkoll in PastBl 12/91, S. 676ff

Lied: 16,1-5

 

Perikope
29.11.2015
13,8-14