Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte. Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.“
Liebe Gemeinde,
wir befinden uns mit dem heutigen Predigttext am Ende einer langen Erzählung. Es geht, wie Sie wissen, um das Schicksal Josefs, dem von seinen Brüdern übel mitgespielt worden war. Aus vielerlei Gründen waren sie vorzeiten auf die Idee verfallen, sich seiner zu entledigen. In erster Linie hatte sie die angemaßte besondere Stellung erbittert, die Josef ihnen gegenüber für sich behauptet hatte. Im Laufe verwickelter Geschehnisse war dieser Josef dann aber in Ägypten zum obersten Minister und engsten Pharaonenfreund aufgestiegen. Mit vorsorgender Klugheit gelang es ihm, schwere Hungersnot abzuwenden. Letztlich war er so auch zum Retter seiner Brüder geworden, dazu ihrer gesamten Verwandtschaft und vor allem ihres hochbetagten Vaters, des Jakob.
Jetzt, an diesem erzählerischen Endpunkt, steht die Brüderschar dem nach so langer Zeit überraschend Wiedererkannten gegenüber. Josef präsentiert sich ihnen in all seiner Pracht, umgeben von einem wimmelnden Hofstaat und angetan mit den Zeichen der Macht. Es ist verständlich genug, dass sie um ihre eigene Sicherheit fürchten, läge es doch nur allzu nahe, wenn Josef ihnen ihre schweren Vergehen vergelten wollte. Sie versuchen, sich durch ein erfundenes Mahnwort des Vaters ihm gegenüber abzusichern. Und sehen sich dann inmitten einer Situation, wie sie sie nicht erwartet haben und auch nicht erwarten konnten.
osef stellt sich auf einen ganz anderen Standpunkt, indem er zu ihnen sagt: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“
Es ist dies die überlegene Sicht des Nachhinein. Josef sieht die Zusammenhänge. Aus ihnen heraus betrachtet er das Einzelne und so auch diejenigen Taten, die ihn zu anderen Zeiten in schwere Not, in innere und äußere Bedrängnis größten Ausmaßes gebracht hatten. Diese Szene, die das Ziel weitreichenden Geschehens bildet, endet selbst mit einem Trostwort: „So fürchtet euch nun nicht.“
I.
Was mich an diesem Abschnitt besonders anspricht, sind jene Worte des Josef, mit denen er den verängstigten Brüdern all ihre Sorge nehmen will: „Stehe ich denn an Gottes statt?“ Josef fragt das seine Brüder. Doch tatsächlich bedeuten seine Worte ja nichts anderes als: „Ich stehe nicht an seiner statt.“
Das ist in meinen Augen der Punkt, um den es in der ganzen Schlussszene geht, die sich hier vor uns abspielt. Bedenken Sie bitte noch einmal, welche Stellung Josef gegenüber den Brüdern zu diesem Zeitpunkt einnahm. Auch in den Augen der Ägypter um ihn herum kam ihm kaum weniger Bedeutung zu als einem gottähnlichen Herrscher.
Doch gerade jetzt, wo es im Bereich des Möglichen läge, angetanes Leid mit Macht zu vergelten, findet nicht nur ein radikaler Verzicht auf solche Vergeltung statt. Sondern es wird auch überhaupt das Vergelten als solches ausgeschlossen. Die Dinge liegen völlig klar: Vergelten würde ein Urteil voraussetzen. Gerade das aber lehnt Josef ab. Er fällt kein Urteil. Es ist deshalb auch nicht so, dass er den Brüdern ihr Tun vergibt. Er lehnt jedes, auch das vergebende Urteil ab, und zwar, weil er sich nicht „an Gottes statt“ sieht.
Das ist das Erstaunliche. Josef verfügt über die innere Stärke, auf eine nachträgliche Aufrechnung zu verzichten. Er vermag das, weil es ihm gelingt, sein eigenes Dasein, diese ganze gewundene, schwere, oftmals bedrohte Existenz aus einer anderen Perspektive zu betrachten als es die eigenen Interessen nahelegen. Was war ihm in der Folge jener haßerfüllten Brudertat, als sie ihn an die Fremde auslieferten und der Todesgefahr preisgaben, nicht alles widerfahren? Um sein Leben hatte er mehr als einmal bangen müssen; ein Sklavendasein war ihm sicher gewesen; auf niemanden hatte er rechnen können. Doch das alles, so gegenwärtig es ihm auch jetzt vor Augen stand, bedrängt ihn nicht mehr. Er ordnet es in einen Zusammenhang ein, der größer ist, den auch er im Moment des Geschehens nicht oder doch allenfalls ahnungsweise zu erkennen vermochte, an dessen Sinnhaftigkeit es für ihn aber keinen Zweifel gibt.
Josef ist in diesem Sinne ein glaubender, das heißt ein auf Gott vertrauender Mensch in geradezu idealtypischer Ausprägung. Das ist es, was uns die ganze Begebenheit über ihre literarische Ebene hinaus bedeutsam macht.
II.
Das Vertrauen auf Gott ist die Voraussetzung dafür, dass man als glaubender Mensch sein Leben besteht. Dabei geht es nicht allein darum, am Ende – nachdem etwas geschehen ist und man auf es zurückblickt –, eine Sicht zu gewinnen, aus der heraus alles dann doch irgendwie „sinnvoll“ erscheint oder wenigstens zu erscheinen vermag. Es geht vielmehr darum, das Geschehen selbst bereits unter der Voraussetzung zu erleben und zu ertragen, dass es seinen Ort in einem wahren Ganzen hat.
Das ist das Eigentümliche des Glaubens und des im Glauben gelebten Lebens. In diesem Vertrauen besteht der feste Grund. Dies ist der Boden, von dem aus alles wachsen und gedeihen kann. Von ihm aus bringt das Leben seine Frucht, von ihm aus kann es gelingen, ein erfülltes Leben zu führen. Auf diesen Grund kommt es an, auf ihn allein.
Über unser Leben, wie wir es führen und wie wir es erleben, auch im Blick zurück, entscheidet, wie fest wir verwurzelt sind in diesem Vertrauen. Sicher stehen zu können und Halt zu finden, kann nur demjenigen gelingen, der festen Boden unter den Füßen verspürt. Für uns glaubende Menschen ist das unsere Beziehung zu Gott.
III.
Mir ist es von großer Bedeutung, dass ich mich von Gott angenommen weiß. Ich weiß es, weil er selbst mich doch in dieses Leben gerufen hat. Gott hat „Ja“ zu mir gesagt. Er hat das getan unabhängig davon, was ich sage oder nicht sage, was ich tue oder nicht tue. Es ist dies eine bedingungslose Beziehung. Sie gibt mir Halt und Sicherheit. Was mich im Gedränge des Tages in Frage stellt, kann mich dann nicht mehr erschüttern. Wie viele Anforderungen werden in der kurzen Spanne von Morgen bis Abend jeden Tag wieder an einen gestellt? Bisweilen muss ich mich dem entziehen, und nicht selten nehme ich auch zu wenig wahr, worum es im Moment eigentlich geht. Auch bin ich durchaus imstande, mich selbst in Frage zu stellen, ja ich halte mich dazu sogar an. All dieser Dinge, dieser immer wiederkehrenden Unzulänglichkeiten bin ich mir bewusst. Aber ein grundsätzliches Fragen kann aus ihnen nicht erwachsen, weil ihm immer jenes noch viel grundsätzlichere „Ja“ entgegensteht.
Das andere ist: Ich lebe aus dieser Beziehung heraus. Man mag an das Bild eines Hauses denken, dann wäre das Haus des Herrn jene eigentliche Heimat, aus der nichts mich vertreiben kann. Aber sofern ich „aus Gott“ lebe, sofern ich aus der Beziehung und der Zugehörigkeit zu Gott lebe, versuche ich auch, diese Beziehung und Zugehörigkeit in mein Leben und meinen Alltag einfließen zu lassen. Ich versuche, mein Leben und meinen Alltag aus dieser Beziehung und Zugehörigkeit heraus zu gestalten.
Natürlich gibt es Momente, wo ich mich verrannt habe, wo ich erschöpft bin und ratlos den Aufgaben gegenüberstehe. Dann kann das Bewusstsein, mit Gott verbunden zu sein, mich aufrichten und stärken. Dann zeigt sich mir doch eigentlich immer auch ein Weg, den ich gehen kann, und ich sehe Räume, in denen sich etwas Neues, neue Möglichkeiten bieten. Für mich ist es dann so, als hätte ich Kraft und Ermutigung aus meiner Beziehung zu Gott gewonnen.
Auch zu jenen „Früchten“ möchte ich noch etwas sagen. Ich fühle mich verwurzelt und spüre den Grund unter den Füßen, so dass ich Schritte tun kann und mich in eine Richtung zu bewegen vermag. Zu diesen Schritten gehört es, anderen Menschen etwas weiterzugeben von dem, was mich trägt und erhält. Das kann ein freundliches Wort sein, eine helfende Tat, etwas geschenkte Zeit, ja sogar bisweilen schlicht auch nur ein Lächeln. „Gute Taten“ sind mir wichtig. Davon, sie abzuwerten, halte ich gar nichts. Ich spreche auch gerne von ihnen und mache mir und vielleicht auch anderen damit Mut, in dieser Richtung weiterzugehen.
In all dem aber nehme ich es nicht auf mich, mich zum Richter zu machen. Ich selbst möchte so handeln, wie ich es für richtig halte und wie ich es verantworten zu können meine. Ich unterstelle, dass diejenigen Menschen, mit denen ich es zu tun haben, von den gleichen Grundsätzen ausgehen, dass auch sie im Prinzip das Gute wollen und nicht das Schlechte. Zu entscheiden, was letztlich an unserem Tun und Lassen dieser oder jener Kategorie zuzuschreiben ist, maße ich mir nicht an.
Für mich ist in dieser Hinsicht genug gesagt, wenn ich mir die Worte des Josef in Erinnerung rufe, die er, in sehr exponierter, sehr handlungsstarker Position, an seine Brüder gerichtet hat: „Ich stehe nicht an Gottes statt.“
Amen
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich bin Prediger in einer Gottesdienstgemeinde, der die Josefsgeschichte in Grundzügen vertraut ist. Deshalb gehe ich auf Einzelheiten nicht weiter ein, sondern konzentriere mich auf das, was ich in den Mittelpunkt stellen möchte: Josef als Glaubensgestalt.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Anspruch, die bekannte alttestamentliche Erzählung als evangelische Botschaft auszulegen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament ist eine „Entdeckung“, die mich seit langem „begleitet“ und das auch weiterhin tun wird.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Anteilnahme des Predigtcoaches. Das rezeptive und auch kritische Gegenüber ist mir wieder sehr wichtig gewesen.