Nicht Knecht, sondern Kind und Erbe
Liebe Gemeinde!
„Weihnachten hat Konsequenzen“ – so beginnt Helmut Gollwitzer einen Essay zum Fest der Geburt Jesu. Der durch mutige Predigten ebenso wie durch seine berührenden Erlebnisberichte von den Christnachtfeiern im sowjetische Kriegsgefangenlager bekannte Theologe sagt es pointiert: Weihnachten ohne Konsequenzen – das sei wie „ein kurzes Licht im grauen Alltag – und dann weiter in der alten Tour.“
„Weihnachten hat Konsequenzen“ – manchem wird bei solchen Sätzen leicht unwohl. Kündigt sich da ein leiser moralischer Druck an? Vielleicht nach dem Motto: Weihnachten war doch so schön, aber jetzt müsst Ihr auch das Eure tun, damit es nachwirkt in normalen Leben. So wie wir als Kinder ermahnt wurden: solch ein wunderbares Geschenk, nun aber schnell ein Dankesbrief an die gute Tante! Das reichte oft schon, um die Stimmung zu drücken.
Nein so nicht! Gollwitzer meint es ganz anders, so wie auch Paulus. Weihnachten hat Konsequenzen, so denkt auch der Apostel – nicht moralisch, sondern geistlich.
Der Predigttext des Paulus aus dem Galaterbrief mag im ersten Moment etwas fremd wirken, aber dann entdecken wir doch schnell den weihnachtlichen Ton:
Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau.
Das ist eindeutig. So beginnt die paulische Weihnachtsgeschichte. In den wenigen Worten steckt schon alles drin vom ganzen großen Fest.
Vor allem wird deutlich: Weihnachten ist ein Einschnitt der Weltzeit. Es hat Konsequenzen. Was ihm folgt ist etwas Neues, ja ein neues Zeitalter. Wir zählen unsere Jahre seit dem nicht umsonst „nach Christus“. Was das für Konsequenzen hat für unser Leben, für unseren Glauben, das möchte der Apostel uns erschließen.
Weihnachten, sagt Paulus, ist ein Fest der Freiheit: Gott wird ein Mensch. Er begibt sich durch die Geburt seines Sohnes auf unsere welthafte Ebene. Das adelt gleichsam unser ganzes Menschsein. Wir dürfen uns nun selbst als Kinder Gottes, als seine Söhne und Töchter verstehen. Als seine Kinder? Ja, aber hier gilt ein ganz neuer Begriff von Kindschaft. Kindsein in diesem Sinne hat nichts zu tun mit irgendeiner Form von Kindertümelei, wie sie uns manchmal auch in gut gemeinter Weihnachtsseligkeit begegnet.
Wenn Paulus davon spricht, dass wir wegen der Geburt des Gottessohnes selbst „Kinder“ seien, dann ist „Kind“ hier ein Ehrentitel, ein Qualitätsbegriff. Gemeint ist eine Existenz in Freiheit..
Kind sein – das bedeutet: frei zu sein für einen erwachsenen Glauben, frei von einengenden Vorgaben, frei für ein Bittgebet zu jeder Zeit.
(1) Kind sein – frei für einen erwachsenen Glauben
So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind
So lautet die weihnachtliche Freiheitsbotschaft. Und Kindsein bedeutet hier frei zu sein, die Rechte eines Kindes auch Gott gegenüber haben. So wird es uns in der Weihnachtsgeschichte selbst vor Augen geführt. Das wird deutlich, wenn wir sie einmal von den Menschen her erzählen, die darin eine Rolle spielen, wie sie unter dem Geschehen der Heiligen Nacht aus dem Dunkel und der Unsichtbarkeit heraustreten, wie sie zu erkennbaren Personen werden, Maria und Josef zu Mutter und Vater des göttlichen Kindes, die Hirten zu eilfertigen Boten und aufmerksamen Betern, die ahnungsvollen Touristen aus Morgenland zu Deutern des Geschehens in Bethlehem und Verkündigern des göttlichen Heils. Auf den Weihnachtsbildern der großen Maler aus den verschienen Epochen kann man es wunderbar erkennen: wie da neben der Krippe Persönlichkeiten heraustreten, freie Menschen.
Kindsein in diesem Sinne bedeutet auch für uns, nicht nur Zuschauer bei der Weihnacht zu bleiben, sondern selbst Teilhaber, Akteur, Subjekt des Geschehens zu werden, erwachsen im Glauben Was ich selbst meine und umsetze, ist wichtig. Das wird sich in bestimmten Aktivitäten, religiösen oder sozialen, zeigen, aber nicht nur darin. Es kann auch durch Besinnung geschehen, durch ein sorgsames in sich Gehen. So wie es Angelus Silesius seinen „Cherubinischen Wandersmann“ in den Mund legt:
Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren
Und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.
Dieser sehr bekannte Spruch ist in wenigen Worten gar nicht auszuloten. Was ist gemeint mit „Christus in mir geboren“? Es bedeutet, dass ich ihn in mein Innerstes einlasse, in mein Denken und Fühlen, so dass Christus in mir und durch mich Gestalt gewinnt und dass ich so selbst wie Er Kind Gottes bin.
So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind und Erbe
Was Angelus Silesius in mystischer Sprache zum Aus druck bringt, formuliert Paulus mit rechtlichen Begriffen. Kindsein heißt teilhaben an dem, was des Vaters ist: So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind, wenn aber Kind dann auch Erbe durch Gott. Du hast, anders gesagt, Anteil an dem, was Gott gibt, an seiner Güte, an seiner Liebe, an seinen Versprechungen. Du bist Erbin, bist Erbe der Gnade. Das ist die Gabe der Freiheit, die uns Weihnachten bringt.
(2) Kind sein – frei von einengenden Vorgaben
So bist du nun nicht mehr Knecht…. Das ist Teil der weihnachtlichen Botschaft, und es gilt für alle. Mann muss nicht in Vorleistung gehen, sich nicht einem bestimmten Regelwerk unterwerfen, um an die Krippe zu kommen, um Kind Gottes zu sein oder zu werden. Unsere Christvespern zum Heiligen Abend symbolisieren das: Jeder darf herzutreten. Keiner wird religiös kontrolliert und gefragt: Wann warst zuletzt in der Kirche? Ist dein Glaube richtig? Hast Du überhaupt Kirchensteuer gezahlt? In der Gemeinde der Galater scheint es hier Probleme gegeben zu haben. Eine neue Art von Gesetzlichkeit war in Mode gekommen. Es wurden bestimmte Verhaltensweisen zur Auflage gemacht, wie man sich im Gottesdienst zu verhalten hatte, wie man die Freiertage begehen sollte usw. Außerdem spielten die Unterschiede eine Rolle: woher man kam, welchem sozialen Status man angehörte, ob reich oder arm, Sklave oder Freier. Da ist der alte Knechtsgeist, kritisiert Paulus, und er erinnert demgegenüber daran: wir sind doch „alle in Christus“ (3, 28), also keine Knechte, auch keine Herrn, sondern Kinder Gottes.
Diese Freiheitsbotschaft gilt für jeden von uns, wie unterschiedlich immer wir unsern Glauben verstehen und unser Christsein praktizieren, sie gilt auch für die, zu deren religiösen Gewohnheiten es nicht gerade gehört, am 1. Feiertag in die Kirche zu gehen.
Kinder Gottes sind auch die, die einen langen Weg hatten. In der Seelsorge im Krankenhaus oder in Seniorenheimen kann man ihnen begegnen. Manchmal kommen erst spät die Fragen, die quälen und auf die es die befreiende Antwort gibt: du kannst dazugehören. Wie gut, wenn dann jemand dafür offen ist! Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, damit du dazu gehörst: nicht als Knecht, sondern als Kind und Erbe.
Wer es so sehen und glauben kann, der kann davon ganz praktisch Gebrauch machen; denn:.
(3) Kind sein – da bedeutet auch: frei zu sein für ein Bittgebet zu jeder Zeit.
Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsere Herzen, der da ruft: „Abba, lieber Vater!“
„Abba“ - das ist die vertrauensvolle Gottesanrede im Aramäischen, der Sprache Jesu.
Gott kommt uns nahe, und wir dürfen ihm nahe kommen. Wir sind Kinder, dürfen ihm in den Ohren liegen, „Abba“, lieber Vater schreien – jederzeit und wenn es an der Zeit ist. Tatsächlich liegt auch oft Aufbegehren darin. Das ist nicht Rückfall in eine infantile Lebensphase, sondern Ausdruck der Freiheit unseres Glaubens. Wer so bittet, lässt sich nicht gehen. Es tut etwas. Manchmal ist dafür viel Mut nötig, geboren aus Verzweiflung und Hoffnung.
Wie das konkret aussieht, habe ich gerade von einer Freundin gelernt. Ihre Tochter leidet an einer schweren Erkrankung. Mehrere risikoreiche Operationen wurden in kurzer Zeit notwendig. Was tun, wenn die Angst regiert und man als Elternteil nichts tun kann? Die Mutter schrieb Emails an eine Reihe von Freunden, von Mal zu Mal mit neuen Informationen über den Behandlungsverlauf, über das Auf und Ab und mit der Bitte, für das Kind zu beten – so wie es jeder vermag – mit Worten, Gedanken, Kerzen, Ritualen: Abba rufen im Verbund und mit digitaler Unterstützung. Gott hört seine so unterschiedlichen „Kinder“. Und aus solch einem Abbarufen fließt viel Kraft zurück. Es macht uns stärker in der Not.
Manchmal freilich können wir ungeduldig werden und in das Bitten mischt sich der Zorn der Enttäuschung. Warum spüre ich so wenig? Die Kinder mehr von ihrem Vater erwartet.
So wie es die Rose Ausländer in einem Gedicht „Der alles weiß“ beschreibt. Es beginnt mit der Zeile: „Du weißt, wie diese Tage mir begegnen“. Sie erzählt von ihrem Leid ohne Ende, und dann bricht es, als alles gesagt ist, aus ihr heraus:
Und du, der alles weiß, lässt es geschehen
und sendest nicht ein Herr von Engeln her?
Es ist nicht verwunderlich, dass es eine jüdische Dichterin ist, die uns so an das Abba-Schreien erinnert. Es kommt ja aus der Tradition des alten und unter uns gegenwärtigen Gottesvolkes, und es wird für uns durch Weihnachten erneuert und bestätigt.
Wir dürfen Kindsein vor Gott – mit unseren Wünschen, unsern Klagen, mit unserer Enttäuschung, aber auch mit unserer Dankbarkeit und mit unserer Hoffnung. Wir dürfen Alles sagen, um Alles bitten.
Wer denkt bei dem „Heer von Engeln“, das die Dichterin sich wünscht, nicht an die „himmlischen Heerscharen“ aus der Heiligen Nacht mit ihrem Ehre sei Gott und Friede auf Erden. Vielleicht – nein: gewiss - sind sie nicht endgültig in den Wolken verschwunden und lassen sich herunterflehen, wenn wir nur kräftig von unserer Freiheit Gebrauch machen.
Wir sind doch nicht Knechte, sondern Kinder Gottes und seine Erben!
Lieder zur Predigt: EG 351, 7
EG 27, 1-2.5-6
Nachweise: Helmut Gollwitzer, Die Konsequenzen von Weihnachten, in: Davis Stern steht über Bethlehem, München 1992, 282f; Angelus Silesius, Der Cherubinische Wandersmann, 1. Buch: Rose Ausländer, Wir ziehen mit den dunklen Flüssen. Gedichte, Frankfurt 42008, 187.