Nicht ohne politische Dynamik - Predigt zu Matthäus 1,18-25 von Stefan Knobloch
1,18-25

Nicht ohne politische Dynamik

Diese Nacht, die wir die Christnacht oder die Heilige Nacht nennen, ist anders. Auf welche Weise anders als andere Abende, als andere Nächte, ist nicht leicht zu sagen. Es ist ein Abend, an dem wir uns wie sonst an keinem anderen Abend aus dem Raum der Öffentlichkeit zurückziehen, in die eigenen vier Wände. Und wem die eigenen vier Wände zu öde sind, zu sehr Einsamkeit atmen, der sucht nach Menschen, zu denen er Nähe verspürt. Auch die, die kein Dach über dem Kopf haben, sehnen sich für Stunden nach einem Ersatzdach, unter dem die Christnacht auch für sie etwas Licht verbreitet.

Den anderen Charakter dieser Nacht, dieses Abends, in der sich gleichwohl Spannungen aufbauen, die sich manchmal heftig entladen – früher sprach man dann vom „Festtagsteufel“ -, den anderen Charakter erhält dieser Abend aus dem Bezug auf ein Ereignis, das zweitausend Jahre zurückliegt: die Geburt Jesu Christi.

Vielfach ergreift uns dieses Fest über die lange Kette unserer Erinnerungen an Kindheitsweihnachten bis in spätere und späte Lebensjahre herein. Irgendwie berührten wir dabei die Geburt Jesu über die Schiene alter Weihnachtslieder. Ein ganzes Jahr schlummern sie in uns, an Weihnachten aber kommen sie uns aus der Tiefe in den Sinn. Sie singen von der Geburt Jesu. Dieser Geburt wegen haben wir uns hier in dieser Stunde versammelt.

Nimmt uns da das Evangelium dieses Abends, dieser Nacht bei der Hand, um die Geburt Jesu nicht nur wie ein beinahe entleertes Ritual zu begehen, nach der Devise: „the same procedure as every year“? Sondern trifft es uns? Ganz leicht macht es uns das Evangelium dabei nicht. Schon der erste Satz, „Mit der Geburt Jesu Christi war es so“, könnte uns einladen, einer falschen Fährte zu folgen. Als werde uns hier ein Tatsachenbericht darüber geboten, wie es mit der Geburt Jesu wirklich war. Und schon könnten wir – nicht nur Männer, auch Frauen – Solidarität mit den quälenden Gedanken des Josef empfinden, wie Maria an dieses Kind gekommen sei. Dass gerade dieses Element gerne bei uns hängen bleibt, muss uns angesichts der Erfahrungen unserer Lebensverhältnisse heute nicht wundern. Aber um Probleme betrogener Ehemänner geht es dem Evangelium der Christnacht nicht. Den Schlüssel zum richtigen Verständnis legt uns der Rückbezug auf eine Stelle beim Propheten Jesaja in die Hand: „Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott ist mit uns!“

Um diese Vorgabe aus dem Alten Testament komponiert das Mt-Evangelium seine Darstellung der Geburt Jesu. Die Sätze aus dem Buch Jesaja sieht das Mt-Evangelium in Jesus erfüllt. In ihm, in Jesus, ist der „Gott mit uns“, der Immanuel in die menschliche Geschichte eingetreten. In ihm erfüllte sich eine Verheißung, die im 8. Jahrhundert v. Ch. dem König von Juda, namens Ahas, gegeben worden war. In einer für Jerusalem verzweifelten Situation, in der der König Ahas alle Hoffnung auf Rettung, auf einen guten Ausgang längst aufgegeben hatte. Auf Gott, hieß das, setzte er keine Hoffnung mehr.

Da forderte ihn Gott selbst heraus, so schildert es die Bibel, ein Zeichen der Treue, der Verlässlichkeit Gottes zu verlangen. Aber selbst das konnte der König nicht, er war der Gefangene seiner Verzagtheit und Verzweiflung. In dieser Situation, in der nichts mehr weiterzugehen schien, in der sich Jerusalem am Ende all seiner politischen Künste wähnte und bloß noch das blanke Entsetzen vor Augen hatte, in dieser Situation verheißt Gott in einer unglaublichen Überbietung eine alles überbietende Rettung in einem Menschen, der den Namen Immanuel tragen werde. Er werde der „Gott mit uns“ sein und in ihm werde die Wirklichkeit Gottes mit den Menschen sein.

Einen größeren Gegensatz zwischen der Verzweiflung des Königs und Jerusalems und der alles in den Schatten stellenden überbordenden Verheißung eines „Gott mit uns“ hätte man sich kaum vorstellen können. Genau dasselbe Element taucht in der Darstellung des Mt-Evangeliums auf. Da ist auf der einen Seite Josef, sozusagen restlos bedient von seiner geplatzten Lebensplanung, in Gedanken längst beim Absprung, und auf der anderen Seite Maria, schwanger mit dem Träger aller Verheißungen Gottes! Der, den Jesaja den „Gott mit uns“ nennt, den nennt das Mt-Evangelium den vom Heiligen Geist Empfangenen, den Maria in ihrem Schoß trägt. Und wer er sein wird, als wen er sich zeigen wird, das kleidet das Mt-Evangelium in ein Traumgesicht des Josef. Der, der im Schoß seiner Frau heranwächst, werde Jesus heißen. Denn er werde seinem Volk heraushelfen aus den Untiefen und Verwerfungen der mit den Jahren über Generationen hin gewachsenen strukturellen Ungerechtigkeiten. Er werde heraushelfen aus der Gewalt im öffentlichen wie privat-familiären Lebensbereich, aus der Gewalt gegen Arme, Zukurzgekommene, Unterdrückte, die kaum Luft zum Atmen haben. Der, den Maria in ihrem Schoß trägt, werde, wie es die Bibel ausdrückt, sein Volk von den Sünden erlösen.

Und in der Tat, das ist in Jesus Christus Wirklichkeit geworden. Von ihm ging und geht  Heil, Hoffnung und Licht aus, so dass der Kolosserbrief sagen konnte, in ihm wohnte die Fülle Gottes, oder das Joh-Evangelium ihn so charakterisierte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ und „Ich und der Vater sind eins“. Jesus hat, etwas unweihnachtlich gesprochen, in unser Leben eine Fackel hineingeworfen, einen Brandbeschleuniger aktiviert, durch den sein Feuer sich schneller in unser Leben ausbreiten sollte. Es ist das Feuer der Befreiung des Lebens, das Feuer der Freiheit des Lebens aller Menschen.

Weihnachten ist nicht nur ein besinnlich-familiär-beschauliches Fest. Weihnachten ist ein politisches Fest, ein Fest mit einer gesellschaftspolitischen Dynamik. Zumal heute, wo so viele Herausforderungen auf den Raum der EU andrängen. Gewiss sind hier die Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten verteilt. Wir haben als einfache Leute eine andere Verantwortung als die Politiker an den Schalthebeln der Macht, wobei deren Einflussmöglichkeiten bisweilen auch sehr begrenzt sind. Wie auch immer: Nehmen wir unsere Möglichkeiten wahr, das weihnachtlich-jesuanische Feuer der Befreiung des Lebens aller Menschen in uns zu tragen. Verschließen wir uns nicht, schotten wir uns nicht ab vor den Herausforderungen dieser Tage. Öffnen wir uns vielmehr, von der Weihnachtsbotschaft berührt, mental für die existentiellen Nöte der Menschen, der Familien, der traumatisierten Kinder aus Ländern, die an Gewalt, Unmenschlichkeit, Krieg, kultureller und religiöser Unterdrückung unterzugehen drohen.

Bauen wir Mauern ab, und nicht auf! Feiern wir die Christnacht in der Glaubensgewissheit, dass sich in Christus der „Gott mit uns“ allen Menschen geschenkt hat. Ob sie ihn kennen oder nicht. Auf welchen Wegen, in welchen Kulturen und Religionen sie auch immer den Gott mit uns suchen, in welchen „Schatten und Bildern“ (vgl. die Kirchenkonstitution Lumen gentium 16) auch immer. Zeigen wir einander das menschliche Gesicht Gottes.

 

Perikope
24.12.2014
1,18-25