Noch nicht das Ende - Predigt zu Matthäus 24,1-14 von Christian Stasch
24,1-14

Noch nicht das Ende - Predigt zu Matthäus 24,1-14 von Christian Stasch

„Ich kann nicht mehr. Was, zwölf Kilometer noch? Ich bin am Ende“, seufzt Mike. Keucht er, ächzt er.
Das ist nun doch alles etwas hart für ihn. Sein erster und vielleicht auch letzter Marathon. Spaß in dem Sinne macht das überhaupt nicht. Ja, er hat sich vorbereitet, hat trainiert. Aber so schlimm, so brutal hat er sich nicht ausgemalt.
Die Beine sind ja seit Kilometer fünfzehn wie Blei. Er bekommt sie kaum noch hoch vom Asphalt.
„Wie lang ist es denn noch? Was, noch elf?“
Die Atmung flach, als wäre sein Brustkorb in ein Korsett eingespannt.
Der Bauch tut weh, dreht sich, „gleich übergebe ich mich, ich will nach Hause aufs Sofa.“
Eine andere Stimme in ihm: „Komm schon. Ausharren, Durchhalten, bis zum Ende!“
Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Wie lange noch? Ich bin jetzt schon am Ende.

„Ich kann nicht mehr. Ich bin am Ende“, sagt auch Sonja, seufzend.
Nach 22 Ehejahren. „Hätte nie gedacht, dass wir uns so auseinanderleben.“
Gespräche mit Freundinnen gab es viele. Paarberatung auch. Hat alles nichts gebracht.
Die Ehe ist ihr eigentlich ein hohes Gut. „Aber, Mensch, wie lange denn noch?“
Und wenn´s auf Trennung hinausläuft?
Das hat sie nie gewollt. Sie hat Angst davor, Angst was dann kommt: sich die Kinderzeiten aufteilen, den Frust und die Wut auf deren Rücken austragen?
Und wie wird es mit dem Alleinleben klappen?
Aber was soll´s, es ist einfach aussichtslos. Die Liebe, die einst so heiß war, ist in ihnen erkaltet, im Laufe der Jahre. Eisschrank statt Backofen.
War nicht ihr Traum. Aber um Träume geht es jetzt nicht. Sie muss den Tatsachen ins Auge schauen.
Eine innere Stimme sagt ihr: „Komm schon. Ausharren, Durchhalten, bis zum Ende.“
Aber: Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Ich bin jetzt schon am Ende.

Der Marathon von Mike läuft nicht wie erhofft.
Die Ehe von Sonja läuft nicht wie erhofft.
Das Leben läuft nicht wie erhofft. Auch nicht in der Adventszeit 2016.

Kein vernünftiger Mensch erhofft sich das Leid, das in unserem Predigttext Punkt für Punkt aufgezählt wird, als wäre es die Tagesschau: Krieg, Hungersnot, Erdbeben, Verfolgung.
Verknüpft mit Frage: „Seht ihr das alles nicht?“
Ja. Wir sehen. Sie passieren: Die Kriege in Syrien und im Irak, die Katastrophen in Haiti und Italien, die Niederlagen im politischen wie im persönlichen Leben, die Enttäuschungen.

Sie passieren. Und wir leiden darunter.
Auch wir gläubige Menschen leiden, denn wir haben kein dickeres Fell als andere, wir sind nicht abgebrüht und cool.
Wir Christen nicht, und Juden auch nicht, und Muslime auch nicht.

Und wie nun also umgehen mit den Erfahrungen und Zuständen, die zum Himmel schreien?
Man kann die Augen davor verschließen, man kann die Dinge schönreden, das hilft aber auf Dauer auch nicht.

Was hilft?
Könnte es vielleicht helfen, sich schon vorher die Dinge möglichst realistisch und vielleicht sogar auch durchaus negativ auszumalen?
Hätte es einem Läufer wie Mike geholfen, sich gar nicht so auf das Event zu freuen, also sich schon vorher klar zu machen, dass ein Marathon ungesund, knüppelhart und vielleicht auch zum Kotzen ist?
Hätte es einer Heiratswilligen wie Sonja geholfen, sich schon vor der Ehe auch über das mögliche Scheitern Gedanken zu machen, um dann nicht so negativ überrascht zu sein?
Ich bin skeptisch. Besonders sympathisch ist mir so ein Leben mit angezogener Handbremse nicht.

„Erschreckt nicht.“ So lautet ein Ratschlag in unserem Predigttext angesichts des Leids.
Und weiter wird dort argumentiert: Gewisse Dinge müssen geschehen. Es gibt eine Art festen Zeitplan. Da sind die negativen und bedrängenden Dinge mit enthalten, stehen aber nicht am Ende, haben nicht da letzte Wort. So wie die Wehen innerhalb der Schwangerschaft: Erst der Schmerz der Wehen und der Geburt, dann anschließend das Glück über das neugeborene Kind.
„Komm schon. Ausharren, Durchhalten, bis zum Ende.“ intoniert der Predigttext.
Kann das helfen? Trösten? Stabilisieren?

Mike – der vielleicht doch aufgeben musste.
Bei Kilometer 36 ausgestiegen ist. Eine Woche geknickt war. Jetzt hält er sich an die halbe Strecke: 21,1 statt 42,2 Kilometer – auch kein Pappenstiel. Aber er ist dankbar dafür, dass er die schafft.

Sonja – die sich vielleicht doch von ihrem Mann getrennt hat. Aber dankbar dafür ist, dass sie ziemlich guten Kontakt zueinander haben. Was die Kinder betrifft, aber auch sonst. Komischerweise ist es sogar besser geworden als vor der Trennung. Da war am Ende nur Schweigen, jetzt reden sie wieder miteinander.

Wir feiern Advent nicht als „fertige“ Menschen, sondern als ergänzungsbedürftige Menschen.
Trinken unseren Glühwein und essen den Stollen nicht als selbstzufriedene, sondern als sehnsüchtige Menschen.
Das, was uns zu schaffen macht an eigenem und fremdem Leid, das schieben wir nicht beiseite, sondern bringen es mit.
Anders sind wir nicht zu haben. Dem Slogan „Alles gut“ begegnen wir mit gesundem Misstrauen.

Ein beliebtes Argument gegen Gott lautet: „Wenn es ihn gäbe, dürfte es all das Leid in der Welt nicht geben.“ Ich würde mich verheben, wenn ich das Leid in der Welt erklären wollte, manches ist menschengemacht, anderes aber auch nicht.
Das Leiden an und in der Welt kann uns von Gott wegbringen, zugleich kann es uns aber auch zu Gott hinführen.
Ich bin froh darüber, eine Adresse für meinen Kummer und meine Klagen zu haben. Und ich bin froh darüber, einen ganzen Rucksack mit mir herumzutragen, voller Hoffnungsbilder und Hoffnungsgeschichten. Ich trage sie und ich werde getragen.
Dass Gott mir im Advent entgegenkommt, mein durchwachsenes Leben und meine Enttäuschungen teilt – das ist eines dieser Hoffnungsbilder.
Mit den Worten eines Adventsliedes:

Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte hält euch kein Dunkel mehr.
Von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her. (eg 16)

Jochen Klepper hat dieses Lied geschrieben. Er ist ein Meister darin, Hoffnungsbilder in Sprache zu fassen. 1903 wird er in Schlesien geboren, er studiert Theologie, aber nicht zu Ende. Er arbeitetet bei einer Zeitung. Er verliebt sich in Johanna, eine jüdische Frau, die 13 Jahre älter ist als er und schon zwei Kinder hat, Brigitte und Renate. Viele, auch in seiner eigenen Verwandtschaft, schütteln den Kopf darüber. Heirat, Umzug nach Berlin, beruflicher Erfolg. Aber immer wieder wird Klepper beim Hör-Funk und beim Verlag vorübergehend freigesetzt. Bemerkung: Frau ist Jüdin.
Sie halten sich durch zwei Bücher über Wasser, die sich hervorragend verkaufen: „Der Kahn der fröhlichen Leute“ – eine literarische Liebeserklärung an die Oder, die sich durch Schlesien und Pommern windet. Und dann das Buch „Der Vater“ – über den „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. Es wird 1937 zum Lehrstück für die aktuelle Zeit, denn es beschreibt den „Soldatenkönig“ als den, der den Krieg meidet. Und der als „Landesvater“ ein Beispiel für Recht und Gnade ist und in allem auch nach Gott fragt. Erster Diener des Staates und kein Führerkult. Klepper erhält Lob von vielen Seiten, gerade auch preußische Offiziere der Wehrmacht greifen zu diesem Lesestoff.
Aber das persönliche Leben der Kleppers wird immer schwieriger. Ihnen wird wegen ihrer „nicht-arischen“ Situation das Leben zunehmend zur Hölle gemacht. Die Töchter dürfen nicht mehr in die Schule. Es gelingt immerhin, dass die Tochter Brigitte noch nach England ausreisen kann.
10. Dezember 1942: Drei leblose Gestalten liegen auf dem Küchenboden. Johanna Klepper in der Mitte, ihre Tochter Renate rechts von ihr. Links Jochen Klepper. Und neben ihnen einige leere Schachteln Schlafmittel.
Ein paar Stunden zuvor hatte er die Mitteilung erhalten: Renate darf nicht ausreisen. Damit wurde die Bedrohung übermächtig. Denn vier Tage nach dem Tod wird der Berliner Osttransport Nr. 25 eingesetzt. Zielpunkt: Auschwitz. Kleppers letzter Tagebucheintrag: „Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst. Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott. Wir gehen heute Nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.“

Liebe Gemeinde, ein Glaubensmärtyrer des 20. Jahrhunderts. Ich lasse mir von ihm gern etwas ins Stammbuch schreiben und nehme es als Glaubensstärkung mit in diesen Advent, für mich, und für alle Mikes und alle Sonjas:

Beglänzt von Stern und Lichte,
hält uns kein Dunkel mehr.
Von Gottes Angesichte
kam (und kommt) uns die Rettung her. (eg 16)

Einen gesegneten 2. Advent!
Amen.