#notspeechless - Predigt zu Mk 16,1-8 von Henriette Crüwell
16,1-8

Liebe Geschwister im Glauben,

Grausame Leerstellen machen fassungslos
Der syrische Künstler Khaled Barakeh arbeitet mit Fotografien, die er im Internet findet. Männer und Frauen sind dort zu sehen, die nur einen Augenblick entfernt im Krieg ein Kind verloren haben und es nun fassungslos in den Armen halten. Dabei hat er die toten Kinder so aus dem Bild geschnitten, dass nur noch ihre Umrisse als weiße Leerstellen zurückbleiben und sie auf neue Weise sichtbar werden. Barakeh entlarvt damit die perverse Logik des Krieges und verleiht dem sprachlosen und abgründigen Entsetzen Ausdruck. Ein Entsetzen, das in seiner Heimat schon viel zu lange zum Alltag gehört und das seit dem 24. Februar 2022 nun auch uns in Europa beherrscht.

Leerstelle: das leere Grab.
„Er ist nicht hier!“ rufen auch die Frauen am Ostermorgen verzweifelt, als sie ihren langjährigen Gefährten dort nicht mehr finden, wo sie ihn zu finden glauben. Auch vor ihnen tut sich jene schwindelerregende Leere auf, wie sie Menschen zu allen Zeiten befällt, wenn sie ertragen müssen, dass Gewalt und Krieg ihnen das Liebste genommen haben, was sie hatten.

Die Kriegsfolie des Markusevangeliums
Der Evangelist Markus schreibt sein Evangelium im Jahr 70 unserer Zeitrechnung unter dem Eindruck des ersten jüdischen Krieges, in dem der Römische Kaiser Vespasian mit seinen Truppen über das Land herfiel und Jerusalem dem Erdboden gleichmachte. Welchen Sinn macht da die Rede von der Auferstehung eines Einzelnen vor solchem Wahnsinn, angesichts der Leichenberge von Jerusalem?, fragt Markus. Das Halleluja will ihm nicht so leicht über die Lippen kommen. Es ist ihm einfach nicht möglich, wie Paulus triumphierend zu jubeln: „Tod, wo ist dein Sieg? Wo ist Dein Stachel?“

Markus: Offenes Grab – Offenes Ende
Markus lässt den Zweifel zu und hält die Leerstelle der Sprachlosigkeit und des Entsetzens offen. Denn es ist doch wahr: Sie ist durch nichts anderes zu füllen als allein durch jene, die nicht mehr da sind. Und so findet sein Evangelium auf den ersten Blick ein merkwürdiges und geradezu verstörendes Ende. Die Frauen fliehen, schweigend und zutiefst verzweifelt. Das Grab ist leer. „Er ist nicht hier!“

Sehnsucht nach dem Füllen der Leere
Erst nachträglich sind Erscheinungsgeschichten dazugekommen, die dann noch erzählen, wie er doch wider alle Vernunft da ist. Vielleicht weil die ersten Zuhörer und Leserinnen dieses Schweigen schier nicht aushalten konnten. Vielleicht weil ihre Sehnsucht nach einem Happy End übergroß war. Und wer könnte es ihnen heute, wo es uns wieder die Sprache verschlägt, verdenken?

Die Leerstelle aushalten, gemeinsam zum Grab gehen
Aber wir dürfen diese Leerstelle nicht leichtfertig übergehen, damit jene, die aus dem Leben gerissen sind, nicht vergessen werden, und die Hoffnung wider alles Hoffen nicht abbricht. Wie gut also, dass  dieser offene Schluss des Markusevangeliums in diesem Jahr unser Osterevangelium ist. Denn wir stellen uns damit an die Seite all jener, deren Welt gerade wieder wie ein Kartenhaus zusammenbricht, und die wieder ohne Worte sind. Und so gehen wir heute Morgen mit ihnen und den drei Frauen ans Grab, wie unzählige vor ihnen und nach ihnen, um zu begreifen, was einfach nicht zu begreifen ist und um Trost zu finden in aller Untröstlichkeit. Und Markus beschreibt das so:

Als der Sabbat vergangen war, kauften Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben. Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging. Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war; denn er war sehr groß. Und sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes Gewand an, und sie entsetzten sich. Er aber sprach zu ihnen: Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten. Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingeht nach Galiläa; da werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat. Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemand etwas; denn sie fürchteten sich.

Das trotzige Evangelium als Gegenerzählung
Liebe Geschwister im Glauben, den Augenzeugen, den Männern und Frauen, die damals dabei waren, hat es die Sprache ebenso verschlagen wie den Menschen im zerstörten Jerusalem im Jahr 70 unter Kaiser Vespasian, wie 2015 im zerbombten Aleppo und jetzt im umkämpften Kiew 2022. Markus schreibt sein Evangelium für sie alle, denen der Terror in den Knochen steckt und die nichts mehr in den Armen halten als Leere. Und dass das Markusevangelium mit diesem entsetzen Schweigen endet, ist das pure Gefühl des Zusammenhalts, der aushält, was nicht auszuhalten ist, der dabeibleibt und nicht wegschaut, dessen Worte aus dem Schweigen kommen und die so - auf diese einzig mögliche Weise - dafür einstehen, dass der Tod nicht das letzte Wort behält.  

Das Kind weist den Weg
Denn das Grab ist nicht leer. In den anderen Evangelien sind es Engel, die dort Wache halten. Himmlische Boten. Bei Markus aber ist es niemand anders als ein Jüngling, ein Jugendlicher unter Jugendlichen, die zu allen Zeiten auf den Schlachtfeldern dieser Welt sterben. Ein Sohn unter Söhnen und Töchtern von Müttern und Vätern, die vor Sorge um sie nicht ein noch aus wissen. Ein Kind unter Kindern, die auch im Bombenhagel, im Luftschutzkeller und in den Metrostationen neu geboren werden. Als Zeichen, dass auch mitten im Tod immer und immer wieder das Leben beginnt. Solange Menschen auf dieser Erde leben. „Geht hin und sagt seinen Jüngern, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn sehen, wie er gesagt hat,“ fordert dieses Kind die trauernden Frauen auf, deren Namen an jene Orte erinnern, wo der Krieg am verheerendsten gewütet hat: Maria aus Magdala und Salome, die für Jerusalem steht.

Nicht Flucht, sondern Relecture
Und Weglaufen vom Grab heißt nicht, dass die Frauen dem Auftrag des Kindes nicht folgen. Denn es geht gar nicht darum, die Schuhe zu schnüren und nach Galiläa zu laufen, sondern darum, das Evangelium noch einmal auf der ersten Seite aufzuschlagen und es von Neuem zu lesen. Denn es beginnt doch in Galiläa. Dort, wo die Römischen Besatzer ihren Vernichtungsfeldzug begonnen haben. Und eben dort erschallt die Stimme des Rufers in der Wüste. Eben dort tritt Jesus das erste Mal mit seinem Evangelium des Friedens in das Licht der Öffentlichkeit. Eben dort verknüpft der Evangelist den Schrecken des Krieges mit dem Leben und Sterben Jesu. An all jenen Orten, wo die Römer nur eine große Leere hinterlassen haben, erzählt er von den Wundertaten und von der Liebe, die dort durch diesen Messias neu zum Leben erwacht. Bis hin zum Kreuz, Markus kennt keinen anderen und keinen größeren Trost als diesen! Es ist seine Therapie, nämlich immer und immer wieder den Weg Jesu erzählend nachzugehen, bis er zum eigenen wird.

Aufständische Osterworte in der Sprachlosigkeit
Als die Journalistin Shila Bejaht Kulturschaffende zum Ukraine-Krieg befragen wollte, war stets die erste Reaktion: „Ich bin so sprachlos…! Vereint in ihrer Sprachlosigkeit, ergreifen nun Künstlerinnen und Musiker aus der ganzen Welt unter dem Motto #notspeechless doch das Wort. Sie suchen nach den richtigen Worten. Aber sie schweigen nicht. Wie Markus werden sie zu Zeuginnen und Zeugen. Sie nennen das Böse böse und den Krieg Krieg und sprechen von ihrer Hoffnung wider alle Hoffnung, vom Frieden, den der Krieg nicht geben kann.
Und manchmal hilft ihnen dabei nur noch die Musik. Schweigend sitzt der Pianist Malakoff Kovalski am Klavier, aber seine Finger finden tastend Töne, Klänge, die sich immer wieder abbrechend doch zu einer Melodie zusammenfügen und die Hoffnung wider alles Hoffen hörbar werden lassen.

Wiedersehen. Die Fülle in der Leere
Liebe Geschwister im Glauben, stehen auch wir mit ihnen zusammen auf, reden mit ihnen, weinen mit ihnen und schweigen mit ihnen. Damit die Opfer nicht vergessen werden und die Hoffnung auf Frieden nicht abbricht.
Stehen auch wir mit ihnen auf und tun, was in unserer Macht steht, um jenen beizustehen, die zu Abertausenden in sprachlosem Entsetzen fliehen. 
Stehen auch wir auf und beten um Frieden – zu jenem, der als Schöpfer von Himmel und Erde immer wieder inmitten des Bösen und sogar im Tod noch Raum zum Leben schafft.

Und wo uns die Hoffnungskraft ausgeht, hören wir den Rat des Kindes im leeren Grab am Ostermorgen: „Geht nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn wiedersehen!“
Immer wieder und immer wieder können wir uns aufs Neue hinein erzählen in dieses Leben, das Jesus Christus heißt und von Gott kommt, und unsere Geschichte mit der seinen verweben und verknoten, bis auch uns die Augen aufgehen und wir mit brennendem Herzen erkennen, dass Christus der Auferstandene an unserer Seite ist.
Dann können wir vielleicht leise ins Halleluja einstimmen und glauben: Er ist nicht mehr hier. Er lebt und auch wir sollen leben. Er füllt unsere Leere mit seinem Leben. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Henriette Crüwell

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist Ostersonntag viertel nach zehn im Offenbacher Westend, wo viele Familien schon seit Generationen wohnen und fest verwurzelt sind. Nach der Osternachtsfeier am frühen Morgen kommen 30-40 Menschen verschiedenen Alters, überwiegend aber Ältere, die zu den regelmäßigen Sonntagsgottesdienstbesucher:innen gehören. Sie sind theologisch interessiert und biblisch versiert. Manche erzählen, dass durch die Bilder aus der Ukraine eigene sprachlose Erinnerungen wach werden.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich empfinde ein tiefe Sprach- und Ratlosigkeit angesichts des Krieges in Europa. Und immer wieder sagen mir andere im Gespräch: „Ich bin sprachlos und fassungslos!“ Und mich bewegt die Frage, wie in diese Sprachlosigkeit (oder aus ihr heraus?) von Auferstehung reden? Deswegen war ich sehr dankbar, dass in diesem Jahr ausgerechnet der eigentliche Schluss des Markusevangeliums der Predigttext für Ostersonntag ist. Denn Markus lässt die Sprachlosigkeit zu, hält sie aus und bietet einen Weg des Glaubens an, in dem er die Leerstelle als Leerstelle markiert und sie für die Gegenwart des Auferstandenen offenhält.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Für mich war es eine große Entdeckung, dass Markus sein Evangelium für vom Krieg traumatisierte Menschen geschrieben hat. Siehe dazu ausführlich: Andreas Bedenbender, „der gescheiterte Messias“, Leipzig 2019. Das bewusst offene Ende und die Aufforderung von Ostern und dem leeren Grab her die eigene Geschichte mit dem Weg Jesu zu verbinden, im Jahr 2022 eine sehr tröstliche Osterbotschaft.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Das offene Ende.

Perikope
17.04.2022
16,1-8