Nur keinen Streit vermeiden! - Predigt zu Römer 14,7-9 von Jörg Coburger
14,7-9

I
In unseren beiden Dörfern (Weissbach und Dittersdorf) haben wir unlängst über zehn Sonntage hinweg über Kerninhalte der sogenannten confessio augustana (CA, eg 807) nachgedacht und gefragt: Was gilt? Was bedeutet es, heute ein evangelisch-lutherischer Christ zu sein?
Es waren Themen wie „Erinnerung genügt nicht“ (Abendmahl) oder „Staat und Kirche“ (Artikel 14-16) und auch „Diagnose und Therapie“ (Beichte und Buße, Artikel 11-12), die uns vielleicht noch im Gedächtnis sind. Weil das Reformationsjubiläum begonnen hat und wir die Impulse von damals für heute befragen wollten.

Für einen sinnvollen Ablauf hatten wir es beim ersten Teil der CA belassen müssen. Heute merken wir am Beispiel des Predigttextes abermals, wie neu alte Themen sein können. Artikel 26, „Von der Unterscheidung der Speisen“, widmet sich im zweiten Teil ganz praktischen Fragen des alltäglichen Lebens wie zum Beispiel auch der Ehe. In Artikel 26, der leider hier in unserem Sächsischen Gesangbuch nicht mehr steht, meint Luther: „Vor Zeiten hat man also gelehrt […], dass der Unterschied der Speisen[…] darzu dienen, dass man dardurch Gnad verdiene und fur die Sünde genugtue […]. Aus diesem Grunde hat man täglich neue Fasten […] erdacht [...] und solches hart betrieben, als seien solche Dinge notige Gottesdienst.“[1]

II
Was ist der Hintergrund solcher Sätze? Der heutige Abschnitt kann es zeigen. „Keiner lebt für sich allein, keiner stirbt für sich allein“? Oder: „Schwache und Starke“ im Glauben? Schon einmal hatte Paulus an die Korinther (1.Kor 10,18-22) in den Konflikt um das Götzenopferfleisch aus dem antiken Tempelritualen gesprochen. Die einen: „Das darf man nicht.“ Die anderen: „Wir können und wollen das Götzenopferfleisch essen, auch, weil wir Hunger haben und es außerdem mit unseren Glauben vereinbaren können.“ Dorther stammt auch der bekannte Satz: „Es ist alles erlaubt, aber es frommt nicht alles.“ Es dient nicht alles zum Guten.

Es ist sehr mündig und hellwach, dass darum nicht einfach geschwiegen, sondern gestritten wird. Das ist auch heute in jeder Gemeinde ein gutes Zeichen. Verbindlichkeit und Freiheit sind keine Konserven, sondern müssen in einer sich immer reformierenden Kirche neu erarbeitet werden. Wo so gefragt wird, ist nicht alles egal und dort wird auch nicht alles rein pragmatisch oder unter einem gleichgültigen Toleranzverständnis versteckt. Es gilt: „Das Reich Gottes besteht nicht in Essens- und Trinkvorschriften.“

Das hatte die Reformation wieder entdeckt. Dass alles geschichtlich Gewordene nicht allein darum eine Existenzberechtigung hat, weil es eben so geworden war. Das betrifft keineswegs nur den Bereich von Gottesdienst und Liturgie, den Bereich des Kultischen, sondern unseren ganzen Alltag. Römer 14 ist eine Mahnung zur Selbstreflexion, dass Sinn und Berechtigung in Zweifel gezogen werden können. Und eben genau das gilt nicht nur, wie wir heute gern unterstellen, um „das Alte“ oder „was schon immer so war“, zu hinterfragen, sondern in Redlichkeit auch für „alles Neue und jetzt gerade Angesagte“.

Dazu kommt die Entdeckung - wie auch hier im Römerbrief - einer möglichen Unterschiedlichkeit im Leben vor Gott. Die Prüfung und Berufung auf das eigene Gewissen. Aber mit dem Gewissen ist noch nichts geklärt, sondern die Probleme fangen erst an. Vor allem: Woran mein Gewissen gebunden ist. Ein sogenanntes autonomes Gewissen konnte mir noch niemand nachweisen. Denn gerade wenn es versucht, seine Eigenheit und Individualität verzweifelt zu behüten, ist es narzisstisch und sehr an das Selbst gebunden.

Aber auch Erfahrungen aus zwei Diktaturen, wo sich politische Mächte und Führungspersonen anmaßten, dass Gewissen des Volkes zu sein – der Führer Adolf Hitler oder dann die eine und einzige Partei…? - das macht allergisch und hellwach, wenn political correctness und auch zunehmend religous correctness uns den Mund verbieten wollen.
Nur gut so, vergessen wir diese Erfahrung aus einer Schule des Nachquatschens niemals.
Es kann also auch nicht davon abhängig sein, ob mir jeweils meine Zeit zubilligt, mich auf mein Gewissen zu berufen. Es gibt kein Zurück mehr: Wir werden es tun, komme, was wolle!

Im Römerbrief geht es konkret um den Genuss von Fleischprodukten und Wein.
Vor allem, Fleisch zu essen, das als kultisch unrein galt. (Vgl. 5.Mose 14,3ff.) bzw. nicht nach jüdischem Ritus geschächtet war (Vgl. 5.Mose 12, 20ff).
Oder auf heidnischen Märkten als Opferfleisch verkauft wurde.

Wir bemerken schnell, dass „die Schwachen“ eine distanzierende Zitation von Paulus ist, denn die anderen, die sich selbst für stark halten, nennen sie so. Das ist nicht viel anderes als dass man heute plötzlich ein „Liberaler“ oder als ein „Konservativer“ oder sonst was stigmatisiert wird. Schubladendenken ist leider nicht aus der Welt geschafft. Wir bleiben dafür anfällig. Die Klischees zwischen Osten und Westen Deutschlands treiben nach wie vor fröhliche Urständ. Und was oder wer schwach oder stark ist, mag noch ganz offen sein. Da kann uns ein Gedanke aus Bonhoeffers Ethik helfen: Den Christus im anderen stärker hören als meinen eigenen.

III
Als das grundsätzlich Wichtigste erscheint hierbei für Paulus, dass ich mir bei meinem Handeln, vor allem in der Konfliktsituation etwas denke.
„Was nicht aus dem Glauben geht, ist Sünde.“ (Röm 14,23)

Die Lösung: Paulus beurteilt solche ängstliche Besorgnis als schwach im Glauben, weil sie aus Rücksicht auf das Gesetz die Freiheit des Glaubenden einschränkt. Und darum gibt er sehr wohl den „starken“ Heidenchristen recht, die in ihrer Herkunft solche Probleme nicht kannten. Unterschiede im christlichen Lebensstil dürfen sein und bleiben.

Aber Schwäche und Stärke dürfen nicht Positionen sein, die sich gegenseitig verurteilen, sodass damit christliche Gemeinschaft gestört, gar zerbrochen würde. Wer Christus gehört, wird sich im Sinn seiner Liebe des Schwachen annehmen, anstatt ihm von eigener Sicht aus Schwachheit vorzurechnen.

Die christliche Gemeinde hängt nicht zuerst an solchen Lebensweisen, sondern an ihrer Zugehörigkeit zu dem einen Herrn. Dem gehört mein Leben. Von da aus muss auch niemand sein postmodernes Credo bewachen: „Ich führe ein selbstbestimmtes Leben“ als das höchste aller Güter. Noch einmal: Nach Erfahrungen der Diktatur ist mir der Satz vom selbst bestimmten Leben sehr lieb und verständlich. Nur, wo stehen wir jetzt gerade?

IV
Paulus` und Luthers Konzept heißen: Freiheit in Bindung.
Entfremdung ist damit gerade nicht gemeint. Keine Polemik gegen Selbstverwirklichung. Keine Standpauke gegen Individualismus.
Der Rahmen für das Christsein ist weit und groß. Keine Angst davor, auch einmal zustimmen zu können. Keine Panik, wenn du einmal ganz allein gegen alle stehst. Fürchte dich nicht.

Der Regiewechsel macht es aus. Wir gehören unserem Herrn Christus Jesus, seit der Taufe. Die Taufe hatte doch den Unterschied zwischen Juden und Christen aufgehoben. Heraus aus meiner blanken Eigenmächtigkeit, hin zur Frage, was Gott gefällt. Je mehr Christus in mir Raum gewinnt, desto mehr finde ich zu mir selbst. Wir, dieser ziemlich unterschiedliche Haufen mit seinen Macken und je eigenen Fimmel gehören gemeinsam ihm. Das ist das biblische Konzept. Mein Herz ist befangen. Wir sind frei, nicht nach falschem Applaus zu geilen. Wir sind frei, auch einmal einzustimmen und uns einzulassen, obwohl es nicht unser religiöser Stallgeruch ist und nicht unsere Lieblingsgedanken, die wir schon immer gewusst haben.

Noch einmal Bonhoeffer: „ Nichts kann grausamer sein, als jene Milde, die den anderen in seiner Sünde belässt. Nichts kann barmherziger sein als die harte Zurechtweisung, die den Bruder vom Weg der Sünde zurückruft.“ Oder vielleicht so: Liebe und Klarheit sind wirklich Stärke.
Den Schwachen zu helfen ist stark. Sich helfen zu lassen noch stärker.
Sich auch einmal klein machen zu können – welch ein herrliches Kontrastprogramm in der Zeit von Angeberei und Schaumschlägerei.

V
Wann aber steht alles auf dem Spiel? Wenn es um die Gnade geht.
Wenn wir vor Gott und Mensch punkten und kokettieren wollen. Wenn wir aus lauter Selbstgerechtigkeit auf Gott und die Welt verzichten können.

Wenn wir nur noch lachen oder müde abwinken über die, die nach dem Gemeinsamen und Verbindlichen zwischen allen Unterschieden suchen.

Luther: „Solche Traditiones sind zu einer hohen Belastung des Gewissens geworden.“ Und haben Gemeinschaft zerstört. Der ökumenische Geist war hier von Paulus nicht ausgesprochen bedacht, aber ist deutlich in den Versen enthalten. Wir brauchen als unterschiedlich geprägte Kirchen einander, weil wir von einander lernen können. In diesem Prozess muss ich mir um das je Eigene keine Sorgen machen. Aber ich weiß, dass der Glaube meiner Kirche weiter ist als mein eigener. Das tut gut und entlastet.

 

[1] Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Göttingen 1982, 100ff; Kürzungen vom Autor.

Perikope
06.11.2016
14,7-9