Öffne die Tür, stell dich ins Licht - Predigt zu Offb 3,14-22 von Martina Janßen
3,14-22

I. Ich bin nicht ordentlich. Wenn unerwarteter Besuch kommt, klopft mein Herz. Dann versuche ich Ordnung zu machen. Ich habe drei Stockwerke Zeit. Solange dauert es, bis man von der Türklingel am Hauseingang bei mir oben vor der Wohnung ist. Ich habe nachgezählt. Es sind ca. 27 Sekunden. Je nachdem wie schnell man Treppen steigt. Wenn man darin geübt ist, kann man in 27 Sekunden viel kaschieren. Ich bin nicht nur geübt, ich bin eine Meisterin. Mit den Füßen schiebe ich die Straßenschuhe hinter den Schrank, werfe mit der einen Hand einen Schal über den Zettelberg auf dem Sofa, sammle mit der anderen Hand die leeren Schokoladenfolien ein und stopfe sie hinter die Bücher, wische schnell mit dem Ellbogen den Staub vom Regal, kippe den kalten Kaffee aus den halbleeren Kaffeebechern in die Blumen, staple die Becher und verstecke sie zusammen mit dem gefüllten Aschenbecher hinter dem Schaukelstuhl an der Wand. Ich beherrsche mein Chaos, aber ich verberge es gern. Meistens klappt es. Die Handwerker bemerken das Chaos nicht, das unsichtbar tobt und tummelt. Vermutlich interessiert es sie auch nicht.

II. „Du sprichst: Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts!, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß.“ So schreibt der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes, der, der es wissen muss, an den Engel von Laodizea. So ein Vorwurf trifft, besonders wenn er die richtigen trifft. Laodizea ist nicht irgendeine Stadt, kein piefiges Kaff und keine abgelegene Kleinstadtidylle. Laodizea spielt in der ersten Liga. Wirtschaftsmetropole und Luxuskurort, berühmt für Augensalbe, heilende Wasser und die Produktion von Purpurstoffen, selbst die Segel der Kleopatra sollen aus Laodizea stammen. Das sagt schon alles. Blühende Landschaften, florierende Geschäfte, der Handel boomt, die Wellness-Tempel brummen, die Nasen trägt man in Laodizea hoch. Und doch: Alles „fake“, nichts echt, nichts dahinter, nichts hinter all den Hüllen aus Samt und Seide, den Salben und Tinkturen, all dem Purpur, Gold und Geld. All euer Reichtum, eure Heilkunst, eure Schönheit kann eure innere Armut nicht verdecken. Volle Kassen, leere Herzen: so seid ihr. Solche Worte stellen alles auf den Kopf, gehen durch Mark und Bein. Wenn jemand so den Finger in die Wunde legt, geht es ans Eingemachte. Da bricht der stolzen Stadt nicht nur ein Zacken aus der Krone, da steht sie völlig ohne da. Als ob das nicht reichen würde, der treue und wahrhaftige Zeuge schreibt noch mehr. Mit euch ist nichts los. Seht euch doch an: salzlos, kraftlos, ungenießbar, ohne Biss. So was Laues schmeckt Gott nicht. „Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“ Ihr seid lauwarmes Wasser ohne was drin, kein Spritzer Zitrone, kein Salz, kein Zucker, kein Prickeln, kein Sprudeln, geschmacklos, gefühllos, nutzlos. Salzloses Salz seid ihr: „Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten“ (Mt 5,13). Mehr noch: Wer seid ihr eigentlich unter euer Maske? Wofür steht ihr? Für was steht ihr ein? „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Bösen“ (Mt 5,37). Bei euch gibt es kein „ja“ und kein „nein“, nur ein bisschen vielleicht. Eure Rede ist wie ihr – nicht warm, nicht kalt, nicht Fisch, nicht Fleisch, nichts Halbes, nichts Ganzes, einfach nur schal und abgestanden. Laodizea wird vom Sockel geholt. Das tut weh. Wer hoch steht, fällt bekanntlich tief. Ein Liebesbrief ist das nicht. Eher eine Abmahnung, eine Abreibung, eine Abrechnung. Unter deinem Purpur bist du nackt, trotz deiner Augensalben willst und kannst du nicht sehen, trotz deines Reichtums bist du arm, echt arm. Da wird der schönen Stadt der Kopf gewaschen, das kann sie nicht einfach an sich abperlen lassen. Die Purpurschleier fallen und das Gold zerbröselt zu Staub. Die Tarnung fliegt auf. Außen hui, innen pfui. Nackt, blind und bloß. Komplett bloßgestellt.

Aber es bleibt ja nicht beim Fertigmachen, Kleinmachen und Runtermachen. „Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich.“ Also doch ein Liebesbrief? Vielleicht. Wahre Liebe redet einem nicht nach dem Mund, sondern öffnet einem die Augen. Laodizea: Du kannst ja werden, was du nach außen hin bist: reich, sehend, schön. Wenn du zu dir stehst, deinen Standpunkt findest, dir selbst ins Gesicht sehen kannst, wenn du erkennst, was du wirklich brauchst. „So sei nun eifrig und tue Buße!“ Laodizea wird vom Sockel geholt, bleibt aber nicht auf dem Boden liegen, zertreten, zertrampelt, zerstört. Laodizea hat die Chance, aufzustehen, sich ins Angesicht zu sehen und ins Licht zu gehen. „Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen“ – gehüllt in weiße Gewänder, geschmückt mit geläutertem Gold und mit offenem Blick. Ein Angebot: Thron statt Sockel. Eine Ermunterung: Lies den Brief, öffne die Tür. Auch wenn es weh tut: Am Ende kann es gut werden, wirklich gut.

III. Der, der an Laodizea schreibt, weiß Bescheid. Nicht nur in Laodizea (was ginge uns das auch an?). Sieben Sendschreiben gibt es in Johannesapokalypse. Sieben ist eine symbolische Zahl und steht für Vollkommenheit. Der, der schreibt, weiß in der ganzen Welt Bescheid. Er schreibt an jede Stadt, jedes Dorf, jedes Haus, jeden Menschen, jedes Herz. Öffnest du seinen Brief? Verweigerst du die Annahme? Lassen dich seine Worte kalt oder entzünden sie eine tief versteckte Sehnsucht in dir?  „So sei nun eifrig und tue Buße!“ Hältst du dir die Ohren zu, wenn er spricht? Verschließt du Augen vor dem, was er dir zeigt? Oder lässt du dich darauf ein? Bereite der Maskerade ein Ende, betäube, blende, betrüge dich nicht, lass all die Kosmetik sein. Vielleicht kann man im Leben eine Menge kaschieren und vielleicht muss man das manchmal auch, um sich zu schützen, sein Gesicht zu wahren und sich aus der Schusslinie zu nehmen. Das ist gut so. Nicht alles muss ans Licht. Es spielt keine Rolle, wie es bei mir oder wie es bei Hempels unterm Sofa aussieht. Wie es in uns aussieht, darauf kommt es an. Auf all das, was wir verbergen, übertünchen und verhüllen wollen, auf die Dinge, die wir kleinreden, wegreden und schönreden wollen, aber nicht können. Es gibt Dinge, die muss man klären, denn die machen leer und schwer, einsam und krank, an die muss man ran. Es gibt Dinge, die kann man nicht zudecken oder sich davor verstecken. Die Rechnung geht nicht auf. Wenn man den Kopf in den Sand steckt, guckt der Po immer noch raus. Machen wir uns nichts vor. Unterschwellig ist es oft nicht so, wie es scheint, unterschwellig ist vieles nicht in Ordnung. Gott schaut hinter meine Fassade. Er sieht nicht nur das Zettelchaos unter meinem Schal, die Schokoladenpapiere zwischen den Büchern, Kaffee und Kippen hinter dem Schaukelstuhl. Darauf kommt es nicht an, nicht auf das Chaos in meinen Räumen, sondern auf das Chaos, das in meinem Inneren tobt und tummelt. Gott sieht mich wie ich bin, mit meinen Narben und mit meinen Farben, ob ich das will oder nicht. In Gottes Blick spiegelt sich all das, wovor ich die Augen verschließe. Es liegt an mir, das zu sehen, mich selbst zu sehen, nackt, bloß, maskenlos; es liegt an mir, mich dem Chaos in meinen Leben zu stellen, all die Decken zu lüften und freien Blick auf all die Schmuddelecken zuzulassen. Damit Ordnung in mein Leben kommt, damit mein Leben in Ordnung kommt. Anders gesagt: Wenn ich mir all die Schminke im Gesicht abwaschen lasse, mit der ich meine blutleeren Lippen Purpur färbe, meine Augenringe kaschiere und meine Falten überdecke, dann sehe ich mich wie ich wirklich bin. Das kann wehtun, aber ich kann mich fragen: Was setzt mir zu? Warum bin ich erschöpft, ausgelaugt, gequält? Was brauche ich? Ich kann mich dem stellen, was mich niederdrückt. Dann fühle ich mich wirklich gut und sehe nicht nur so aus.

IV. „So sei nun eifrig und tue Buße!“ Adventszeit ist Bußzeit. Zeit, sich infrage stellen zu lassen, sich zu sehen wie man wirklich ist und zu erkennen, was man wirklich braucht. Woher kommt dein Schmerz? Was lässt dein Blut gefrieren? Wofür brennt dein Herz? Diese Fragen können ein neuer Anfang sein. Bußzeit heißt verzichten – auf die Fassaden, die wir errichten, auf die Nebelkerzen, die wir werfen, auf den schönen Schein, den wir wahren. Darauf zu verzichten, kann schwerfallen. Das kann erst mal weh tun, mal mehr, mal weniger. Vielleicht geht ein Riss durch die Fassade, vielleicht bröckelt der Putz kiloweise, vielleicht bricht auch das ganze Leben zusammen wie Kartenhaus. Doch dann kann etwas Neues geschehen, dann kann ein neues Haus entstehen, dann kann man aus all den Trümmern auferstehen. Adventszeit – Zeit zu entdecken, wie kostbar die Risse in der Fassade sind: „There is a crack in everything, that’s how the light gets in“ (Leonard Cohen).

„Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.“ Klopft dein Herz, wenn Gott anklopft? Was tust du? Öffnest du die Tür oder schiebst du einen Schrank davor? Lässt du Gott in das Chaos deines Lebens, ungeschönt, ungeschminkt, ungeschützt? Der, der anklopft, weiß wie es hinter deiner Tür aussieht. Öffne die Tür, stell dich ins Licht. Er hält dir den Spiegel vor, und wenn es wehtut, was du siehst, hält er deine Hand. Er wischt den Zweifel weg wie alten Staub und schenkt dir Gewissheit ein, den Kelch randvoll, er umhüllt dich, salbt deine Narben und tröstet dein Herz. Dann weißt du, wer du wirklich bist – und dass Gott bei dir ist. „Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.“

Amen. So es sei.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastorin Dr. Martina Janßen

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Vor Augen steht mir ein Gespräch mit einer Jugendlichen, die angesichts der globalen Krisen (Klima, Corona, Energie, Krieg) ein schlechtes Gewissen wegen ihrer persönlichen Problemen hat. Vieles in ihrem Leben ist nicht geklärt, ihre Stimmung steht im Gegensatz zur kommenden Advents- und Weihnachtszeit. Das hat mich nachdenklich gemacht. Und mich dazu gebracht, bewusst auf die Thematisierung der „großen“ Krisen zu verzichten, um den einzelnen Menschen in ihrer persönlichen Not gerecht zu werden.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt hat mich die Sperrigkeit des Predigttextes: der anklagende, fast beleidigende Stil und die überbordende Bildersprache. Was kann der Nutzen solcher polemischen Invektiven sein? Eine mögliche Antwort: Wahre Liebe redet nicht nach dem Mund, sondern öffnet einem die Augen. Vielleicht kann der Verzicht auf Diplomatie auch manchmal heilsam sein...

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Begleiten wird mich die Aufforderung zur schonungslosen (Selbst-)Erkenntnis gegen all den schönen Schein – gerade in Zeiten der „toxic positivity“ und der Verschleierung durch sprachliche Euphemismen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Manchmal tut es gut, aufzuräumen – in der Wohnung und in den eigenen Texten und Gedanken: einiges wegwerfen, anderes neu dekorieren, Sätze umräumen, Sperriges entrümpeln und Worte in ein neues Licht rücken. Ein Prozess, der nie endet...

Perikope
27.11.2022
3,14-22