[In dankbarem Gedenken an Peter von der Osten-Sacken (1940-2022), der so vielen die Augen geöffnet hat.]
17Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. 18Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht. 19Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich. 20Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.
Jesus, der Jude
Lange suchte man danach,
was an dem Menschen Jesus wirklich historisch nachweisbar ist.
Viel fand man nicht.
Nur eines stand für christliche Theologen von Anfang an fest: Es durfte nichts Jüdisches sein.
Heute wissen wir: Es gibt nichts an Jesus, was historisch gesichert ist, außer:
Er war Jude.
Sohn der Jüdin Miriam und des Juden Joseph.
Wird am 8.Tag mit der Beschneidung in den Bund Gottes aufgenommen
und bekommt den Namen Jeshua - Gott wird retten.
Und wächst jüdisch auf:
„Mit fünf Jahren soll man die Heilige Schrift lesen,
mit zehn die Mischna,
mit dreizehn die Gebote erfüllen,
mit fünfzehn den Talmud studieren…“ (Mischna Avot V, 24 unter https://de.wikisource.org/wiki/sprüche_der_väter aufgerufen am 2.7.2022)
Er isst und trinkt und lebt koscher, trägt Schläfenlocken.
Lernt wie andere jüdische Jungen die Tora
in der Synagoge in seiner Heimatstadt Nazareth
und dann auch im Tempel in Jerusalem,
lernt sie auswendig –
die fünf Bücher Mose, dazu die Propheten, die Geschichtsbücher, die Psalmen -
und hat sie so by heart – im Herzen.
Trägt sie im Gottesdienst zärtlich im Arm, küsst sie,
tanzt mit ihr am Torafreudenfest wie mit einer Braut.
Mit dreizehn verspricht er ihr die Treue als Bar Mizwa – Sohn des Gebotes
und ist damit religionsmündig.
Gott wird nicht einfach Mensch.
Er wird tora-treuer Jude, Teil seines Volkes Israel.
Unser Herr und Bruder, er war kein Christ.
Als Jude hat er gelebt, als Jude ist er gestorben.
„INRI – Jesus von Nazareth, König der Juden“.
Das macht ihn uns fremd.
Passt nicht ins Bild.
Seine Jüngerinnen und Jünger waren jüdisch,
die erste Gemeinde von Messiasgläubigen hielt fest an den Geboten der Tora.
Selbst vom Neuen Testament bleibt nicht viel übrig,
wenn wir alle Zitate und Anspielungen auf die Tora daraus entfernen würden.
Wer Jesus Christus begegnet, kommt am Judentum nicht vorbei.
Wie konnten Christen das über lange Jahrhunderte überlesen,
als unwichtig erachten, nicht wahrhaben wollen…?
Der uns die Augen öffnet
Und dieser Jude Jesus öffnet uns die Augen für die Tora.
Lehrt uns sehen.
Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin,
das Gesetz oder die Propheten aufzulösen;
ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.
(Zum Folgenden Matthias Loerbroks: Matthäus 5,17-20, in: Israelsonntag 2015. Denkt nicht, ich sei gekommen, die Tora und die Propheten außer Kraft zu setzen. Predigthilfe & Materialien für die Gemeinde Hg. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. 2015, S. 40)
Gäbe es eine Hitliste für die erfolglosesten, wirkungslosesten, folgenlosesten Bibelworte – dieses von Matthäus hätte gute Chancen, auf dem ersten Platz zu landen.
Aber auch Paulus hätte gut Chancen z.B. mit
„Schaffen wir die Tora ab durch den Glauben? Das sei ferne!
Sondern: Wir richten die Tora auf!“ Röm 3,31
oder „Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne!“ Röm 11,1
Denn was Matthäus und Paulus hier zurückweisen,
genau davon sind viele Christen noch immer überzeugt:
dass Jesus gekommen ist, das Gesetz und die Propheten –
seine Heilige Schrift, die wir Christen bezeichnenderweise das „Alte Testament“ nennen –
mit seinem Kommen zu „erfüllen“:
Im Sinne von: ein für alle Mal für erledigt zu erklären, abzulösen, zunichte zu machen.
So wie am 9. November 1938 die Torarollen in den Synagogen vernichtet wurden.
Sich mit der vermeintlichen Überlegenheit der Jesus-Gebote gegenüber der Tora brüsten:
– Nicht nur meinen Nächsten lieben, sondern sogar meinen Feind!
nicht wissend, dass auch dies schon in der Tora steht –
Und es zugleich mit den Geboten insgesamt nicht so genau nehmen.
Jesus will seine Heilige Schrift, die Tora, nicht abschaffen.
Er richtet sie auf, macht sie stark.
Nimmt uns Christen mit in die Judenschul, ins Lehrhaus.
Um uns die Augen zu öffnen, dass wir sehen lernen.
Wie das ist, wenn Jesus mit uns ins Lehrhaus geht, zeigt uns Yentl.
Freude an der Tora
Yentl ist die Tochter des Rebbe Mendel in einem kleinen Shtetl in Polen
Anfang des letzten Jahrhunderts.
Der lehrt sie von Kindheit an heimlich die Tora,
die fünf Bücher Mose, die ganze hebräische Bibel.
Und auch den Talmud, die Auslegung der Bibel.
Und Yentl liebt das – mehr als alles andere auf der Welt:
zusammen mit dem Vater zu lernen.
Der Haushalt ist ein einziges Chaos, von einer Ehe hält Yentl erst recht nichts.
Denn all das hält sie nur ab von dem, was wirklich wichtig ist.
Egal, ob das Toralernen für Frauen damals schicklich war oder nicht –
als der Vater stirbt, bleiben ihr nichts als seine Bücher.
Kurzerhand schneidet sie sich die Haare, kleidet sich wie ein Mann
und nimmt den Namen ihres verstorbenen Bruders an – Anshel.
Noch in der Nacht verlässt sie ihre Heimat,
um als Student in eine Jeschiva, ein jüdisches Lehrhaus, einzutreten.
Hier bilden immer jeweils zwei Studenten eine Lerngemeinschaft.
Tag und Nacht diskutieren sie sich leidenschaftlich und buchstäblich
durch die Tora und den Talmud.
In einem Lehrhaus geht es laut zu.
Da wird gerungen, um die Tora und ihre Auslegung im Talmud richtig zu verstehen.
Denn manchmal hängt die Bedeutung tatsächlich an einem einzigen Buchstaben.
Das kürzeste Wort im Hebräischen ist ein Buchstabe.
Ein kleiner Punkt für einen Vokal kann die Bedeutung eines ganzen Satzes verändern.
Das hat nichts mit Buchstabengläubigkeit zu tun.
Es geht immer ums Ganze.
Wie ist das Wort zu verstehen?
Was könnte das heute für unser Leben bedeuten?
Wie können wir Gottes Willen in die Tat umsetzen?
Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe
noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.
Für Yentl/Anshel ist das der Himmel auf Erden!
Und schnell verschafft sie sich Respekt:
Nicht die scheinbar klügsten Antworten sind entscheidend.
Da gibt es immer viele verschiedene Möglichkeiten, die Tora zu verstehen.
Vielmehr auf die klügsten Fragen kommt es an!
Sie bringen eine Diskussion weiter.
Eine Lerngemeinschaft fürs Leben!
Sie lernen, essen, wohnen – und sie feiern zusammen!
Da wird viel gesungen, ordentlich getrunken und getanzt –
mit der Torarolle liebevoll im Arm.
Sie ist ihr größter Schatz!
(Soweit aus der Erzählung „Yentl the Yeshiva Boy“ von Isaac Bashevis Singer)
Tora lernen und tun
In den meisten Bibeln wird Tora mit „Gesetz“ übersetzt.
„Gesetz“ – das klingt nach Straßenverkehrsordnung, trockenen Buchstaben.
Gesetze überführen mich, offenbaren meine Verfehlungen.
Von Jesus lernen wir: Etwas ganz anderes ist die Tora.
Nachdem Gott Israel aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat,
gibt er ihm die Tora als Leitfaden zum Leben in Freiheit.
Da Freiheit nie allein, nur in der Gemeinschaft aller zu haben ist,
braucht es auch Gebote, Wegweiser.
Aber sie ist viel mehr als das.
Sie ist ein Geschenk, gute Botschaft, Evangelium.
Sie erzählt von Gottes Anfang mit der Welt, der ganzen Menschheit,
wie er sich nach einer Beziehung zu ihr sehnt und seinen Segen auf sie legt.
Dann aber von der besonderen Geschichte Gottes mit seinem Volk.
Wie er es erwählt, segnet, leidenschaftlich und treu zu seinem Bund mit Israel steht.
Wie er für die Armen eintritt, die mehr als Mitleid verdienen.
Ein Anrecht auf Gerechtigkeit haben sie, nicht weniger.
Wie er leidenschaftlich für die Fremden eintritt:
Vergesst niemals, ihr seid selbst einmal Fremde, Ausgestoßene auf der Flucht gewesen.
Ein gerechter Gott - und noch mehr ein Barmherziger.
Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören,
lassen sie sich auch nicht überzeugen,
wenn einer von den Toten aufersteht. Lk 16,31
Auf die Tora hören, lernen und sie auch tun.
Miteinander streiten über den wahren Kern.
Wie bestimmt sie unser Leben?
Auch Jesus streitet heftig, wie so oft mit den Pharisäern und anderen Schriftgelehrten.
Selbst gelehrt in der Schrift, steht er gerade ihnen so nahe.
Ein Streit unter Juden und geht uns Christen eigentlich nichts an.
Aber hier geht es um die, die Gottes Willen in der Tora zwar lernen und lehren,
aber nicht tun.
Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst
und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich;
wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.
Und da geht es uns plötzlich doch etwas an.
Trifft uns an empfindlicher Stelle.
Da hilft auch nicht die Entschuldigung,
alle Gebote könne man ja ohnehin nicht halten.
Schließlich ist der Gott Israels ein barmherziger Gott, der gerne vergibt.
Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken
und bekehre sich zum HERRN, so wird er sich seiner erbarmen,
und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung. Jes 55,7
Wie können wir Gottes Willen in die Tat umsetzen?
Wie steht es mit unserer Gerechtigkeit und unserer Barmherzigkeit?
Heute, am Israelsonntag – und nicht nur heute.
Heute kann es heißen, das bleierne Schweigen zu antisemitischen Gewalttaten zu brechen.
Aufzustehen gegen Judenhass jedweder Art – in Gedanken, Worten und Taten.
Damit Jüdinnen und Juden endlich sicher in Deutschland leben können.
Mein Christsein neu sehen lernen
Wie kann ich neu sehen lernen?
Dazu brauche ich Menschen, die mit mir in die Wunder der Tora eintauchen
und mir helfen, sie zu entdecken und zu verstehen.
Mit Yentl/Anshel, für die es nichts Schöneres gab, ins Lehrhaus.
Seit über 40 Jahren lernen Juden und Christen die Tora gemeinsam.
In Jerusalem, beim Kirchentag und an vielen anderen Orten
finden gemeinsame Tora-Lernwochen statt.
Christen tauchen in eine neue Welt ein,
lassen sich die Augen öffnen.
Sich von jüdischen Lehrerinnen und Lehrern
durch das Meer der jüdischen Auslegung führen.
Gemeinsam fragen nach ihrer Bedeutung damals und heute.
Im Respekt vor dem Glauben des Anderen.
Ohne Angst, verschieden zu sein.
Und noch wichtiger: ohne Angst, etwas zu verlieren,
was bisher als unveränderliches Fundament meines Glaubens feststand.
Den Irrglauben zu verlieren, dass Jesus Christus gekommen ist,
um die Tora abzulösen,
dass die Kirche das neue Gottesvolk ist
auf Kosten des Gottesvolkes Israel –
das ist wahrlich kein Verlust.
Es ist auch kein Verlust zu entdecken,
dass das Neue Testament nichts Neues bringt,
was nicht schon im Alten aufscheint.
Auch das Neue bleibt beim Alten.
Das Alte ganz neu, mit neuen Augen lesen.
Alle Verheißungen an Israel und die anderen Völker der Erde sind dort schon enthalten
und werden im Neuen durch Jesus Christus bestätigt und bekräftigt.
Ein beglückender Gewinn ist es zu entdecken:
Gott hat in Jesus Christus die Wege geebnet,
auf denen wir Nichtjuden zu dem Gott Israels dazu kommen dürfen.
Stellvertretend für sein bleibend gesegnetes Gottesvolk
ist er zum Licht für uns Nichtjuden aus den anderen Völkern geworden.
In ihm dürfen wir mit Israel zuhören,
Lebenswichtiges mitlernen,
uns mitsegnen lassen.
Neu sehen lernen – ein Leben lang.
Dafür bin ich dankbar.
Einfach nur dankbar.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Großstadtgemeinde mit einem hohen Anteil an Akademiker*innen. Der Gottesdienstbesuch wird eher überschaubar sein wegen der Ferienzeit.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt haben mich Stationen auf meinem eigenen Lernweg und meine Lust an lebenslangem Lernen.
Wer sich mehr mit diesem Themenkreis beschäftigen mag, dem seien die „Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext“ ans Herz gelegt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die unterschiedlichen Stellungen der Autor*innen im NT zur Tora.
Wann beginnt das Christentum und wo wird das Judentum aus der Kirche verdrängt?
Am Israelsonntag geht es letztlich um eine Umkehrbewegung. Wie macht die Predigt „Lust“ auf Umkehr?
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Wichtig waren die Hinweise meiner Predigtcoach auf mögliche theologische Missverständnisse. Vor allem das Missverständnis, es ginge mir in meinem theologischen Engagement um eine Vorliebe für eine bestimmte Religion, in diesem Falle das Judentum, also um ein rein judaistisches Interesse. Tatsächlich geht es mir um den Kern unseres christlichen Glaubens, der in 2000 Jahren Fixierung auf das Judentum als Negativfolie selbst Schaden genommen hat.