Ohne Brot keine Gerechtigkeit, ohne Gerechtigkeit kein Brot - Predigt zu 1Tim 4,4-5 von Anne-Kathrin Kruse
4,4-5

I. Für Herz und alle Sinne ein Fest

Erntedank - ein Fest fürs Leben.
Sonnenblumen und dicke Kürbisse in leuchtendem Orange.
Die Pflaumen platzen fast vor Süße
und verbreiten einen verführerischen Duft.
Gelbe Butterbirnen und fein säuerlich duftende Cox-Orange
sorgen für Augenweide, Nasenkitzel und Gaumenfreuden.
Paprika, Tomaten, Porree leuchten um die Wette.
Herr, mein Gott, Du bist sehr herrlich!
Du bist schön und prächtig geschmückt.
Licht ist Dein Kleid, das Du anhast.

Trauben und Ähren und ein riesiger frischgebackener Brotlaib
mit einem Kreuz heute auf dem Altar.
Dass Du Brot aus der Erde hervorbringst,
dass der Wein erfreue des Menschen Herz.


Gott schafft und schafft.
Jeden Morgen neu
lässt er das Licht gegen die Finsternis aufscheinen.
Du breitest den Himmel aus wie einen Teppich.
Ringsum spiegelt er sich in den Flüssen und Seen.
Du lässt Gras wachsen für das Vieh
und Saat zu Nutz den Menschen,

Rinder, Schweine, Ziegen, Schafe und Geflügel –
Lebewesen mit eigener Würde,
am selben Tag wie die Menschheit erschaffen und von Gott freundlich angesehen.


Du kommst daher auf den Fittichen des Windes.
Kleingärten mit Kraut, blau, grün und weiß.
Zwiebeln und Kartoffeln in brauner Erde.
Gartenzäune, die die Blumenpracht ordnen.
Ich reibe mir die Augen bei so viel Schönheit.
Herr, wie sind Deine Werke so groß und viel!
Du hast sie alle weise geordnet.

 

Musik dringt ins Ohr.
Kinderlachen geht darin auf.
Menschen aus aller Herren Länder feiern.
Gott, Du hast so unendlich viel Phantasie!
Und Du liebst sie alle.
Ich danke dir, dass ich – wie sie – wunderbar gemacht bin,
wunderbar sind deine Werke.

Dein Herz muss riesig sein.
Gerne würde ich sie alle mit Deinen Augen sehen.
 

Sehen – staunen – sich über diese Pracht Gottes freuen – und dafür danken.
Der Predigttext für heute klingt fast wie eine Gebrauchsanweisung dafür:
Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut,
und nichts ist verwerflich,
was mit Danksagung empfangen wird;
denn es wird geheiligt
durch das Wort Gottes und das Gebet.

 

Der Brief an Timotheus führt uns ganz an den Anfang der Bibel.
Ein Loblied erklingt da auf Gottes Schöpfung
Mit dem Refrain, dass sie gut war, ja sogar sehr gut.
Heilig ist die Schöpfung, weil sie ganz und gar Gott gehört.
Kein übelgelaunter Tyrann,
der seinen Geschöpfen alles verbietet, was Spaß macht.
Gott ist sich nicht zu groß,
um sich für alles auf seiner Erde leidenschaftlich einzusetzen,
dass alle ein gutes Leben haben sollen.
 

II. Ohne Gerechtigkeit kein Brot

Wie begehen wir den Dank für die Ernte 2024?
Im Frühjahr blockierten Zugmaschinen zu Hunderten die Autobahnen
und dröhnten nachts mit Aufblendlicht in die Hauptstadt.
„Ist der Bauer ruiniert, wird dein Essen importiert!“
prangt auf den Kühlern der Traktoren.
Die Landwirte und Landwirtinnen sind wütend,
fühlen sich und ihre Not nicht wahrgenommen.
„Was nützt die größte Leidenschaft, wenn man davon nicht leben kann.“,
klagt eine Winzerin.
Wachse oder weiche!
Mit den Höfen sterben Handwerksbetriebe,
Gastwirtschaften und Lebensmittelläden auf dem Land.
Die Dörfer veröden.
Die Entfremdung zwischen Stadt und Land wächst.


Es ist nicht alles gut. Manches ist verwerflich.
Die schweren Unwetter und Überschwemmungen,
zugleich die Verödung ganzer Landschaften –
die Wissenschaftler werden nicht müde zu warnen:
das alles ist nicht Gottes Werk.
Es ist menschengemacht –
und trifft zuallererst die Unschuldigen.

Von der jüdischen Tradition lässt sich lernen:
„Ohne Brot keine Gerechtigkeit – ohne Gerechtigkeit kein Brot“.
Zum jüdischen Erntefest wird die Gerechtigkeit großgeschrieben:
Weil Gott seinem Volk ein gutes Leben geschenkt hat,
sollen alle an diesen Tagen feiern und fröhlich sein können,
auch die Schwächsten in der Gesellschaft.
Wenn die Landwirte ihre Felder, die Gott ihnen geschenkt hat, abernten,
dann sollen die, die kein eigenes Land besitzen,
einen Anteil an der Ernte bekommen.
Kein Almosen – einen Anspruch haben sie auf Gerechtigkeit.
Denn Hunger ist kein Schicksal, er ist menschengemacht.
 

III. Atemholen

Das große Sehnsuchtslied, mit dem die Bibel eröffnet,
es besingt die große Vision vom Frieden, von Gerechtigkeit, vom Shalom,
von einem gemeinschaftlichen Leben für alle Kreaturen.
„Krone der Schöpfung“ ist nicht die Menschheit.
Für ihre Schöpfung ist nicht einmal ein eigener Tag reserviert.
„Krone der Schöpfung“ ist der Schabbat, der siebte Tag.
An diesem Tag vollendet Gott sein Schöpfungswerk:
Er selbst schöpft Atem.
Er schöpft, er ruht
und er macht dieses Atem-Schöpfen den Menschen zum Geschenk.
Ein Festtag für Leib und Seele,
mit Zeit zum In-die-Sonne-Blinzeln und Nichtstun,
mit endlosem guten Essen, mit Wein und guten Gesprächen.
Alle bringen etwas mit und teilen,
Brot und Wein,
Freude und Schmerz.
Tröstende Worte und heilende Worte –
sie gehen ins Herz und in die Seele.
Da, wo sie gebraucht werden.
Das Herz wird satt.
Und die Seele verdurstet nicht.
Was für ein schöner Tag!
Und das jede Woche –
danke für dieses große Geschenk der Freiheit! 
Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut,
und nichts ist verwerflich,
was mit Danksagung empfangen wird.


Gott segnet das Unterlassen, das Aufhören-können.
Vorbild für ein Leben, das im Machen nicht aufgeht.
Das Glück dieser Erde als Geschenk annehmen und genießen,
eher Gärtnerin und Gärtner sein denn Herrenmenschen.
Dafür sorgen, dass alle etwas davon haben und zu ihrem Recht kommen.

Schabbat – das lerne ich für den Sonntag –
das ist der „Palast in der Zeit“, das eigentliche Heiligtum,
der Ort, wo Gott ganz nahe ist.
Wo alle – Mensch und Tier – Atem holen dürfen
und davon kosten können, was es heißt, frei zu sein.
Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut,
und nichts ist verwerflich,
was mit Danksagung empfangen wird;
denn es wird geheiligt
durch das Wort Gottes und das Gebet.

 

IV. Lebensernte

Wie immer saß der alte Herr in seinem Sessel am Fenster.
Fast ein ganzes Jahrhundert durfte er alt werden.
„Ich habe eben viel Glück gehabt.“ Sagte er immer wieder.
Brot der Güte.
Ein Liebespaar waren er und seine Frau bis zuletzt.
Ein Leib, eine Seele, durch dick und dünn.
Brot der Liebe.
Brot der Tränen, wenn eine Hälfte nach 62 Jahren fehlt.
Brot der Tränen um den Bruder, der 18jährig im Krieg starb.
Ein wacher, kritischer Geist – das war er.
Poltern konnte er, besonders gegen missliebige Politiker und Kirchenleute.
Brot des Zorns.
Und doch lernte er nach Jahrzehnten in politischer Verantwortung
im hohen Alter das Brot des Glücks zu essen.
Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.
Die wundersame Fähigkeit,
sich an den kleinen Dingen zu freuen und dankbar zu sein.
Vielleicht, weil er so gute Augen hatte.
Nicht nur die Vögel am Ende des Parks konnte er sehen.
Auch all die Güte, der er sein Leben zu verdanken hatte.
Brot des Lebens.
Als sei sein ganzes Leben in den Dank für dieses Brot eingeschlossen,
auch da, wo es schwer und kaum zu tragen ist.
 

V. Gute Augen

Noch einmal:
Was mit Danksagung empfangen wird;
denn es wird geheiligt
durch das Wort Gottes und das Gebet.

„Danksagung“ – das ist mehr als ein blasses, sattes „Danke für die Blumen“.
Nicht schön-reden und rosa drübermalen.
Vielmehr meint es „Gutheißen“.
Diese Welt segnen, ja, sie ist gut trotz aller Zerstörung.

Einander segnen, ja auch die Brüller und Hasser,
mit finsterem Blick, voller Wut
und ganz ohne Dankbarkeit.

Aber nicht als Hasser sind sie geboren.
Gut von Gott geschaffen,
Fähig zum Guten.
(Und angesichts des morgigen Jahrestages des Terroranschlages der Hamas
und des darauffolgenden Gaza-Krieges
erscheint diese Vorstellung fast unmenschlich-übermenschlich.)

Diese Welt gutheißen, heißt: um sie zu ringen,
sie zu lieben und zu erhalten.
Dieses Ringen hat Albert Schweitzer gut gekannt:
„Wenn es euch besonders schwer und sorgenvoll ums Herz wird,
dann fangt an, Gott zu danken…
Euer Herz wird fragen: Warum, wofür denn danken?
Es wird gleich mit den Klagen und Sorgen bei der Hand sein.
Lasst es nicht zu Worte kommen…
Fangt beim Gewöhnlichsten und Alleralltäglichsten an…
Dann werdet ihr die Zauberkraft des Dankens erfahren…
Das Herz, welches durch das Danken hindurchgeht,
dem werden die Augen aufgetan
und es erkennt in allem Gottes Fügung, auch im Leid und in der Trübsal…

Danksagen, gutheißen, Segen sprechen über die Welt,
über das Brot, über unser Leben,
über das Glück und die Tränen,
die Liebe und den Zorn,
ja, auch über die Schuld.
Ich will, dass gut wird,
was an Schuld, Trauer und Verderben am Brot haftet.

Ja sogar Gott selbst segnen.
Er weiß schon, was er tut.
Auch mit dem, was niemand verstehen kann.

Dafür braucht es gute Augen.
Mit offenem Blick durch die Welt gehen
und ihre Wunder entdecken.
Sich nicht blenden lassen
von Hass, Gier und Ungerechtigkeit gegen Mensch und Tier.
Die Wohltaten Gottes entdecken,
die Freiheit im Lassen,
nicht rund um die Uhr funktionieren müssen,
miteinander feiern.
Erntedank.

Amen.

[Wertvolle Anregungen verdanke ich den Erntedankpredigten von Michael Greßler.]

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Anne-Kathrin Kruse

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt werde ich im Antrittsgottesdienst zu einer dreimonatigen Vakaturvertretung in einer Großstadtgemeinde halten, die ich noch nicht gut kenne. Die Gottesdienstteilnehmenden sind in i.d.R. gutsituiert, mit akademischem Hintergrund und kommen auch aus anderen Gemeinden zum Gottesdienst.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Bei diesem Kasus sehe ich (zumindest bei mir) die Gefahr des Moralisierens und der Imperative, sei es bezüglich Klimakrise, Umweltschutz, Nachhaltigkeit etc., was die Lust am Danken häufig im Keim erstickt. Statt über den Dank zu reden, wollte ich das Danken selbst stark machen, auch im Sinne eines Dennoch. Dass der Tag nach dem Erntedank auf den Jahrestag des 7. Oktober fällt, macht die Sache nicht einfacher. Beflügelt hat mich der Gedanke des Schabbat als „Palast in der Zeit“ (A. J. Heschel) als Vision einer gerechten Welt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Frieden geht nicht ohne Gerechtigkeit, sei es zwischen Mensch und Schöpfung, sei es zwischen den Völkern. Die Vision vom Schabbat als Sinnbild für Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit spornt mich an, weg vom Funktionieren hin zu Dankbarkeit und zu Empathie zu kommen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach hat mich bestärkt, wo ich unsicher war, und mir wertvolle Hinweise gegeben auf unnötige Perspektivwechsel sowie Nebenthemen, die vom roten Faden ablenken. „In Zeitlupe sieht man mehr.“ Herzlichen Dank dafür!
Manche Übergänge habe ich etwas sanfter gestaltet.
Danke auch für die Anregung, die Zitate aus Ps 104 von einer anderen Person, evtl. auch von der Gemeinde sprechen zu lassen.

 

Perikope