Ortskunde des Glaubens
Auf eine höchst eigenwillige Weise deutet der Hebräerbrief den Tod Jesu am Kreuz: Jesus ist der Hohepriester, der sich selbst als Opfer darbringt. Man kann diese Anschauungsweise wohl nur richtig würdigen, wenn man sich auskennt mit den entsprechenden Opfervorstellungen des Alten Testaments. Aber wer von uns kennt sich damit schon so aus, dass die zuständigen Experten ihm bescheinigen würden: „Ja, Du hast alles richtig verstanden.“
Für die meisten von uns mag es genügen, dass der Verfasser des Hebräerbriefs sich einer Aufgabe stellt, der wir uns alle stellen müssen: Wir kommen nicht daran vorbei, dass wir uns Gedanken machen darüber, wie wir mit dem Kreuzestod Jesu zurechtkommen. Der Autor des Hebräerbriefs bietet jedenfalls in vorbildlicher Weise all seinen Scharfsinn auf, um die Rätselfrage zu beantworten, worin der Sinn des Kreuzestodes Jesu liegen soll. Und er entfaltet seine Antwort auf eine Weise, die viele nachdenkenswerte Aspekte in sich trägt. Unter anderem entwickelt er auch eine religiöse Topografie, eine Ortskunde des Glaubens:
11 Denn die Leiber der Tiere, deren Blut durch den Hohenpriester als Sündopfer in das Heilige getragen wird, werden außerhalb des Lagers verbrannt.
12 Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor.
13 So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen.
14 Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
Hebräer 13, 11-14
Draußen vor dem Tor, außerhalb des Lagers, in Distanz zur gegenwärtigen Stadt, auf der Suche nach der zukünftigen Stadt.
Auf eine raffinierte Weise blendet unser Predigttext Zeiten und Orte übereinander:
Das Lager verweist auf den Zug der Israeliten durch die Wüste: die Vergangenheit.
Die Stadt, vor deren Toren Jesus gekreuzigt wird – Jerusalem: die ganz kurz zurückliegende Vergangenheit, ja fast noch die Gegenwart, so frisch ist die Erinnerung an die Kreuzigung noch im Gedächtnis.
Und schließlich die Stadt, die wir suchen, in der wir noch nicht sind: die Zukunft.
Die religiöse Ortskunde wird unterlegt mit einer religiösen Zeitenkunde.
Und damit wird klar, dass der Glaube es immer zu tun hat mit unserer Stellung in der Welt:
Alles, was geschieht, geschieht zu einer bestimmten Zeit.
Alles, was geschieht, geschieht an einem bestimmten Ort.
Lasst uns in Gedanken die Orte abschreiten, an die der Predigttext uns führt.
Er führt uns hinaus zu den Toren der Stadt. Für uns Heutige mag das eine verlockende Vorstellung sein: Die Enge der Stadt zu verlassen und uns in freier Natur zu ergehen:
Und frische Nahrung, neues Blut
saug' ich aus freier Welt;
wie ist Natur so hold und gut,
die mich am Busen hält!
(Goethe, Auf dem See)
So sehen das viele heute. Sie suchen in der freien Natur, draußen vor dem Tor, ihre Erholung, und manche versichern einem, dass sie dort auch ihre Erbauung finden.
Für die Menschen der biblischen Zeit war das alles ganz anders.
Für die Menschen der biblischen Zeit waren die Gegenden vor den Toren der Stadt bedrohliche Gegenden.
Vor der Stadt beginnt die Wüste, und in der Wüste hausen die Dämonen.
Niemand verbringt freiwillig eine Nacht vor den Toren der Stadt oder außerhalb des Zeltlagers.
Eine schreckliche Vorstellung: Nach Einbruch der Dunkelheit nicht geborgen zu sein in den Mauern der Stadt, oder doch wenigstens im Bezirk des Nomadenlagers.
Wer vor der Stadt sich aufhält, der ist ausgestoßen.
Der Bezirk vor den Toren der Stadt ist ein gefährlicher Ort, ein bedrohlicher Ort – und ein unreiner Ort, ein religiös unreiner Ort.
Welch‘ ein Schauder für die damaligen Menschen ausgegangen sein muss von Orten, die sie für religiös unrein gehalten haben: Das können wir uns kaum noch vorstellen.
Draußen vor der Tür:
Das ist ein ganz schlechter Ort.
Es ist demütigend, vor die Tür gesetzt zu werden.
An einem unreinen Ort stirbt Jesus.
Nicht in der Stadt und schon gar nicht im Tempel, nicht im heiligen Bezirk.
Jesus stirbt als ein Ausgestoßener.
Aber dieser ausgestoßene Jesus ist für uns als Christen der Erlöser.
Er ist der, in dem Gott gegenwärtig ist.
Am Ort der Unreinheit ist Gott gegenwärtig.
Damit wird ein neues Kapitel im Buch der religiösen Ortskunde aufgeschlagen.
Seit Anbeginn der Geschichte halten Menschen bestimmte Orte für heilige Orte.
Sie errichten dort Altäre und Tempel.
Seit Jesu Tod am Kreuz, draußen vor dem Tor, am Ort der Unreinheit, hat sich für uns als Christen die Lage verändert.
Am Ort der Unreinheit ist Gott gegenwärtig.
Gerade da, wo das Leben bedroht ist, ist Gott gegenwärtig.
Gerade da, wo Menschen leiden, ist Gott gegenwärtig.
Ein neues Kapitel wird aufgeschlagen in der Ortskunde des Glaubens:
„Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor.“
Draußen vor dem Tor, da, wo niemand in den alten Zeiten gerne hingegangen ist: Dort ist Gott gegenwärtig.
Und dorthin schickt uns nun der biblische Text, über den wir heute nachdenken:
13 So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen.
Wir Menschen sind soziale Lebewesen. Wir brauchen die Gesellschaft von unseresgleichen. So, wie die Wanderhirten in der Wüste die Geborgenheit des Zeltlagers brauchen, so brauchen wir die Geborgenheit des Dorfes oder der Stadt. Auch wenn wir zeitenweise unsere Ruhe genießen und hin und wieder ganz gerne alleine sind: Grundsätzlich tut uns die Gemeinschaft mit den anderen Menschen gut, und deshalb üben Städte, jedenfalls überschaubare Städte, eine große Faszination auf Menschen aus.
Unser Predigttext aber ruft uns heraus aus der vertrauten Umgebung der Vielen. Er ruft uns an den Ort der Schmach.
So ist das, wenn wir uns aufmachen zu Jesus: Wir geraten dahin, wo Menschen nicht gerne hingehen: An den Ort der Schmach, der Schande.
Schmach ist das Gegenteil von Ruhm und von Ehre.
Geschmäht zu werden: Darauf ist niemand wirklich scharf.
Wer geht schon gerne dahin, wo ihn Schmach und Schande erwarten?
Wie haben die Menschen damals wohl reagiert, als sie dazu aufgefordert wurden, das Lager, die Stadt zu verlassen, hinauszugehen vor das Tor?
Ganz so leicht haben sie sich damit wohl nicht getan.
Wer kündigt schon gerne die vertraute Gemeinschaft seiner Stadt auf?
Wer verzichtet schon gerne auf das schöne und bergende Gefühl, dazuzugehören?
Wie schrecklich fühlt sich der Gang durch das Tor an, hinaus auf das Feld der Schande.
Aber wie schnell kann das auch gehen: Dass man nicht mehr dazugehört.
Dass man sich ausgeschlossen fühlt.
Wie schnell kann man hinausgeraten in die grauenvollen Wüsten:
Krankheit, Erfolglosigkeit, ein Unfall.
Und schon gehören wir nicht mehr dazu.
Schon sind auch wir draußen vor dem Tor.
Der Hebräerbrief hält auf seine Weise die Erinnerung daran wach, dass wir als Christen nicht einfach völlig unproblematisch dazugehören – zu unserer Zeit, zu unserer Gesellschaft, zu unserer Stadt.
Es wäre freilich zu dramatisch, wenn wir uns als Fremdlinge in unserer Zeit und an unseren Orten auffassen würden.
Dazu sind wir dann doch viel zu sehr integriert.
Wir werden als Christen, jedenfalls derzeit und hierzulande, nicht geschmäht oder beschimpft oder verachtet – allenfalls belächelt oder ein wenig verspottet.
Die Christen zur Zeit des Hebräerbriefs waren damals ganz anderen Zumutungen ausgesetzt.
Ihnen wurde in sehr vielen Situationen sehr deutlich gesagt und gezeigt, dass sie nicht mehr dazugehören:
„Euer Ort ist nicht mehr bei uns.“
„In unserer Stadt seid Ihr von nun an Fremde.“
Die meisten von ihnen haben diese Abweisung auf Respekt gebietende Weise ertragen.
Vieles hat sich seit den damaligen Zeiten getan und verändert.
Aber geblieben ist die Erinnerung daran, dass wir als Christen zwar in Solidarität mit unserer Welt leben, aber doch auch in einer gewissen inneren Distanz zu ihr.
Wir finden unsere letzte Lebenserfüllung nicht in den Zusammenhängen der Stadt, nicht in den Zusammenhängen des Sozialen.
Wir leben an den gleichen Orten, in den gleichen Städten wie alle anderen auch.
Aber wir wissen, dass wir in den Zusammenhängen der Stadt und des Staates nicht völlig aufgehen.
Wir schauen deshalb immer auch mit einer gewissen inneren Distanz auf das Leben in unserer Stadt.
Und es tut unserer Stadt gut, dass Menschen in ihr leben, die wissen:
Es gibt auch ein Leben jenseits dieser Stadt.
Wir teilen die Gegenwart mit allen anderen – aber wir sind ausgerichtet auf eine Zukunft, die jenseits unserer Gegenwartshorizonte liegt.
Wir tragen als Christen die Sehnsucht nach einer zukünftigen Stadt in uns:
14 Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
Wir wollten in Gedanken die Orte abschreiten, an die der Predigttext uns führt:
Die Stadt, die wir kennen. Den Weg durch das Tor. Den schrecklichen Ort draußen vor dem Tor. Solche Orte und Wege können wir uns vorstellen. Wir kennen sie teils aus eigener Erfahrung.
Den Weg zum letzten Ort uns vorzustellen: Das überfordert unsere Einbildungskraft, unsere Fantasie.
Das gehört auch zur christlichen Ortskunde:
Dass wir eine Sehnsucht in uns haben nach einer Stadt, die noch keiner von uns mit eigenen Augen gesehen hat.
Wir leben in der Gegenwart in der gleichen Stadt, in der alle anderen auch leben.
Gleiche Sorgen, gleiche Nöte wie alle anderen auch.
Aber für die Zukunft erwarten wir unsere Seligkeit in einer Stadt, die frei ist von Sorgen, von Nöten, von Krankheit, von Leid, von Tränen.
Jener eine, den sie draußen vor dem Tor umgebracht haben – er hat den Weg erkundet und frei gemacht, der zu jener zukünftigen Stadt führt.
Dieser Weg beginnt am Ort der tiefsten Schmach.
Dieser Weg führt durch den Tod hindurch.
Diesen Weg findet keiner, der nicht bereit ist, die Tore der vertrauten Stadt hinter sich zu lassen.
Die zukünftige Stadt: Von ihr handelt das letzte Kapitel der christlichen Ortskunde.
Wir dürfen darauf gespannt sein.
Amen.
Ortskunde des Glaubens - Predigt zu Hebräer 13,11-14 von Martin Weeber.
13,11-14
Perikope