Passagen – Übergänge und Wandlungen eines Rituals - Predigt zu 1. Korinther 11,23-26 von Peter Haigis
11,23-26

„Passagen“, I:

„Amsterdam, 1646 (nach christlicher Zeitrechnung). ‘Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?’, fragt das Kind im Haus eines jüdischen Kaufmanns. Und der Vater antwortet: ‘Sklaven waren wir dem Pharao im Land Ägypten, aber der Ewige, unser Gott, führte uns heraus mit starker Hand und ausgestrecktem Arm.’ – Jedes Frühjahr wiederholt sich dieses rituelle Gespräch zwischen dem Familienvater und seinem jüngsten Sohn. Jedes Jahr dient es am Vorabend des Pesachfestes dazu, die Geschichte der Befreiung zu erinnern – der Befreiung des von Gott auserwählten jüdischen Volkes aus der Knechtschaft in Ägypten. Und was hier geschieht, geschieht zu allen Zeiten und an allen Orten, wo jüdische Familien wohnen. Der Hausvater erzählt von der Fron, unter der die Kinder Israels im fremden Land zu leiden hatten. Er deutet die Gaben der ‘Sedermahlzeit’, die auf dem Tisch zubereitet liegen: Da sind die dünnen Mazzen aus ungesäuertem Teig, denn der Aufbruch aus Ägypten geschah plötzlich und übereilt. Die Israeliten hatten nicht die Zeit, ihre Brote fertigzubacken. Die Mazzen sind das ‘Brot des Elends’. Da ist ferner das Bitterkraut ‘Moror’, das an die Bitternis erinnert, unter der die jüdischen Urahnen in Ägypten lebten. Und da ist ‘Charosset’, ein Mus aus Äpfeln und Nüssen, das den Mörtel symbolisiert, den die Juden bei ihrer Fronarbeit für den Pharao anrührten. Der Hausvater erzählt auch vom Ringen Moses und Aarons mit dem verstockten Pharao und davon, wie Gott androht, eine schwere Plage über Ägypten zu schicken, um die Freigabe Israels zu erzwingen. Das geschlachtete ‘Passahlamm’ erinnert an diese dunkle Nacht, in der der Würgeengel an den gekennzeichneten Häusern der Israeliten vorüberging ...“

Lesung: 2. Mose 12,1-14

„Passagen“, II:

„Jerusalem, 422 (vor unserer Zeitrechnung). ‘Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?’, fragt Levi, als er das vorbereitete Passahlamm dem Priester Esra bringt. Levi ist Kultdiener am Jerusalemer Tempel. Seine Aufgabe besteht darin, das vom Priester ausgewählte Lamm für das Pesachfest zuzubereiten. Dabei hat er sich streng an die Vorschriften zu halten, wie sie in den Heiligen Schriften dargelegt sind. Esra nimmt Levi die Schale mit dem gebratenen Lammfleisch aus den Händen und stellt sie auf den Altar. Er spricht zu Gott, dem Befreier Israels, ein Dankgebet. Dann erst wendet er sich der versammelten Gemeinde zu: ‘Adonaj, seinem Namen sei ewiglich Ehre und Ruhm und Herrlichkeit, hat sein Volk mehr als einmal gnädig angesehen. Unsere Vorväter hat er aus der Knechtschaft in Ägypten befreit. Uns aber ist er in Gnade erschienen, als wir an den Wassern Babylons saßen und klagten. Wir sind vor ihm schuldig geworden und haben seine Ordnungen vergessen. Darum hat er uns in die Gefangenschaft nach Babylon geführt. Doch als wir uns wieder zu ihm kehrten und ihm unsere Schuld bekannten, da wandte auch er sich uns zu und gedachte des Bundes, den er mit unseren Vätern geschlossen hatte. Wenn wir heute dieses Lamm essen, so bitten wir: ‘Sieh nicht auf unsere Schuld und unsere Verfehlungen, sondern geh in Gnade an unserem Haus vorüber und errette uns durch deine große Barmherzigkeit.’ Und Esra nahm von dem gebratenen Lamm und aß, und er reichte es weiter an Levi und die anderen Kultdiener. Und die gaben es weiter an die versammelte Gemeinde. Jeder aß davon, denn heute ging Gott gnädig vorüber an der Schuld eines jeden.“

Lesung: Markus 14,17-26

Passagen“, III:

„Jerusalem, 33 (nach christlicher Zeitrechnung). ‘Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?’, fragte Philippus seinen Rabbi Jesus, nachdem er sich mit ihm und den anderen Jüngern im Obergemach eines Jerusalemer Hauses niedergelassen hatte. Philippus erwartete, dass Jesus die Geschichte von der Befreiung Israels aus den Händen des Pharaos erzählen würde. Er erwartete, dass Jesus das Passahlamm als Opfer deuten würde, das sie vor Tod und Vernichtung bewahrt, dessen Blut – wie damals an den Türpfosten – sie vor dem Schlag Gottes rettet und sie stattdessen ins Leben führt. Und er erwartete, dass Jesus mit ihnen das ‘Hallel’, das freudige Danklied, anstimmen würde. Doch Jesus nahm einen Brotfladen in die Hand, der auf dem Tisch lag, und sagte: ‘Heute Abend sind wir zum letzten Mal so zusammen, denn in dieser Nacht werden einige mit Stangen und Schwertern kommen, um mich festzunehmen. Sie werden uns zerschlagen und auseinandertreiben.’ Er brach den Brotfladen auseinander und zerteilte ihn in kleine Stücke, dann sprach er weiter und dabei reichte er seinen Jüngern reihum ein Stück Brot: ‘Aber ihr braucht euch nicht zu ängstigen. Dieses Brot büßt nichts von seiner Lebenskraft ein, nur deshalb weil es in Stücke gebrochen ist. Im Gegenteil: nun erst vermag es alle zu nähren und zu stärken. Und nun esst, denn es kommt eine Zeit, da ihr viel Kraft braucht.’ Danach nahm Jesus einen Kelch mit Wein in die Hand und sagte: ‘Dieser Kelch ist der Becher der Freude. Trinkt ihn leer. Lasst nichts übrig.’ Philippus aber wurde stutzig und fragte Jesus: ‘Rabbi, wie können wir feiern und fröhlich sein, wenn wir doch wissen, dass wir noch in dieser Nacht auseinandergehen müssen?’ Und Jesus gab ihm zur Antwort: ‘Wenn ihr ohne Brot geht, so werdet ihr schwach sein und nicht standhalten. Wenn ihr aber ohne Wein geht, so werdet ihr bitter, und niemand wird euch glauben, dass ihr schon vom Reich Gottes gekostet habt. Ihr werdet mich aber wiedersehen, wenn ihr solches Brot esst und solchen Wein trinkt.’“

Lesung: 1. Korinther 11,23-26

„Passagen“, IV:

„Frankfurt, 1938 (nach Christus). ‘Warum ist diese Nacht so anders als andere Nächte?’, fragt die neunjährige Elisabeth Grubinger ihre Mutter. Beim schwachen Licht einer Petroleumlampe sitzen sie am Küchentisch. Zwischen den beiden starrt der kleine Jakob auf die Tischplatte. Elisabeths Mutter schneidet den Kindern Stücke von einem Laib Brot herunter. ‘Sie sind an uns vorbeigegangen und haben nichts bemerkt’, antwortet sie. Am Morgen dieses Tages stand Jakob vor der Tür. Er wohnte mit seinen Eltern und den älteren Geschwistern in der Nachbarschaft. Sie hatten ein Bekleidungsgeschäft. Doch seit einiger Zeit blieb die Kundschaft aus. Vergangene Woche waren die Schaufensterscheiben eingeschlagen und das Inventar verwüstet worden. Und nun waren Soldatengekommen und hatten die Eltern und Geschwister einfach in einem Wagen mitgenommen. Jakob konnte über den Hof fliehen. Er rannte so schnell er konnte, bis er an der Wohnungstür von Familie Grubinger ankam. Sie waren die einzigen, zu denen er noch Vertrauen hatte. Frau Grubinger versteckte Jakob in ihrer Speisekammer. Als Stunden später einige Uniformierte an ihrer Tür aufkreuzten, konnte sie sie abwimmeln. Nein, sie hätte den kleinen Buben schon lange nicht mehr gesehen. Er spiele ja auch nicht mehr draußen auf der Straße, schon seit Wochen nicht. Frau Grubinger wollte es erst selbst nicht glauben, doch nun waren sie weg. ‘Esst noch etwas von dem Brot. Wir müssen jetzt aufbrechen und Jakob zu seinen Verwandten nach Landau bringen. Schnell – ehe sie zurückkommen.’“

„Passagen“, V:

„Stetten im Remstal* (2019 nach Christus). ‘Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?’, werden Sie sich fragen. Sie ist anders, weil sie uns Gelegenheit gibt, auf unserem Lebensweg kurz stehenzubleiben. Den Rucksack gepackt, die Schuhe geschnürt, den Stab sozusagen schon in der Hand halten wir kurz inne an einem karg gedeckten Tisch. Da ist nicht mehr als Stückchen Brot für jede und jeden – und ein Schlückchen Wein. Und doch ist es genug. Wir sind Marathonläufer, ein jeder allein auf der Strecke seines Lebens. Hier aber sind wir zusammen – eine Gemeinschaft der Wandernden. Und den Tisch hier haben wir uns nicht selbst bereitet, sondern Gott hat ihn für uns gedeckt mit den Zeichen seiner Liebe. Das Brot lässt uns zurücksehen. Es hilft uns, uns an die Augenblicke auf unserem Lebensweg zu erinnern, da wir gestärkt wurden, obwohl wir fürchten mussten, dass uns die Kraft ausgeht. Der Wein lässt uns nach vorne schauen. Er gibt uns einen Vorgeschmack auf die Zeit, da wir wieder aufatmen und feiern können. Wir wissen, dass wir weiterziehen müssen, aufbrechen von diesem Tisch hier und heute. Bisweilen spüren wir den Druck solch erlebter Rastlosigkeit auf unseren Schultern lasten. Mitten hinein in diese Ahnung sagt uns dieses Mahl: ‘Ich stand dir bei mit meiner Kraft, und ich werde dir wieder Ruhe und Freude schenken.’“

* Anmerkung: Die Predigt ist für meinen Predigtort Stetten im Remstal formuliert; die Ortsangabe kann aber problemlos ersetzt werden. Die Predigt ist zudem Teil eines Abendmahlsgottesdienstes. Innerhalb eines reinen Predigtgottesdienstes müsste der Abendmahlsbezug im letzten Teil indirekt formuliert werden, nach dem Motto: „Wenn wir miteinander Abendmahl feiern, dann halten wir kurz inne, den Rucksack gepackt, die Schuhe geschnürt, den Stab sozusagen schon in der Hand, an einem karg gedeckten Tisch …“

Perikope
18.04.2019
11,23-26