13 Jauchzet ihr Himmel; freue Dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden. 14 Zion aber sprach: Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen. 15 Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. 16 Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.
Das kannste getrost vergessen! Manchem geht es so, wenn er Texte aus der Bibel hört. Und fängt an, missmutig Däumchen zu drehen, seine Hände anzuschauen. Liest lieber in den in die Haut des Handtellers gravierten Furchen und Sprengsel von Linien. Als stünden da Buchstaben, die zusammen einen Sinn ergeben könnten. Das kannste getrost vergessen!
„Vergessen das Vergessen!“, spricht Gott. Denn er entsinnt sich eines jeden Menschen. In die Hände habe ich Dich gezeichnet. Bei diesem Satz ist mir eingefallen: Gott macht das so ähnlich wie ich und Mitschüler in der dritten, vierten Klasse. Es gab ja noch keine Handys mit Notizfunktion oder Adressbuch. Etwas Ähnliches aus Papier hatten wir Kinder nicht auf dem Plan, geschweige denn parat. Auch viele Eltern damals nicht. Wenn wir mündlich eine wichtige Info bekamen, die wir unbedingt behalten wollten, dann haben wir uns das kurzerhand mit dem Kuli auf den Handteller gekrakelt. Dessen Farbe hat nämlich eine ganz schön lange Zeit gehalten, viel Schweiß und Dreck beim Spielen überstanden und die erste Ladung Wasser und Seife beim Händewaschen. Das in die Hand krakeln hat bedeutet, dass man sich dem Absender irgendwie verpflichtet fühlte. Ärger mit ihm vermeiden wollte. Sei es aus Gehorsam, um seinen Aufgaben nachzukommen. Oder sei es aus Zuneigung, um wie bei einem Freund dessen Anliegen zu verfolgen. Gott hat uns in die Hände gezeichnet: Er entsinnt sich eines jeden Menschen, er kommt konsequent dem Dienst nach, den er sich mit uns gestellt hat. Und weil er uns mag.
Gott vergisst uns unser Vergessen. Denn Gott entsinnt sich eines jeden Menschen. Wie hat sich Jesaja Gottes Entsinnen vorgestellt? In die Hände habe ich Dich gezeichnet, heißt es. Gott schaut also auf seine Handteller. Und zwar ohne, dass da etwas aufliegt. Kein Buch und erst recht kein Handy. Irgendwie bin ich beim Nachdenken auf einen Priester gekommen. Einen Priester, der steht und betet und dabei auf seine Handteller schaut. Ähnlich wie in der katholischen Messe bei der Wandlung.
Gott ist wie einer, der dasteht und spricht und indessen auf seine offenen Handteller schaut. Da sieht er uns Menschen samt unseren Mauern im Verfall. Und tatsächlich, schaut man auf seine Handteller, entdeckt man in deren Mitte zwei fast parallele waagrechte Linien. Wie eine Mauerflucht, rechter Hand von links nach rechts, linker Hand von rechts nach links. Unter der unteren Linie, dem Mauerfuß, bis zur Handwurzel hinab, das Feld vor der Mauer. Oberhalb der oberen Linie, der Mauerkante, bis zum Fingeransatz hinauf der offene Himmel. Eine Mauer, die an den Handkanten jäh abbricht und eine Lücke macht. Eine wenig wehrhafte Mauer. Und je nachdem, wie man die Hand bewegt, eine, die man beliebig zu Wülsten stauchen oder glatt überdehnen kann. Ob die bei ordentlich Druck stabil bleibt?
Gott steht und spricht und schaut dabei auf seine offenen Handteller. Mit dieser Geste spricht er ein Machtwort. Installiert damit eine neue Wirklichkeit. So wie sich Gaben auf einem Altar durch Worte und Gesten verändern, zu besonderen Gaben werden. Gott spricht uns zu, was uns fehlt. So gerät neue, gute Bedeutung in unser Leben. Das haben wir manchmal bitter nötig, denn uns Menschen kann es Böse ergehen. Wir gehen unter im Hagel der Ereignisse, die unser Leben angreifen. Eben noch lief es uns leicht aus den Händen. Dann geht uns die Fassung verloren. Uns kommt abhanden, wohin es mit unserem Leben geht. Wir treten auf der Stelle, schwerfällig statt leichtfüßig.
Schöne Überraschung! Vielleicht dunkel geahnt. Haut aber trotzdem und erst recht rein. In Ausflüchten verirrt man sich da nur, jede Zuflucht verstellt sich. Überall kein Ort, nirgends. Eines vergisst man nicht in so einer Lage: Da drängt sich einem auf, da entsinnt man sich einer Sache, manchmal nur insgeheim: Nämlich dessen, was man selber schon Böses erlebt hat. Sei es selbst erlitten oder selbst anderen angetan. Und zu dem gehört, dass wir ahnen: Wir haben Gott überhört. Lagen uns mit allem möglichen anderen Kram in den Händen und vor den Füßen, in den Ohren und vor den Augen. Gott ist uns aus dem Sinn gekommen. Der uns nur Gutes getan hat, auch wenn uns manches zuerst nur Böse erschien.
Wie gehen Menschen damit um, Gott trotz seiner Güte vergessen zu haben? Sich unterordnen, ignorieren und zurückschlagen, so lauten die Stichworte. Sich unterordnen, eigentlich die einzige Wahl, wenn man an Gottes Gnade und Vergebung glaubt. Sich das Vergessen einzugestehen, Gott um Geduld und Vergebung bitten. Selber geduldig sein. Spannungen aushalten. Den Widerspruch annehmen zwischen dem, was ich gerade als böse Wendung erlebe und dem, was mir als gute Wendung zugesagt ist. Das fällt schwer. Dann wählen viele Menschen lieber was anderes, sie verdrängen zum Beispiel, ignorieren. Verdrängen heißt hier: das Ahnen des Vergessens schnell wieder zu vergessen. So tun, als wär´ da nix gewesen. Fortgesetzte geistliche Zerstreutheit. Nichts leichter als das Überspielen. Is´ ja auch irgendwie peinlich, das Ganze. Das Leben geht weiter. Oder Menschen schlagen zurück. Werden klagefreudig. Kehren den Vorwurf um. Kreiden Gott das Vergessen an. Gott hat sein Gedächtnis verloren! Gott hat meiner vergessen. So sagten und dachten es im alten Jerusalem die Menschen. Duckten sich zwischen die Mauertrümmer und Gebäuderuinen der von den Siegern zerstörten Stadt. Alles leere Versprechungen, die neuen Mauern und Gebäude. In Aussicht: Kein Ort, nirgends. Vergessen, dass Gottes Güte sie aus Babylon hierher zurückgeführt hat.
Gott vergisst uns Vergessen und Klagefreude. Denn er reagiert auf Gegenangriff und Verdrängung wie die Mutter aller Mütter. Ja, besser noch als jedwede Mutter. Gottes Pflege verwandelt Freude am Klagen zu Freude an Freude. Bringt ins Glucksen und macht leichthändig. Aus lauter Liebe nimmt er den Pflegedienst auf sich. Und erfüllt ihn gehorsam, also konsequent seinem Willen entsprechend. Gott nimmt uns in seinem Pflegedienst unser Vergessen nicht krumm. Er macht sich krumm. Er macht die Finger krumm. Macht sie sich schmutzig, wo andere sich ekeln vor der Drecksarbeit. Auf unser I don´t care antwortet Gott mit Care Arbeit, Hand- und Fußpflege. In die Hände habe ich dich gezeichnet. Deine Mauern stehen vor mir. Ich bringe dich wieder in gute Fassung. Chaos lichtet sich. Freude am Klagen wird zu Freude an Freude. Meine Handpflege bringt ins Glucksen, beflügelt und macht leichthändig.
Gott vergisst uns unser Vergessen. Manches vergisst sich dann wie von alleine. Und schafft so Platz für neues Leben. Ja, es gibt ein gutes Vergessen. Weil es Freude am Klagen in Freude an Freude verwandelt. Weil es einen ins Glucksen bringt, beflügelt und leichthändig macht. Weil man nur so auf Neues kommt.
Leid vergessen, das einem widerfahren ist. Das vergesse ich Dir nie! Das prägt sich ein, wenn jemandem von einem wichtigen Menschen sehr weh getan worden ist. Darauf kehrt man immer wieder leicht zurück. Das führt dazu, dass man in allem nur noch Drohungen sieht. Egal, was sich auch an Gutem ereignet, egal, was einem die Mitmenschen an Gutem entgegenbringen. Das Gefühl, ein Opfer zu sein, vergessen dank Gott. Ein Gefühl, das einem erwachsen kann, wenn alles nur noch drohend wirkt, dieses Selbstmitleid. Auch den Wunsch nach Rache, vergessen dank Gott, die blinde Wut. Rachewunsch, Wut und Opfersein, alles Gedanken, mit denen sich die gefühlte Drohung lindern lässt. All das vergessen, dank Gott, und statt sich zu rächen, dem anderen vergeben. All das vergessen, dank Gott. Und statt sich zum Opfer zu machen, sich seine Schwäche gestehen und vergeben.
Leid vergessen, welches man selbst in Gang gesetzt hat. Das vergesse ich Dir nie! Das prägt sich ein, wenn jemand das von einem wichtigen Menschen gesagt bekommt. Auf das kehrt man immer wieder leicht zurück. Das führt dazu, dass man bei allem nur noch seine Schuld sieht und verzweifelt. Egal, was man auch an Gutem sonst tut, egal, wofür einem die Mitmenschen an Gutem danken. Ein gutes Verhältnis ist ausgeschlossen! Dank Gott dieses Gefühl vergessen, das einen bis zur Verzweiflung packen kann. Auch den Wunsch nach billigem Trost vergessen. Oder den Wunsch, dem Kläger blind zu folgen, um so auf verquere Art die Schuld wieder gut zu machen. Alles Gedanken, mit denen sich die gefühlte Verzweiflung stillstellen lässt. Verzweiflung vergessen Gottseidank, und statt sich ewig schuldig zu fühlen, sich von ihm vergeben zu lassen. Verzweiflung vergessen statt in blinden Gehorsam zu verfallen. Den billigen Trost verwerfen. Auf Gottes Machtwort hoffen, das neue Bedeutung ins Leben bringt. Das Freude am Klagen in Freude an Freude verwandelt. Das ins Glucksen bringt, beflügelt und leichthändig macht.
Vergessen, dass einem die Texte aus der Bibel stumm geblieben sind. So dass man missmutig lieber auf die in die Haut des Handtellers gravierten Furchen und Sprengsel von Linien schaut. Als stünden da Buchstaben, die einen Sinn ergeben könnten. Das kannste getrost vergessen.
Freude am Klagen wird zu Freude an Freude. Bringt ins Glucksen, beflügelt und macht leichthändig. Gottes Pflegedienst verändert die Wirklichkeit. In die Hände habe ich Dich gezeichnet, ich bringe Dich auf neue Gedanken, so dass Du wieder gut ins Leben findest. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Zur Zeit des Jahreswechsels passt das Widerspiel von Vergessen und Entsinnen, inne werden. Das im Jesajatext thematisierte Vergessen Gottes und seiner Heilstaten bzw. dessen trotzdem unermüdliches Heilswirken hat mich vor allen Dingen in Bezug auf den historischen israelischen Adressaten beschäftigt. Der Übertrag in die Gegenwart zeigt sich in der Predigt und ist allgemein menschlich, weil ich den Text ohne Gottesdienstauftrag nur für das Portal geschrieben habe.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Dass neben der allseits thematisierten und sicher wichtigen Rolle der Achtsamkeit auch das Vergessen seinen Platz im Glaubensleben hat und einnehmen darf. Dass Gott mit seiner Carearbeit dem menschlichen I don´t care entgegenwirkt - möge dies aus Resignation oder Schadenfreude gedacht, gesprochen, getan werden.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Bild des in-die-Hand-Zeichnens mit seinem lebensweltlichen Sitz in der Kindheit, das damit anthropomorphisierte Verhalten Gottes, der ein Machtwort spricht; die in der Predigt nicht explizit ausgeführte Bedeutung, dass sein Machtwort Hände von Menschen zum Schaffen bringt und diese dann durch die jeweilige Arbeit wie auch immer gezeichnet sind.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Dank der Rückmeldung habe ich einige Fremdwörter und zwei Bilder aussortiert, die zwar eindrücklich, aber aufs Ganze der Predigt gesehen wohl eher randständig gewesen sind: Gebranntes Kind scheut das Feuer und lernt trotzdem wieder den Umgang damit. Eltern, die ihr schlafendes Kleinkind beim Einkaufen im geparkten Auto vergessen (trauma extinction). Außerdem hatte ich Gottes priesterliches Wort zuerst als Fürbitte und nicht als Heilsorakel konzipiert.