Carl Gustav Ekdahl ist glücklich. Die Familie ist wieder zusammen. Zurück sind Schwägerin Emilie und ihre beiden Kinder Fanny und Alexander. Sie wurden befreit aus der Gefangenschaft bei dem furchtbar strengen und furchtbar traurigen Bischof. Mit ihm hatte sich Emilie nach dem Tod ihres Mannes verbunden, um zur „Wahrheit“ zu kommen. Doch die „Wahrheit“ war eine Lüge; denn in ihr war keine Liebe. - Nun ist Carl Gustav glücklich im Kreis seiner Lieben und möchte etwas sagen. Etwas von wahrer Bedeutung. Er entschuldigt sich im voraus bei Frau Mama und verspricht, er werde sich kurz fassen. Dann beginnt er:
„Meine Weisheit ist schlicht und einfach ...Wir Ekdahls sind nicht hier auf Erden, um die großen Welträtsel zu lösen ... dafür sind wir nicht gebaut, für derlei Exkursionen. Das Beste ist, sich um die großen Zusammenhänge nicht zu kümmern. Wir leben im Kleinen, in unserer kleinen Welt (zeigt auf die Enkel) ... Die wollen wir bestellen und das Beste daraus machen. Plötzlich klopft der Tod an. Plötzlich öffnet sich der Abgrund. Plötzlich erhebt sich ein Sturm, und die Katastrophe ist da. All das wissen wir, aber ... wir Ekdahls haben, Gott sei Dank, unsere Zuflucht. Beraube einen Menschen seiner Zuflucht, und er wird wahnsinnig oder fängt an um sich zu schlagen. ... Die Welt und die Wirklichkeit müssen fassbar sein .... Die Welt ist eine Räuberhöhle, und es wird finster zur Nacht. Die Bosheit zerreißt ihre Fesseln und streunt durch die Welt wie ein tollwütiger Hund. Die Vergiftung trifft uns alle ... keiner wird verschont ... Und aus diesem Grunde sollte man glücklich sein, wenn man glücklich ist, sollte man freundlich sein, freigiebig, sanft und gut. Darum ist es notwendig und nicht im Mindesten schändlich, sich von Herzen zu freuen über diese kleine Welt. Das gute Mahl, das freundliche Lächeln, die blühenden Obstbäume, die Walzerklänge! Und damit, meine Lieben, meine geliebten Freunde, bin ich am Ende meiner Rede. Und ihr könnt davon halten, was ihr wollt ... (nimmt ein Baby in den Arm, seine Tochter) Ich halte eine kleine Kaiserin in meinen Armen. Das ist fassbar und doch unermesslich. Eines Tages wird sie beweisen, dass alles falsch war, was ich gesagt habe. Eines Tages wird sie nicht nur über diese kleine Welt herrschen, sondern über das Ganze, das Ganze“ (er weint) ...
Ingmar Bergmans Meisterwerk „Fanny und Alexander“ (1982). Der Film beginnt mit einer großartigen Weihnachtsfeier im Hause der Ekdahls. Die alte Dame Ekdahl hat zu Weihnachten ihre drei Söhne mit deren Ehefrauen zu Besuch. Wie jedes Jahr.
Frau Ekdahl wohnt in einem prächtigen Bürgerhaus in der Mitte einer Kleinstadt in Schweden. Es ist das Jahr 1907. In Europa hat es noch keine Weltkriege gegeben. Die alten Traditionen gelten noch.
Bei den Ekdahls geht es sehr wohlhabend und dabei auch sehr menschlich zu. Es ist viel Raum da für die Kinder. Viele Bilder hängen an den Wänden. Sie erzählen Geschichten von einer großen Vergangenheit und haben alle eine Bedeutung. Hinter vielen Türen locken viele Geheimnisse. Überall stehen Bücher. Es wird vorgelesen, musiziert und gesungen. Kindermädchen kümmern sich um die Kinder, darunter das Mädchen Fanny und ihr Bruder Alexander. Alexander ist ein verträumter Junge. Er spielt am liebsten Theater und macht sich schon als Junge schwere Gedanken über das Leben.
Heiligabend im Hause Ekdahl läuft nach einem festen Ritual ab. Es beginnt mit dem Gang der Familie in das Theater, wo die Weihnachtsgeschichte gespielt wird. Ein Teil der Familie spielt mit. Der Vater der beiden Geschwister ist der Theaterdirektor. Nach dem Theatergang wird zum festlichen Abendessen mit allen Bediensteten geladen. Eine Musikergruppe spielt Tischmusik. Es wird erzählt und gelacht und reichlich Kognak getrunken. Jeder zeigt sich von der besten Seite. Am nächsten Tag geht es in die Kirche zum Gottesdienst und am Nachmittag noch einmal in das Theater zu einem klassischen Stück.
Im Hintergrund der glanzvollen Bühne zeigen sich nach und nach für den Zuschauer all die Sorgen und Abwege von normalen Menschen. Der eine Sohn Ekdahl ist schwer herzkrank und verbirgt es vor den anderen. Der andere ist Alkoholiker, immer in Schulden und unglücklich in seiner Ehe. Der dritte ist ein Schwerenöter und zeugt in der Weihnachtsnacht mit der Hausangestellten ein Kind. Und die Frauen tragen ihre eigene Last und oft die der Männer und Kinder noch mit. In der Nacht nach dem Heiligen Abend kommt heraus, was davor mühsam verborgen wurde: Sehnsucht und Sucht, Unglück und Lust, Trauer und Wut, jede Menge offene Fragen und mancher Seufzer über Alter und nahen Tod. – Nach dem Weihnachtsfest geht das Leben weiter wie vorher. Nichts hat sich wirklich verändert. Es wird geliebt und betrogen. Der Vater der Kinder stirbt. Die Witwe verheiratet sich neu und bringt Unglück über sich und die Kinder.
Am Ende aber nach Tod und falscher Heirat und Ängsten und wieder Tod und Trennung gibt es diese kleine Rede.
Die festliche Tafel erinnert an die Weihnachtsfeier. Auch ohne Tannenbaum und Geschenke, ohne Theater und Kirchgang ist dies wieder „Weihnachten“. Etwas Heiliges ist geschehen. Die verlorenen Familienmitglieder sitzen wieder an ihrem Platz in der vertrauten Runde. Vier Kinder sind inzwischen geboren und beleben die Szene.
Carl Gustav hält seine Rede. Er geht dabei um den Tisch herum, verweilt bei den Kindern und den Frauen; und alle hören ihm erst skeptisch, dann ergriffen zu.
„ ...Und aus diesem Grunde sollte man glücklich sein, wenn man glücklich ist, sollte man freundlich sein, freigiebig, sanft und gut. Darum ist es notwendig und nicht im Mindesten schändlich, sich von Herzen zu freuen über diese kleine Welt. Das gute Mahl, das freundliche Lächeln, die blühenden Obstbäume, die Walzerklänge! ...“
Hundert Jahre nach den Ekdahls feiert heute kaum jemand von uns so wie sie Weihnachten. Wir können nicht Weihnachten feiern, als hätte es die Kriege im 20. Jahrhundert nicht gegeben, als gäbe es nicht die täglichen Nachrichten durch Fernsehen und Internet
Trotzdem verbinden viele von uns mit „Heiligabend“ und „Weihnachten“ genau das, was der Redner meint. Es klingt bei uns bescheidener, nicht so vollmundig. Wir sind vorsichtig geworden mit großen „kleinen“ Reden. Viele Traditionen sind zerbrochen. Das Leben ist schneller geworden, zerrissener, ungemütlicher. Doch ein Mal im Jahr soll es sein, als stünde die Zeit still. Ein Mal soll im Jahr soll vergessen sein Kummer und Sorge. Ein Mal im Jahr soll nicht gespart werden, sondern fast rücksichtslos ausgegeben und gefeiert. Mit gutem Essen und Trinken. Mit Tannenbaum. Mit Musik vielleicht. Mit Geschenken jedenfalls. Mehr oder weniger fantasievoll, aber meistens gern geschenkt und oft teuer erworben. Und das Familienleben soll gelingen an diesem Abend, in diesen Tagen. Wenn es hoch kommt, werden die Großeltern ins Haus geholt oder wenigstens besucht.
Als ich klein war, luden die Großeltern am vierten Advent zu sich ein. Dann ging die Familie in das Theater zu einem Märchenstück. Ich fand das großartig. Man konnte sich seinen eigenen Reim auf das Leben machen anhand der Bilder und Worte dort auf der Bühne und anschließend im Familienkreis. Einige von Ihnen waren vielleicht dieses Jahr dabei, als das Kind oder Enkelkind etwas mitspielte im Krippenspiel, im Flötenkreis, in der Schule, im Kindergarten. Manche haben vielleicht mit ihren Kindern gebacken oder sind mit dem Enkelkind über den Weihnachtsmarkt gegangen, haben die Welt noch mal fast mit Kinderaugen gesehen und gehört. Die Krippe, den Weihnachtsmann, die Melodien der Weihnachtslieder ... das alles sind Erinnerungen: Bilder, Gerüche, Klänge und Worte, die uns ein Leben lang begleiten, weil sie uns eine fast heile Welt versprachen. Eine Welt, in der die Alten und die Jungen für einander da sind, in der jeder seinen guten Platz hat - und seine Freiheit! Eine Welt, die von Bedeutung ist, die einen Sinn hat. Auch den Sinn, der darin liegt, die „kleine Welt“ anzunehmen und zu lieben, „Ja“ zu sagen zu dem Leben, wie es ist. Glück und glücklich sein und glücklich machen. Das ist es, sagt Carl Gustav Ekdahl. (Ingmar Bergman). Freundlichkeit möchte er, Sanftmut und Güte. Dazu blühende Obstbäume und Walzerklänge oder was uns heute berührt an Natur und Kultur: Spaziergänge an der Meeresbrandung oder Wandern im Hochgebirge. Bachs Weihnachtsoratorium oder die neuesten Hits der Pop Charts.
Weihnachten ... könnte sein: Das Kleine wieder annehmen und lieben. Das Alltägliche, das sich aber nicht von selbst versteht: Dass da ein Mensch, der mich so liebt, wie ich bin. Dass ich für jemanden Bedeutung habe, dass ich selbst lieben kann. Dass wir einander wieder sehen dürfen und noch da sind. Dass wir gut zu essen und zu trinken haben. Das Kleine achten und lieben ... das ist eine Weihnachtsbotschaft.
Das Kind in der Krippe hat nicht die Welt umgestürzt. Der hohe Ton der christlichen Lehre ist vielen von uns unheimlich geworden. Dass in diesem Säugling Gott selbst sein soll – das kann heute kein Argument mehr sein im Kampf der Rechtgläubigen. Das ist ein Geheimnis, dem wir nachstammeln können - gerade wenn wir das Kleine achten und lieben.
Im Menschlichen, ja: im sogenannten allzu Menschlichen ist Gott. Und hier ahnen wir vielleicht, dass a u s der Achtung des „Kleinen“ und der „kleinen Welt“ – und nur so – erwachsen kann ... ein Sinn für das „Ganze“. Das ist ja der geniale Schluss dieser Rede von Carl Gustav Ekdahl: Nach dem Lob des „Kleinen“, nach der Lust an Glück und blühenden Obstbäumen und Freundlichkeit, nach der Betonung der Sinnlichkeit nimmt der alte Mann die kleine Tochter aus der Wiege und erklärt sie zur „Kaiserin“. Sie werde, sagt er, eines Tages nicht nur „über diese kleine Welt herrschen“, sondern über das „Ganze“. Und dann weint er kurz und schluchzt.
Es ist offensichtlich unsinnig, das mit gewohnter Logik wörtlich zu nehmen. Weder ist eine kleine Ekdahl eine zukünftige Kaiserin, noch wird sie gar über das „Ganze“ „herrschen“. Doch was dem alten Mann da vom Herzen her entwischt ist, ist in fremder Form die Botschaft von Weihnachten nach der Bibel:
Das Kind in der Krippe, das „Kleine“, das völlig gewöhnliche, so herrliche wie verletzliche Kleinkind wird einmal „herrschen“ über das „Ganze“. Was das „Ganze“ ist, weiß Carl Gustav Ekdahl nicht. Er will sich nicht daran vergreifen. Er ist demütig genug, seine Grenze zu kennen. Aber er weiß, dass es das „Ganze“ gibt und dass es unendlich wichtig ist, dass es sich Raum verschafft in dieser Welt.
Wir sind Menschen und können das „Ganze“ nicht sehen, nicht begreifen und nicht herbei zwingen. Wenn wir das versuchen, übernehmen wir uns. Wir gefährden dann uns selbst und die Welt. Das Ganze ist uns über. Das müssen wir als Menschheit zu Beginn des dritten Jahrtausends in der Zeitzählung nach Jesus erst wieder lernen. Das Ganze ist uns über; aber darum darf es uns nicht gleichgültig sein, im Gegenteil. Wir werden es nicht zu packen kriegen; aber es soll uns ergreifen, damit wir aus ihm leben – und uns nicht selbst zugrunde richten.
„Meine Weisheit ist schlicht und einfach ...“. So begann die „Weihnachtspredigt“ von Carl Gustav Ekdahl. Und sie endete mit dem Ausblick auf das große „Ganze“. Keineswegs schlicht, sondern hintersinnig: I m Kleinen ist das Große zu ahnen. Mehr nicht, aber das immerhin. In der Liebe, in der Familie, im der Versöhnung nach Streit, im Walzertanzen, im Weihnachten – Feiern, in der Musik, im guten Gespräch, in der hilfreichen Tat ist das große Ganze schon ‚drin’. Es ist wie beim Kind in der Krippe: In dem nackten Menschenkind ist der ewige Gott ‚drin’. Drin bei uns. In unserem Leben. Bei Tag und bei Nacht. Auch auf den Abwegen. Dieser Gott kann nur seine Liebe schenken, sein „Ja“ zu uns. Wer dieses „Ja“ hört, wundert sich wie die Hirten auf dem Felde bei den Hürden, wundert sich wie Maria, die deren Worte in ihrem Herzen bewegte – ein Leben lang.
„Meine Weisheit ist schlicht und einfach“: Feiert diese Heilige Nacht. Im Kleinen ahnt ihr das große Ganze. Gott ist euch geboren. Dort, wo ihr seid, findet ihr das Kind von Bethlehem, den Mann aus Nazareth, den ewigen Gott im kleinen Menschen. Dort, wo ihr seid.
Amen.