Predigt über 1. Korinther 14, 1-3.20-25 von Reiner Kalmbach
14,1
Liebe Gemeinde: wer den ersten Brief des Paulus an die Korinther zum ersten Mal liest, der kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der arme Apostel versucht, Ordnung in ein Chaos zu bringen. Menschen die aus den verschiedensten Traditionen kommen, soziale Gegensätze, die grösser nicht sein können, Richtungskämpfe, Neid, Eifersucht, verschiedene Lehren die sich durch die Hintertüre einschleichen...
  Inmitten dieses Durcheinanders versucht ein kleines und zierliches Pflänzlein in die Höhe, zum Licht hin, zu wachsen. Es ist das Evangelium, die frohe Botschaft von der Liebe Gottes zu allen Menschen...Und wie vor etlichen Jahren zuvor angekündigt, das Pflänzlein soll zu einem hohen Baum heranwachsen. Unermüdlich und mit unendlicher Geduld und Überzeugungskraft düngt und giesst Paulus das Bäumchen und reisst nebenbei das Unkraut heraus.
  
  Hören wir einen Abschnitt aus dem 14. Kapitel, die Verse 1 – 3 und 20 bis 25
  
  In den vorangehenden Kapiteln spricht Paulus von den guten (Geistes)-Gaben Gottes. Ohne sie kann keine christliche Gemeinde ihre Aufgaben erfüllen. Dabei denkt er an die einzelnen Menschen und ihre Fähigkeiten. Es ist gerade die Vielfalt der Gaben die das Leben einer Gemeinde ausmachen. Und dennoch steht über allem eine ganz besondere Gabe: ohne sie ist alle Mühe umsonst: es ist die Liebe! Das „Hohelied der Liebe“ ist einer der bevorzugten Texte bei Trauungen, aber nur wenige kennen seine eigentliche Botschaft. Aus diesem Katalog der Gaben nimmt der Apostel zwei heisse Eisen heraus: die „prophetische Rede“ auf der einen, und das „Zungenreden“ auf der anderen Seite.
  An dieser Stelle stelle ich uns, mir, gleich die erste Frage: ist dieses Thema für uns aktuell?, fühlen wir uns angesprochen...? Schliesslich zeichnen sich die Protestanten nicht gerade dadurch aus, dass sie der Welt entrückt, ekstatisch und in Zungen redend durch die Liturgie tanzen. Unser Problem ist doch eher die intellektuell hochfliegende Predigt die über die Köpfe und Herzen der Menschen hinwegrauscht, ohne Spuren zu hinterlassen, weil sie einfach kaum noch jemand verstehen kann.
  Unser Ältester, Produkt unserer Erziehung, verliebte sich bis über beide Ohren in eine junge Frau. Telefonisch bereitete er seine Eltern auf ihren ersten Besuch bei uns vor. Nach einer ziemlich langen Litanei über ihre Vorzüge, kam dann das „aber“: „...sie ist Mitglied einer Pfingstgemeinde...“, sagte er, und wir dachten..., dass sich da zwei Extreme gefunden haben: unser Sohn, ein „Vernunftmensch“, der für alles eine logische und wissenschaftliche Erklärung sucht (und manchmal auch findet). Auch in Glaubensfragen steht er über jeder „Gefühlsduselei“. Ausgerechnet er verliebt sich in eine Anhängerin der Pfingstbewegung. Später erfuhren wir, sozusage als Dessert, dass ihre Mutter die Gabe des Zungenredens hat.
  Widererwarten funktioniert diese Beziehung und heute bereichert seine Ehefrau die ganze Familie mit ihrer frischen und frohen Art. Für sie ist das Leben eine Herausforderung, die angenommen werden will.
  
  Aber vielleicht sind das ja gar keine Gegensätze, die „Rede in Zungen“ und die „prophetische Rede“, vielleicht geht es einfach darum zu lernen mit ihnen umzugehen, oder vielleicht will Paulus uns auf ein Problem aufmerksam machen, das ja wirklich existiert..., und wie mir scheint, in fast allen Gemeinden. Oder anders gefragt: wie können wir (wieder) verkündigen, so dass „alle Welt“ die Geheimnisse des Reiches Gottes versteht?, Alle Welt, d.h. doch, wir (selbst) und die anderen!
  In meiner kleinen Gemeinde am Ende der Welt, in einem vergessenen Winkel in Patagonien, gibt es zwei Gruppen, die sich von der Mehrheit „abheben“: die einen sind tief religiös, sie leben ihren privaten Glauben in einer engen persönlichen Beziehung zu Gott. Denen kann man eigentlich nichts mehr erzählen, im Grunde brauchen sie die Gemeinde gar nicht. Und dann sind da die anderen, jene die den Glauben von der Vernunft her leben, für die der christliche Glaube nichts anderes als Philosophie ist.
  Die einen brauchen die Welt (nicht mehr), während die anderen auf (den persönlichen) Gott verzichten können.
  
  Dazwischen ist die Mehrheit: Menschen die auf der Suche sind, Menschen, die Fragen haben, die Trost und Verständnis benötigen, die verzweifelt sind, Menschen die einfach verstehen wollen, was in ihnen und mit ihnen geschieht...Dann sind da auch jene die Erlösung von ihrer Schuld suchen, die endlich wieder gerade und aufrecht durchs Leben gehen möchten.
  
  So, ich denke, das Problem ist jetzt klar umrissen: es geht ums „übersetzen“, was denn? Das Wort des lebendigen Gottes in unsere Sprache. Wenn die Menschen in den Gottesdiensten nichts mehr verstehen, wenn über ihre Köpfe hinweg und an ihren Herzen vorbei gepredigt wird, dann verkommt diese heilige Stunde, diese (einmalige) Gelegenheit, zu einem  Ritus.
  Aber: Gott will zu uns sprechen, er will, dass wir, dass jeder und jede ihn verstehen!, Sein Wort will Menschen hier und jetzt treffen und so in Bewegung setzen. Schliesslich ist er in diese Welt gekommen, d.h. Gott ist zu den Menschen gekommen, nicht umgekehrt! Und genau diese „Bewegung“ soll in der christlichen Gemeinde stattfinden. Das geht jedoch nur, wenn ich den anderen im Blick habe, wenn ich die Situation meines Bruders, meiner Schwester im Glauben, kenne, wenn ich danach frage, wenn ich mich darum kümmere, wenn der Nächste für mich wichtig ist. D.h. ich habe die Gemeinde im Blick, die ganze Gemeinschaft, denn jeder oder jede ist für mich der Nächste.
  
  Zurück zu Paulus: es scheint fast so, als ob er hier jene in ihre Schranken verweissen will, die in der Öffentlichkeit des Gottesdienstes in Zungen reden. Niemand versteht sie, aber alle staunen über die „Tiefe“ ihres Glaubens. Was ist das eigentlich? Es ist ein „intimes“ Gespräch zwischen mir und Gott, also eigentlich nicht für die Umwelt gedacht, und: es ist ganz sicher eine Gabe Gottes. Und eben deshalb will sie mit Verantwortung genutzt werden. Der Glaube ist immer persönlich, aber wenn er „privat“ gelebt wird, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, führt er mich von der Welt und damit vom Menschen weg. Eine der Ursachen die bei uns in Lateinamerika zur Entstehung tausender neuer Kirchen und Sekten führen, ist die Tendenz zum privaten Glauben: Gott und ich, die (alte) Welt ist verloren, sie gehört bereits der Vergangenheit an. Sich um sie zu kümmern ist sogar Sünde, schliesslich ist diese Welt zum Untergang verurteilt. Deshalb sucht man in diesen Kirchen vergeblich nach einem Kreuz.
  Paulus sieht eben darin eine grosse Gefahr. Er appelliert an das Verantwortungsbewusstsein der Korinther. Das „attraktive“ der christlichen Gemeinde ist ihre Fähigkeit der Integration: jeder ist wichtig, jeder wird und fühlt sich verstanden, jeder wird, mit seinen Gaben, gebraucht. In anderen Worten: in der christlichen Gemeinschaft wird das geachtet und geschützt, was Gott in jedes Leben hineingelegt hat: seine Würde.
  Noch einmal Paulus: ihm geht es darum, dass alle (Geistes)-Gaben der Gemeinschaft zu Gute kommen, also auch das Reden in Zungen. Wie kann das aussehen? Ich könnte Zeugnis geben von dieser Gabe, Zeugnis einer tiefen Glaubenserfahrung, darüber, wie Gott in mir wirkt..., zur geistlichen Bereicherung der Gemeinde. In unseren Gottesdiensten haben wir diesen Schritt gewagt: Menschen dürfen, können, wollen Zeugnis geben, sich mitteilen..., und wir spüren, wie ein neuer Wind durch die Reihen weht, wie das Leben zurückkehrt, wie der Glaube „ansteckend“ übertragen wird auf andere..., und gemeinsam entdecken wir: jeder macht seine persönlichen Glaubenserfahrungen, keine gleicht der anderen. Und so wächst die ganze Gemeinde, in ihrer Vielfalt, aber vereint im Glauben an den einen Herrn.
  Und doch wird auch das persönliche Zeugnis durchwirkt von der „prophetischen“ Rede. Sich zum Menschen hinwenden, darum geht es! Die Frage „wie“ ist Gott, haben wir in einem langen Prozess überwunden, besser gesagt, beantwortet: Gott ist der Nahe, Gott ist der Mahner, Gott ist der Tröster. Sein Wort muss so übersetzt werden, dass es aufrichtet, mahnt und tröstet. Und dazu gibt es nur einen Schlüssel: die Liebe!, Deshalb ruft Paulus uns am Anfang des Abschnitts zu: „Strebt nach der Liebe...!“ Wie wollen wir der Welt die Liebe Gottes zu den Menschen bezeugen, wenn wir unter uns ohne Liebe sind?!, wie soll die „Welt“ erkennen, wessen Kinder wir sind, wenn wir nur an uns selbst denken?!
  Wenn jemand zum ersten Mal in unsere Gemeinde kommt, wenn jemand überhaupt zum ersten Mal in eine Kirche geht, was wird er dort erleben? Werden ihm die Augen und das Herz aufgehen?, wird er zu sich selbst sagen „hier bin ich richtig, das wird ein neuer Anfang für mich und mein Leben...!“ ?, oder wird es ihm ergehen, wie so vielen Menschen die auf der Suche sind: „...hier gehöre ich nicht dazu...!“?
  Ist das kleine Pflänzlein in unserer Gemeinde mittlerweile zu einem stattlichen Baum herangewachsen, oder wenigstens zu einem kleinen Bäumchen?, oder müssen wir neu lernen das Evangelium in Worten und Taten zu übersetzen, so dass es alle verstehen, wir und die andern...?
  
  Amen.
Perikope