Predigt über 1. Korinther 7, 29-31 von Antje Marklein
7,29
Verlesen des Predigttextes 1.Kor 7, 29-31, Gute Nachricht:

Denn ich mache euch darauf aufmerksam, Brüder und Schwestern: Die Tage dieser Welt sind gezählt. Darum gilt für die Zeit, die uns noch bleibt: Auch wer verheiratet ist, muss innerlich so frei sein, als wäre er unverheiratet.
  Wer traurig ist, lasse sich nicht von seiner Trauer gefangen nehmen, und wer fröhlich ist, nicht von seiner Freude. Kauft ein, als ob ihr das Gekaufte nicht behalten würdet,  und geht so mit der Welt um, dass ihr nicht darin aufgeht. Denn die gegenwärtige Welt wird nicht mehr lange bestehen.
Welch  eine Provokation! Auf den ersten Blick klingen diese Worte wie: Löst euch aus allem, was euch in der Welt wichtig ist, sie besteht eh nicht mehr lange…
  Wer schreibt so etwas, und an wen richtet er sich?
Der Apostel Paulus ist ein Christ der ersten Generation. Er hat, als er diesen Brief verfasst, schon ein bewegtes Leben hinter sich. Vom Saulus zum Paulus, so haben wir es im Ohr: der überzeugte und gewissenhafte Jude, der auf die Einhaltung der Gesetze bedacht war, wurde in einer legendenhaft erzählten Verwandlung zum Christen. In seinem neuen Leben als Christ spielt das Wort ‚Freiheit‘ eine große Rolle: Freiheit von den weltlichen Bindungen, Freiheit in der Gewissheit von Gottes Gnade, die Freiheit eines Christenmenschen – so wird Luther es später nennen. Paulus gründet christliche Gemeinden mit Menschen, die sich vorher in verschiedenen Religionen und Strömungen zuhause fühlten. Eine Gemeinde gründet er in Korinth, einer reichen, weltoffenen Stadt mit unterschiedlichsten Einflüssen. Hier verbringt Paulus 18 Monate.  Auch hier predigt Paulus von der christlichen Freiheit, die der neue Glaube an das Evangelium mit sich bringt.
Nachdem er aus Korinth abgereist ist, kommen die ersten Fragen auf in der noch jungen Gemeinde: ‚Was heißt es denn konkret, im christlichen Glauben zu leben? Welche Bedeutung haben alte Gewohnheiten noch, Regeln und Gesetze, die einem doch früher so wichtig waren?‘  Diese Fragen erreichen Paulus, und er nimmt Stellung in seinem Brief an die Korinther. Auf dem Hintergrund der überschwänglichen Freude, die er selbst mit dieser befreienden Botschaft verbindet, erscheinen ihm manche Alltagsfragen der Korinther sicher kleinlich. ‚Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangen nehmen‘- so schreibt er und buchstabiert diese freie Einstellung dann an drei Beispielen durch: an der Ehe, an Freude und Leid, und am Besitz.
Aus seiner Zeit heraus lässt sich das verstehen: das Ende dieser Welt und die Ankunft oder Rückkehr Jesu Christi stehen in Paulus’ Augen nah bevor. Es soll nur eine kurze Zeit vergehen, so ist Paulus und mit ihm die ersten Christen überzeugt, dann wird das alles nicht mehr sein, was sie an dieser Welt haben.
Auf diesem Hintergrund sind die Worte von Paulus jetzt besser zu verstehen:
Wer verheiratet ist, muss innerlich so frei sein, als wäre er unverheiratet.
  Wer traurig ist, lasse sich nicht von seiner Trauer gefangen nehmen, und wer fröhlich ist, nicht von seiner Freude. Kauft ein, als ob ihr das Gekaufte nicht behalten würdet,  und geht so mit der Welt um, dass ihr nicht darin aufgeht. Denn die gegenwärtige Welt wird nicht mehr lange bestehen.
Nun ist auch 2000 Jahre später die Zeit dieser Welt nicht abgelaufen. Persönlich mögen wir es fühlen, dass die Zeit uns zwischen den Fingern zerrinnt, dass wir sie nicht festhalten können und uns dabei manchmal angst und bange wird – oder auch eine große Gelassenheit sich einstellt… Gesamtgesellschaftlich herrscht auch bisweilen Untergangsstimmung, beim Thema Staatsverschuldung etwa oder auch in den immer wiederkehrenden Krisenherden unserer so klein gewordenen Welt. Auch hier kann Angst die Reaktion sein oder eine resignative ‚Ganz-egal‘-Stimmung.  Paulus denkt anders: ‚Lebt, als ob nicht‘. Lasst das, was ihr habt, es hat keine Bedeutung. Bindet euch nicht an Besitz, bindet euch – an Gott.
Ich höre sie schon fragen, damals die Korinther und heute uns: Und? Was haben wir davon? Was tauschen wir ein für das was wir aufgeben?  Für Paulus eine einfach zu beantwortende Frage: Es gibt neue Besitzverhältnisse: Alles ist euer, ihr seid Christi, Christus ist Gottes (1. Kor 2, 22f). Eine  neue Sichtweise.
Vielleicht können wir das ja einmal ausprobieren, diese neue Sichtweise: ‚Einen Sprung aus mir heraus‘ (Zitat aus Lied: Weißt du wo der Himmel ist). Für einen Augenblick heraustreten aus unserem eingespielten, sicheren Leben. Sich einen Moment neben die Spur stellen. Für einen Augenblick heraustreten aus den Bindungen die uns Halt geben; als Verheiratete so frei sein, als wären sie nicht verheiratet, als Trauernder sich so weit von der eigenen Trauer distanzieren, als wäre sie nicht da; als Fröhlicher die eigene Fröhlichkeit für einen Moment zur Seite schieben, und ebenso den Besitz, das eigene Haus oder den neuen Lehnsessel… 
Was passiert dann? Welche neue Gedankenwelt öffnet sich? Oder ist das beängstigend? Mir fällt das  schwer. Die Bindungen für unwichtig erklären, die meinem Leben Sicherheit, Wohlbehagen, ja Sinn geben.   Und dann bleibt ja auch noch die Frage: Wozu das alles? Wozu mache ich dieses Gedankenspiel, mich aus allem zu lösen. Wie fülle ich dann diese Leere die auftaucht?    Frei sein von der Welt, frei sein für Gott, so formuliert es Paulus, und das klingt steil! Und wirft neue Fragen auf: Was heißt denn Frei sein für Gott?
Ich kann mir vorstellen, dieses Heraustreten aus meinen Bindungen als Chance zu verstehen, mich neu zu verorten. Zu spüren oder zu entdecken, dass das Leben mehr ist als eine Summe von Lebensstationen von der Wiege bis zur Bahre. Dieser Blick relativiert in einem guten Sinn die Dinge, die meinen Alltag bestimmen – und oft auch beschweren. Und so ist es eine gute Anregung, zu fragen: Wo verorten wir uns in diesem Leben, was trägt uns jenseits von Besitz, von Beziehungen, von Emotionen aller Art?  Vielleicht wird unser Blick schon allein durch diese Frage weiter, öffnet neue Blickwinkel, neue Richtungen, das eigene Leben zu sehen und zu verstehen. Und vielleicht wird da auch plötzlich der Blick frei für Gott,  der meinem Leben seinen Grund gibt. So sind wir, denke ich, der Gedankenwelt des Paulus auf der Spur.
Noch einmal anders gesagt: Es ist, als ob wir mit den Füßen auf der Erde und mit dem Herzen im Himmel leben würden.  Ganz hier, standfest auf dem Boden der Welt, in allen Bindungen die unsere Leben Halt geben, und zugleich gelassen losgelöst von all dem, was uns gefangen halten will. Fühlt sich das nicht gut an?
Beim Entstehen dieser Predigt kam mir ein Satz in den Sinn aus einem alten ‚frommen‘ Gesangbuchvers, der sich wie ein Ohrwurm festsetzte: In der Welt der Welt entfliehen auf der Bahn die er uns brach; immerfort zum Himmel reisen, irdisch noch, schon himmlisch sein.
(Lasset uns mit Jesu ziehen,
  Seinem Vorbild folgen nach,
  In der Welt der Welt entfliehen,
  Auf der Bahn, die er uns brach,
  Immer fort zum Himmel reisen,
  Irdisch noch, schon himmlisch sein,
  Glauben recht und leben fein,
  In der Lieb' den Glauben weisen!
  Treuer Jesu, bleib bei mir;
  Gehe vor, ich folge dir! (EG 384)
Ich möchte das ausprobieren, vielleicht sogar mehr als einmal: heraus treten aus den Bindungen, sie von außen kritisch und zugleich gelassen betrachten und dann mit einem neuen, fast himmlischen Blick darauf wieder zurück gehen, gelassener und offener, weiter im Blick und getragen von der Geborgenheit in der Freiheit die mir Gott schenkt.
  Amen
 
Verwendete Literatur: Predigtstudien 2011/2012/II, Kreuz Verlag 2012, S. 236 ff
Lied 384 (EG)
Lied 69 (Das Kindergesangbuch, Claudius Verlag):
  Weißt du wo der Himmel ist  außen oder innen
  eine Handbreit rechts und links – du bist mitten drinnen
  Weißt du wo der Himmel ist? Nicht so tief verborgen,
  einen Sprung aus dir heraus, aus dem Haus der Sorgen.
  Weißt du wo der Himmel ist? Nicht so hoch da oben:
  Sag doch ja zu dir und mir, du bist aufgehoben.
 
Perikope