Predigt über 1. Mose 12, 1-4a von Walter Meyer-Roscher
12,1
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
  bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
  um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
  In andere, neue Bindungen zu geben.
  Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
  der uns beschätzt und der uns hilft zu leben.
  
  Ja, jeder Lebensruf bedeutet Abschied und auch die Bereitschaft zu einem Neubeginn. Nur wer bereit ist, sich in andere, neue Bindungen zu geben, kann zuversichtlich die Stufen des Lebens beschreiten. Hermann Hesse ist sich sicher: Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der einem Menschen auf seinem Lebensweg weiterhilft.
  
  Aber wer gibt schon gern auf, was er hat: mühsam Erworbenes, glücklich Erreichtes, die berechenbare Sicherheit des Gewohnten, Bindungen, die sich als tragfähig erwiesen haben? Wer macht sich schon gern auf den Weg in eine ungewisse Zukunft? Lieber bleiben wir doch, wo wir sind, und halten fest, was wir haben.
  
  Jeder Lebensruf, wie Hermann Hesse ihn beschreibt, weckt auch Urängste. Und die haben sich in unserer Zeit auf dramatische Weise verstärkt, sind bedrohlicher geworden und haben uns zu Getriebenen gemacht.
  
  Wir werden vorwärts getrieben durch die Dynamik von grenzenlosem Forschungsdrang, wissenschaftlichen Erkenntnissen, technischen Innovationen, globalisierter Wirtschaft. Sie erzeugen Veränderungen, die unser Leben und unser Zusammenleben immer intensiver und in immer kürzeren Abständen massiv beeinflussen. Die familiären und die sozialen Bindungen sind kurzlebiger geworden und die beruflichen Biographien nahezu unvorhersehbar. Wer kann das heute noch sagen: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“?
  
  Vielleicht sehen die Jüngeren in der Dynamik von Ausbildung, Umschulungen, Zeitverträgen, Wohnortwechseln ja durchaus auch immer neue Chancen. Aber die Älteren spüren doch wohl mehr die Angst vor frühzeitigem Existenzverlust und dem Verlust lebenswichtiger Beziehungen. Das macht viele zu Getriebenen.
  
  Statt mutig von Stufe zu Stufe zu schreiten, sehen sich immer mehr – auch in unserer Gesellschaft – auf dem unsicheren Weg in eine unsichere Zukunft, deren Horizont keine Orientierung verspricht.
  
  Mascha Kaleko, die deutsch-jüdische Dichterin, die in einem fast lebenslangen Exil immer weiter wandern musste, hat es  nicht nur  für sich und die Generation der damaligen Exilanten, sondern  vielleicht auch   für viele von uns geradezu programmatisch zum Ausdruck gebracht:
  
  Wohin ich immer reise,
  Ich fahr nach Nirgendland…
  Die Wälder sind verschwunden,
  Die Häuser sind verbrannt.
  Hab keinen mehr gefunden.
  Hat keiner mich erkannt…
  Wohin ich immer reise,
  Ich komm nach Nirgendland.
  
  Könnte es sein, das die Dynamik der Veränderungen, deren Sog uns mitreißt, uns alle letztlich in ein Nirgendland führt, ein Land ohne dauerhafte Ordnungen, ohne allgemein anerkannte Werte, ohne Gemeinschaftserfahrungen, ohne Heimatrecht? Was bleibt uns, wer bleibt uns? Mascha Kaleko hat erfahren:
  
  Wir haben keinen Freund auf dieser Welt. Nur Gott...
  Von all den vielen ist nur er geblieben. Sonst keiner, der in Treue zu uns hält.
  
  Ja, von all den vielen, die im Namen des Fortschritts oder auch im Namen von Macht und Besitzgier zum Aufbruch drängen, ist er der Eeinzige, der nicht nur zum Aufbruch ruft, sondern auch ein Ziel angibt. So hat Abraham es erfahren und ist damit zum Urbild von Mut, von Zuversicht, von Glauben geworden.
  „Geh aus deinem Vaterland und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will!“ Abraham hat mit der Aufforderung zum Aufbruch gleichzeitig Gottes Zusage gehört: „In ein Land, das ich dir zeigen will“. Seit Abraham hat unser Gottesglaube etwas zu tun mit dem Mut zum Aufbruch. Und dieser Glaube lebt von dem Versprechen Gottes, den Weg zu weisen, uns zu begleiten in eine Zukunft, die er uns zeigen will.
  
  Orientierung und Begleitung braucht jeder, der die Aufforderung zum Aufbruch, zum Loslassen und zum Weitergehen erfährt. Für Abraham war diese Zusage Gottes entscheidend. Ihn trieb nicht blinder Gehorsam, sondern die Überzeugung, dass der, dessen Ruf zum Aufbruch ihn erreichte, sich mit ihm zusammen auf einen langen, gefahrvollen, unsicheren Weg begeben wollte  – vor ihm, um ihm Weg und Ziel zu zeigen, und mit ihm, um ihn auf diesem Weg zu schützen.
  
  Begleitung, Schutz und die Aussicht auf ein Ziel, das am Horizont zu ahnen ist – für Abraham war es mit der Zusage des Segens verbunden: Ich will dich segnen, verspricht Gott, und du sollst ein Segen sein für andere, für viele. Die Segenszusage gilt bis heute, und sie gilt allen, die versuchen, den Glauben an Gott als Vertrauen auf seine Nähe zu leben.
  
  Paulus hat es so zum Ausdruck gebracht: Abraham vertraute auf Gott. uns so werden alle, die aus diesem Vertrauen leben, gesegnet in Gemeinschaft mit Abraham, der geglaubt und vertraut hat. (Nach Galater 3, Vers 6 und 9)
  
  Gottes Segen, das lernen wir von Abrahams Aufbruch und seinem Weg, ist nicht nur ein Ritual der „Entlassung“ aus einer gottesdienstlichen Feier. Segen ist ein Versprechen Gottes, das wir gerade dann als Lebensmöglichkeit brauchen, wenn die ständige Herausforderung, immer neue Aufbrüche in  immer neue Veränderungen von Lebensgewohnheiten wagen zu müssen, uns Angst macht. Gott will uns auf einen Weg führen, auf dem wir von Vertrauen und mit Vertrauen weiterleben können. Wir müssen  uns nicht bannen lassen  durch die eigenen Zweifel und die Erfahrung, dass so vieles in unserem Leben in den Sog der allgemeinen Hektik gerissen wird und dadurch fragmentarisch bleiben muss. Segen bedeutet die Freiheit von allen Zwängen der Selbstrechtfertigung, wenn wir durch die Dynamik der Veränderungen überfordert werden, uns verbraucht und nicht mehr so richtig lebenstauglich fühlen.
  
  Paulus erinnert daran, dass wir gerade dies von Abraham lernen können: Wir müssen die Grundlagen unseres Lebens nicht selbst legen und sichern. Wir sind nicht die Macher des Lebens. Wir müssen es auch nicht sein. Wir können Gott zutrauen, dass er sein dem Abraham gegebenes Versprechen hält: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein“.
  
  Mit seinem Segen, mit dem Vertrauen auf seine Nähe Veränderungen nicht fürchten, sich nicht in Resignation und Hoffnungslosigkeit zurückziehen, vielmehr die alten Gebote Gottes  für unsere Zeit leben und weitergeben, seine lebenswichtigen Ordnungen des Zusammenlebens auch weiter menschenwürdig gestalten – so gehen wir in ein Land, das Gott uns jeden Tag neu zeigen will.
  Amen
   
Perikope
08.07.2013
12,1