Predigt über 1. Mose 4, 1-16 von Günter Goldbach
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Predigt über 1. Mose 4, 1-16 von Günter Goldbach

Liebe Christinnen und liebe Christen,
diese Geschichte kennen wir. Sie gehört zu den bekanntesten der Bibel überhaupt. Es ist eine zutiefst beklemmende Geschichte. Sie besitzt nicht einmal die Qualität antiker Tragödien. In bedrückender Weise führt sie uns das Böse vor Augen: als  primitive, fantasielose Untat. Der Ort des Geschehens ist irgendwo und überall.
  Wir kennen diese Geschichte: Kain, der erste – und wahrlich nicht der letzte – Mörder. Abel, das erste – und wahrlich nicht das letzte – Opfer. Doch irgendwie scheint das Ereignis ungeklärt. Irgendwie tappen wir im Dunkeln. Wir wissen immer noch nicht wirklich, warum Kain Abel tötete. Und warum Abel sich von Kain töten ließ. Wir verstehen beide nicht, weder den einen noch den anderen. Obwohl: Wir spüren auch irgendwie und dunkel: Ihr Schicksal geht uns etwas an. Ihr Verhalten ist uns nicht völlig fremd. Alles, was sie dazu treibt, nimmt unser eigenes Verhalten in sog. Extremsituationen vorweg. Kain und Abel sind ja keineswegs nur Individuen. Sie sind Symbole und Beispiele für die stärksten Triebe, die die Mitglieder der menschlichen Gesellschaft seit jeher in Hass, Blutvergießen und Kriege stürzen. Und schließlich zur Selbstzerstörung führen. Darum natürlich wird uns heute diese schauerliche Geschichte erzählt. Darum stoßen wir in der Menschheitsgeschichte immer wieder auf diese beiden Brüder, die sich um die Gunst des Himmels stritten. Obwohl viele Fragen offen bleiben (müssen). Und die geschilderte Situation viele Ungewissheiten nicht aufklärt.
Lassen Sie uns aber ruhig noch einmal genauer hinschauen: Die Handlung wird schnell erzählt. Der Stil ist nüchtern und sachlich. Der Bericht liest sich wie ein tragisches Dreipersonenstück. Die Auseinandersetzung spielt zwischen zwei Brüdern, die Rivalen sind. Und einem Gott, der mindestens einem der beiden gegenüber feindselig eingestellt zu sein scheint.
  Kain – „ich habe einen Mann geboren“, hatte seine Mutter bei seiner Geburt gesagt (v 1). Kain: „Lanze“ heißt dieser Name wörtlich übersetzt – gemeint wohl als Inbegriff von Macht und Stärke. Jedenfalls: Er ist ein Mann der Tat. Er glaubt, ihm sei alles erlaubt. Er ist ehrgeizig und braucht Selbstbestätigung. Er muss gewinnen. Und wenn es anders kommt, dann kann er das in seinem verletzten Stolz nicht ertragen. Und total frustriert handelt er total irrational: Nicht gegen Gott, der ihm diese Niederlage zugefügt hat, wendet er sich. Er vergreift sich an seinem unschuldigen Bruder. Und tötet ihn.  -  O ja, das kommt uns bekannt vor. Wir alle kennen sie doch auch: diese Kains, diese frustrierten Typen, die ihre Frau schlagen und ihre Kinder misshandeln. Weil der an ihrem Frust eigentlich Schuldige – im wahrsten Sinne des Wortes – nicht „greifbar“ ist.
  Abel – ein unsteter, unruhiger, unsicherer Typ, der sich nirgendwo geborgen und sicher fühlt. Abel: „Nichtigkeit, Hinfälligkeit“ heißt dieser Name wörtlich übersetzt. Der jüngere Bruder sollte wohl von Anfang an die zweite Geige spielen. Er ist der Typus des grundsätzlich zu kurz Gekommenen. Er ist scheu und schüchtern, sanft und nachgiebig. Er ist geradezu der Prototyp des Opfers.  -  O ja, das kommt uns auch wieder bekannt vor. Wir alle kennen sie doch auch: diese Abels, diese geradezu zum Mobbing einladenden Typen. „Du Opfer!“ – so müssen sie sich etwa in der Schule beleidigen lassen.
  Im Vergleich zu „so einem“ hält es Kain wohl für absolut selbstverständlich, dass sich Gott zu ihm bekennt. Dass Gott ihn in seiner Rolle als Stärkeren bestätigt. Aber Gott entscheidet sich anders.  -  Müssen wir nicht sagen: Natürlich entscheidet Gott sich anders!? Ist es nicht geradezu Gottes Programm, sich auf die Seite der Schwachen zu stellen?!
Aber die eigentlich theologischen Fragen sind schwerwiegender, als dass sie sich mit dieser Feststellung zufrieden stellend erklären ließen. Muss man nicht – geradezu ratlos – fragen: Warum handelt Gott eigentlich so?! War diese Zurückweisung der Opfergaben Kains nötig? Wusste Gott nicht vorher, was geschehen würde?! Ist ER nicht irgendwie – oder geradezu – schuld an dieser schrecklichen Geschichte?! Wenn er nicht wollte, dass Kain den Abel tötete: Hätte er nicht dazwischen treten können?!
  Aber: Da steht Kain mit seinen Opfergaben – und Gott will sie nicht! Wozu diese grundlose und öffentliche Demütigung?! Ist es nicht ganz natürlich, dass Kain das Unrecht, deren Opfer er ist, rechtfertigen will?! Dass er handelt?! Dass er zuschlägt?! Dass er tötet?! Ist das für uns zu begreifen, warum – letztlich – durch Gottes Tun und Lassen Menschen, Brüder, zu unversöhnlichen Feinden werden?! „Ist es wahr, dass Gott alle Menschen ohne Unterschied liebt?“ fragt ein Gottes-Kritiker (Adolf Holl). Und er antwortet: „Nein, denn er hat den Abel bevorzugt behandelt. Neigt Gott dazu, manche Menschen zu bevorzugen und andere zu benachteiligen? Ja. Soll man mit dieser Haltung einverstanden sein? Nein“.  -  Sie muss womöglich nicht so rigoros sein, diese Gottes-Kritik. Die jüdisch-rabbinische Erklärung lautet: Gott ist Geheimnis. Gott ist Schweigen.  -  In der Tat ist das die Antwort des Alten Testamentes. Gut nachzulesen im Buch Hiob: Gott kann man nicht fragen: Warum tust du das? Warum lässt du das geschehen? Weil Gott Gott ist, kann man ihn nicht zur Rechenschaft ziehen. Weil er Gott ist, ist er keinem Menschen Rechenschaft schuldig.
Für uns mag das alles unbefriedigend sein. Aber es hilft wohl nichts. Und darum hilft womöglich ein Ausweg weiter: den Blick noch einmal auf den Menschen zu richten. Also auf Kain. Ihn hat Gott – wie alle Menschen – frei geschaffen. Frei zum Guten und zum Bösen. Und darum ist er verantwortlich für das Eine wie für das Andere. Muss man deshalb nicht sagen: Kain wurde schuldig, weil er Abel beneidete und sich weigerte, ihn trotz allem zu lieben?!
  Hätte Kain sich nicht auch anders entscheiden können? Ich versuche es einmal, mir das vorzustellen: Wenn er nun seinen Bruder in Ruhe gelassen, wenn er sich gegen Gott aufgelehnt hätte – was wäre dann geschehen? Nun, Abel wäre nicht umsonst gestorben. Kain hätte nicht für nichts und wieder nichts getötet. Ihre gemeinsame absurde Geschichte hätte gar nicht stattgefunden. Aber Gott wäre zur Rede gestellt worden. Der Gott, dessen Ratschlüsse dem Kain – und nicht nur ihm! – unbegreiflich und unerträglich vorkamen. Dem Kain, der nicht die Gewalt, sondern das Wort gewählt hätte.
  Hätte er nicht also zu Gott sagen können: „Herr Gott, gib zu, dass ich allen Grund habe, zornig und enttäuscht zu sein! Gib zu, dass ich gegen die Ungerechtigkeiten und Prüfungen protestieren muss, die du mir und allen Menschen auferlegst! Gib zu, dass ich meinen Bruder schlagen und die ganze Menschheit in ihrem Blut und meinen zornigen Tränen ertränken könnte! Aber ich werde es nicht tun. Ich werde nicht zerstören. Hörst du mich, Gott, ich werde nicht töten!“
  Wenn Kain so gesprochen hätte: Wie anders wäre die Geschichte verlaufen! Aber Kain wusste wohl noch nicht, dass Gott Gott ist. Dass Gott der Gott ist, den wir kennen. Den Gott, der nicht unerforschliche Ratschlüsse fasst – ein für allemal. Den Gott, der sich beeinflussen, der sich bewegen und umstimmen lässt – durch das flehentliche Gebet der Menschen. Diesen Gott kannte Kain wohl nicht.
Dabei hätte er es ahnen können: Denn Gott lässt ihn ja nicht alleine. Von Anfang an kümmert er sich auch um ihn. Auch als sich Kain von ihm abwendet und Unheil brütet. Als sich „seine Gebärden verstellen“, wie es im Bibeltext heißt (v 5). Gott redet ihn an. Gott warnt ihn. Er will ihn auf seinem gewalttätigen Weg aufhalten. Aber Kain will sich nicht aufhalten lassen. Und darum geschieht, was nicht hätte geschehen müssen.
  Auch den Mörder Kain redet Gott wieder an. Um ihm die Möglichkeit der Reue und damit der Umkehr zu geben. Um ihn zu retten. „Wo ist dein Bruder Abel?“ (v 9a). Aber Kain bereut nichts. Und er will sich nicht retten lassen. „Was geht mich der an?!“ ist seine Antwort. „Soll ich den Hirten hüten?“ heißt es wörtlich übersetzt (v 9b). Das ist eine über alle Maßen freche Antwort. Kains Zynismus ist kaum zu überbieten. Denn in einem Augenblick, wo es um Tod und Leben geht, macht er einen Witz. Und versteigt sich zu einem Wortspiel: „Soll ich den Hirten hüten?“
  Erst nachdem Gott den Fluch über Kain ausgesprochen hat, bricht dieser zusammen. Wohl nicht aus Reue, sondern aus purer Angst vor etwaigen Rächern. Deshalb flieht er aus der sesshaften Sicherheit in das Land „Nod“. Zu Deutsch: in das Land der „Ruhelosigkeit“. In ein Leben also, das sein Bruder Abel – von ihm verachtet – früher geführt hatte. Aber auch im Land Nod ist Kain nicht ganz und gar verlassen und total schutzlos. Gott macht ein „Zeichen“ an ihm, berichtet unser Text. Ein „Kainszeichen“, das ihn tabu sein lässt. „Damit ihn niemand erschlüge, der ihn fände“ (v 15).
  Aber alle diese Schutzmaßnahmen Gottes, ihn zur Besinnung und auf einen anderen Weg zu bringen, alles waren wohl immer noch zu undeutliche Zeichen für Kain. Und für Kains Nachkommen.
Denn Kain lebt wahrlich auch heute noch. Die Exzesse schrecklicher Unbrüderlichkeit, ja Unmenschlichkeit werden uns täglich durch die Massenmedien vor Augen geführt. Kaum eine Gegend dieser angeblich so human gewordenen Welt bleibt davon verschont. Die Axt Kains, die er gegen seinen Bruder Abel erhob, ist dabei zu Langstreckenraketen und atomgetriebenen Unterseebooten geworden, mit denen sich ganze Völker gegenseitig bedrohen und in Schach halten.
  Aber es nützt uns kleinen Leuten natürlich gar nichts, gebannt auf kosmische Atombrände zu starren, die die Erde und alles Leben auf ihr bedrohen könnten. Für jeden einzelnen von uns ist es wichtiger, auf die kleinen Funken zu achten, aus denen die großen Brände entstehen. Dann können wir nämlich entdecken: So unendlich weit entfernt sind wir gar nicht von jenem Drama, das sich  zwischen Kain und Abel abgespielt hat. Gelegentlich habe ich es schon angedeutet. Zumindest das, was Kain zu seiner Tat angetrieben hat, kennen wir alle ganz bestimmt auch: das Bestreben, möglichst alles Erreichbare für sich selbst zu beanspruchen. Den Neid, wenn ein anderer an unserer Stelle Erfolg hat. Die Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass jeder Mensch neben uns ein Auftrag Gottes an uns ist.
  Ich vermute, Sie bleiben skeptisch. Sie mögen wohl denken: Sicher haben wir den einen oder anderen bösen Gedanken. Aber – anders als Kain – haben wir nun einmal niemanden totgeschlagen. Okay, okay. Aber ich halte es für möglich, dass Gott einen jeden und eine jede von uns auch heute noch fragt: Wo ist dein Bruder Abel? Und dann erkundigt er sich vielleicht nicht unbedingt nach denen, die wir erschlagen haben. Wohl aber nach denen, an denen wir auf andere Weise schuldig geworden sind: die wir zugrunde gehen lassen haben. Die uns aber so was von egal waren.
  In der Rede Jesu vom Weltgericht spricht er eigentlich nicht viel von Massenmördern und anderen Monstern der Weltgeschichte. Verwunderlicherweise stehen die vor Gericht, die eigentlich nichts getan haben: „Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet. Ich bin krank und gefangen gewesen, und ihr habt mich nicht besucht…“ (vgl. Mt. 25, 31ff). Oder: In der bekannten Geschichte von dem barmherzigen Samaritaner (Lk. 10, 25ff) trifft Jesu Vorwurf seltsamerweise nicht in erster Linie diejenigen, die den Reisenden überfallen haben. Sein Vorwurf trifft vor allem den Pharisäer und den Leviten, die „gar nichts“ getan haben. Die „nur“ an dem vorbeigegangen sind, der unter die Mörder gefallen war.
Liebe Christen, damit sind wir nicht mehr bei den Texten des Alten, sondern des Neuen Testaments. Und damit bei der Botschaft des Neuen Testaments: Dass Gottes eingeborener Sohn Kains Bruder geworden ist, unser Bruder. Auch den haben seine Brüder erschlagen und bringen damit über sich „all das gerechte Blut, das vergossen ist auf Erden, von dem Blut des gerechten Abel an“, wie es bei Matthäus heißt (Mt. 23, 35). Aber Jesu Blut „redet besser als das Abels“, steht im Hebräerbrief zu lesen (Hebr. 12, 24). Denn in ihm, Jesus, hat Gott den Fluch zurückgenommen, den er über Kain ausgesprochen hat – und über den „Kain in uns“. In Jesus hat er Frieden gemacht zwischen sich und allen Menschen.
  Müsste nun nicht der Mensch, der Gott wieder gefunden hat, auch seinen Bruder wieder finden wollen?! Diese Möglichkeit haben wir jedenfalls. Wir können mit dieser Möglichkeit immer wieder neu anfangen zu leben. Wir können jeden neuen Tag, den uns Gott schenkt, Gottes Wort neu hören, wie es Johannes in seinem in seinem 1. Brief geschrieben hat: „Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt, dass wir einander lieben sollen. Nicht wie Kain, der aus dem Bösen war und schlachtete seinen Bruder“ (1.Joh. 3, 11).
  Wir sollen einander lieben! Das ist immer wieder neu Gottes Gebot für uns. Mehr: die neue Lebensmöglichkeit in Verantwortung vor Gott und füreinander. Es ist die Möglichkeit, das ungerechte Leiden in dieser Welt nicht abzuschaffen, aber es zu verringern. Es ist die Möglichkeit, die Ungeheuerlichkeit des Leidens in dieser Welt an einer kleinen Stelle, in unserer jeweiligen Umgebung, zu unterwandern. Je mehr wir das üben und je vollkommener wir darin werden, verliert unser Gesicht die Züge Kains. Es gleicht immer mehr dem Abels. Ja, es könnte in dem einen oder anderen Ausdruck so erscheinen, als wäre es das Gesicht dessen, dem wir zugehören und nachfolgen wollen. Von ihm selbst „geprägt“ können wir in unserem Lebensvollzug dessen „Nachgestalter“ werden – wie es der Apostel Paulus eindrucksvoll formuliert (1. Thess. 1, 6f). Amen.

  Dr. Dr. Günter Goldbach
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