Predigt über 1. Thessalonicher 1, 2-10 von Christoph Hildebrandt-Ayasse
1,2
Liebe Gemeinde,
es gibt so Sprüche, die kriegt man einfach nicht mehr aus dem Kopf heraus. In meiner privaten Spruchsammlung im Kopf befindet sich so ein hartnäckiger Spruch. Er ärgert mich. Ich werde ihn nicht los. Ich las ihn damals, Ende der 70er Jahre in einem Paperback Büchlein für Jugendliche. Ein Büchlein voller Bilder und Kurztexte zum Nachdenken für junge Christen. Natürlich vor allem Provozierendes war da abgedruckt, ganz im Stil der 70er. Da las ich also, und hab bis heute nicht vergessen, folgenden Spruch: „Glotzt nicht beim Loben nur immer nach oben – schaut mal zu Seite, da seht ihr die Pleite.“
Das, liebe Gemeinde, klingt doch so richtig nach den 70ern. Immer schön kritisch, vor allem: immer schön selbstkritisch. Die Botschaft war damals klar: wenn du dich so umschaust in deiner Gemeinde, dann erblickst du eine einzige Pleite. Menschen, mit denen du nichts zu tun haben willst. Und Kirchenbänke, die immer leerer werden.
„Glotzt nicht beim Loben nur immer nach oben – schaut mal zu Seite, da seht ihr die Pleite.“
Das empfand ich damals als ungeheuer provozierend. Es war so realistisch und zugleich so falsch. Der Spruch hatte so recht und war gleichzeitig so ungemein ungerecht. Deshalb habe ich ihn wohl bis heute nicht vergessen. Deshalb ärgert er mich bis heute. Ja, es stimmt, schon damals wurden die Kirchenbänke sonntags immer leerer; das tat schon damals weh, nicht nur heute. Aber dieser kritische, abschätzige Blick auf die, vielleicht nur wenigen, Gottesdienstbesucher in den Bänken – ich fand ihn gemein. Natürlich wollte ich als Jugendlicher mit den anderen Gottesdienstbesuchern nicht unbedingt etwas zu tun haben wollen, sondern nur mit meinen Kumpels aus der Konfirmandengruppe und aus dem Jugendkreis. Und trotzdem, bei allen Unterschieden: wir waren zusammen im Gottesdienst, sangen zusammen, wenn auch nicht unbedingt meine Lieder, beteten zusammen, lobten zusammen. Da gab es eine Gemeinschaft, die an vielen Punkten kritisiert werden konnte, weil sie nicht meiner Lebenswelt als Jugendlicher entsprach mit ihren Liedern und ihrer Kleidung und ihrer Sprache. Aber davon unabhängig, gab es sie, gibt es diese Gottesdienstgemeinde, weil sie sich eben zum Gottesdienst trifft, zum Loben und dem gemeinsamen Blick nach oben.
„Wir danken Gott allezeit für euch alle“, damit beginnt Paulus seinen Brief an die Gemeinde in Thessaloniki. Das ist eine andere Art, sich um zu schauen. Das ist ein anderer Blick zur Seite. Vielleicht ein Blick, den wir verlernt haben? Eine Art, die christliche Gemeinde zu sehen, die wir wieder lernen sollten?
Der Blick auf die Gemeinde, das Nachdenken über den Gottesdienst, die analytischen und kritischen Studien über den Zustand der Kirchengemeinden ist gegenwärtig notwendig. Brauchen wir Leuchtfeuergemeinde, die attraktiv und vorbildlich für andere, weniger lebendige Gemeinden wirken? Brauchen wir Gemeindefusionen für Synergieeffekte und auch, damit manche Gemeinde nicht Pleite geht? Milieustudien fragen danach, welche Personengruppen wir mit unseren Gemeinden überhaupt erreichen und welche Menschen wir in der Kirche gar nicht im Blick haben. Wir blicken uns um und entdecken, dass die Anzahl der Menschen anderer oder gar keiner Religion immer weiter steigt und beginnen uns in Dialogfähigkeit zu üben. Der Blick zur Seite auch über die Kirchenmauern hinaus ist angesagt, wird gefordert und eingeübt. Wir sehen neben uns andere Gemeinden, die wachsen und fragen: was haben die, was wir nicht haben? Manchmal kann man den Eindruck bekommen, wir schauten uns nur noch um, so, als säße uns die Angst im Nacken.
„Wir danken Gott allezeit für euch alle“, damit beginnt Paulus seinen Brief an die Gemeinde in Thessaloniki. Das ist eine andere Art, sich um zu schauen. Das ist ein anderer Blick zur Seite.
Wie wäre es, wenn uns die Neugier und die Freude aus den Augen blickten, so wie dem Apostel Paulus?
Im Urlaub, irgendwo, in eine Kirche gehen, zum Besichtigen, zum Gottesdienst, zu einem Konzert. Das machen viele. Und begeistert und voller Interesse wird anschließend davon erzählt. So vieles fällt auf, gefällt, macht neugierig in einer fremden Kirche. Gebete werden gesprochen. Stille tut gut. Kunst regt zum Nachdenken an. Erfahrungen, die mancher Urlauber im Heimatort gar nicht suchen würde. Glaubenserfahrungen, die man aus der heimatlichen Ortskirche gar nicht kennt. Über sich selbst erstaunt spricht mancher zu Hause angekommen Dankbarkeit über den Glauben anderer an anderen Orten aus. Der Blick zur Seite lässt den eigenen Glauben entdecken. Als Zeichen dafür brennt irgendwo eine Kerze, stehen Worte, die von Herzen kamen, in einem Fürbittbuch. Und zuhause?
„Wir danken Gott allezeit für euch alle“, damit beginnt Paulus seinen Brief an die Gemeinde in Thessaloniki. Das ist eine andere Art, sich um zu schauen. Das ist ein anderer Blick zur Seite. Einer, der nicht Menschen zählt, sondern mit dem Herzen sieht.
„Wo sind aber die anderen neun?“, fragt Jesus den Geheilten. Sie erinnern sich an die Schriftlesung aus dem Lukasevangelium. Nur der Geheilte mit dem anderen Glauben kehrt zurück und dankt Jesus für seine Heilung. Einer von zehn.  Zehn Prozent Erfolg. Müssen wir so rechnen? Selbst wenn die Kirchen im Namen Jesu Wunder täten, hätten wir nur zehn Prozent Zuwachs. Müssen wir so rechnen: nur zehn Prozent Erfolg bei allen Anstrengungen? So eine Pleite. Das ist die Erfahrung mancher Gemeinde. Das ist das Ergebnis manchen großen Events. Da haben wir so geworben, uns so eingesetzt und dann so Wenige und so wenig erreicht. Was sollen wir denn noch versuchen? Wer so fragt, darf nicht auch noch den einen, diese zehn Prozent die trotzdem gekommen sind, vergessen.
„Wir danken Gott allezeit für euch alle“, damit beginnt Paulus seinen Brief an die Gemeinde in Thessaloniki. Das ist eine andere Art, sich um zu schauen. Das ist ein anderer Blick zur Seite.
Ein Blick, der einmal nicht von vorneherein gleich kritisch ist. Ein Blick, der erst einmal hinschaut und bereit ist, sich zu freuen – über alle.
„Wir danken Gott allezeit für euch alle“ – das ist eine andere Lebenshaltung, eine andere Einstellung als diese Haltung aus dem 70erjahre Spruch. „Glotzt nicht beim Loben nur immer nach oben – schaut mal zu Seite, da seht ihr die Pleite.“
Wer um sich herum immer nur Pleite sehen will in den Kirchengemeinden, dem geht es natürlich dementsprechend schlecht; der dreht sich nur kritisch um sich selber. Vielleicht könnten wir mit Paulus lernen, den Blick einmal zu heben. Gehen wir einmal vom Danken aus. Vom Danken für andere. Paulus freut sich darüber, ist Gott dankbar dafür, dass es in anderen Gemeinden so gut läuft. Ist das eine uns fremde Einstellung? Blicken wir auch einmal über unsere Kirchenmauern hinaus? Realisieren wir, dass das Heil der Kirche Jesu Christi nicht allein an unserer Gemeinde hängt. Wenn das so wäre, dann sähe es vielleicht wirklich traurig mit dem Reich Gottes aus. Nein, realisieren wir, dass wir ein Teil, ein kleines, aber genauso bedeutendes wir alle anderen, sind? Dass also andere auch für uns beten, so wie wir für andere Gemeinden beten sollten? Damit tragen schon einmal mehr als nur unsere Schultern unsere Sorgen.
Und dann kann man fröhlich und kritisch ans Werk gehen; kann kooperieren mit anderen Gemeinden, kann umstrukturieren, analysieren; kann von anderen lernen oder selbst Beispiel werden. Aber ohne den gemeinsamen Blick nach oben; ohne das gemeinsame Gotteslob bliebe nur der traurige Blick auf die Pleite.
Deshalb, so Paulus am Ende des 1. Thessalonicherbriefes:
„Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen.
Amen
Perikope