Predigt über Apostelgeschichte 3, 1-10 von Henning Kiene
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Predigt über Apostelgeschichte 3, 1-10 von Henning Kiene

Die Elefantenmutter lässt keine Ruhe. Immer wieder stubst sie das Neugeborene mit ihrem Rüssel an. Immer wieder sackt das kleine Tier zusammen. Dann richtet es sich auf, rollt auf die Seite, stolpert ungelenk auf die Knie, überschlägt sich fast. Den Beinen fehlt die Kraft, den kleinen, aber offenbar schweren Körper zu tragen. Dann nimmt die Elefantenkuh ihre Füße zur Hilfe. Tritte treffen den kleinen Körper, der Rüssel wird zum helfenden Strick, der kleine Rüssel greift in den Großen. Das Muttertier gibt dem Kleinen keine Ruhe bis es steht.
Es ist offensichtlich: Das Neugeborene muss auf die Beine kommen, das ist lebenswichtig. Erst wenn es steht, gibt die Mutter Ruhe. Im Zoo in Hannover laufen diese Bilder auf einem Monitor. In mehreren Videosequenzen werden sie den Besuchenden im Elefantenhaus gezeigt. In der letzten Sequenz ist das Ziel dann erreicht. Da steht der kleine Elefant endlich - passabel sicher - auf eigenen Beinen. Einige Zuschauer, die vor dem Bildschirm stehen geblieben sind, applaudieren. Diese Szenenfolge rührt die Herzen der Zoobesucher an.
II.
Vom Bildschirm wenden sich alle wieder den Elefanten zu, sehen den Kleinen, im Film spielte er gerade noch in der Hauptrolle, jetzt ist er schon größer und schwenkt seinen Rüssel hin und her. Ohne diese ersten, zweifellos harten, in den Augen der Zuschauer aber liebevollen, Tritte und ohne den als Strick angebotenen Rüssel des Muttertieres, wäre der Kleine nicht auf die Beine gekommen. Dieses Prinzip, dass die hartnäckige Elefantenmutter anwendet, wirkt auch das Wort Gottes. Es bringt Menschen, die am Boden liegen, auch Menschen, die nicht vorhaben wieder aufzustehen, auf die Beine. Dieses Elefantenmutterprinzip spricht aus dem Wochenspruch dieser Woche, jede der Lesungen für diesen Sonntag lässt dieses Prinzip im Hintergrund erkennen. So auch diese Geschichte von dem gelähmten Mann, die in der Apostelgeschichte erzählt wird. In ihr entfalten Worte ihre Wirkung, die einem Menschen den aufrechten Gang zurückgibt. Und hier wird nicht nur von einer körperlichen Heilung gesprochen, sondern von einer grundsätzlichen Heilung, die den Menschen in einem umfassenden Sinne wieder aufrichtet.
Solche Worte sind hartnäckig wie eine Elefantenmutter. Da hört der gelähmte Mensch die entscheidenden Worte: „Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!“ Doch es bleibt nicht allein bei den Worten, sondern das Wort wird zur Tat, „er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf.“ Das ist die Bewegung, die in diesem heutigen Sonntag steckt, die in das Leben hinein wirkt. Immer Gottes Wort wirkt, werden zwei Komponenten in eine Bewegung hinein gebracht. Das gesprochene Wort wird zur Tat. Das Wort setzt um, was es sagt. Gottes Wort macht die Füße und die Knöchel fest, es lässt die nächsten Schritte gehen und verleiht dem Leben in einem umfassenden Sinn eine überraschende Standfestigkeit. Gottes Wort wirkt sanft aber setzt mit deutlichem Nachdruck genau das um, was es sagt. Jedes Wort Gottes ist immer auch ein Schöpferwort weil es eine Realität erschafft, die vorher nicht war.
III.
In der Ferienzeit erfahren viele Menschen diese Art der Stärkung. Da kehrt eine ursprüngliche Kraft in das Leben zurück, die viele von uns auf die Beine bringt. In den ruhigen Sommerwochen ist möglich, was im Alltag schon vergessen schien. Allein die südliche Hitze in der letzten Woche sorgt für eine Erlebnisdichte, die in unsere nördlich, nüchternen Breiten ein entspanntes südliches Flair einziehen ließ. Der Sommer und die freie Zeit, die die Ferien und die Urlaubszeit schenken, ermöglichen eine Erlebnisdichte und überraschende Perspektivwechsel. Es ist der neue, oft überraschende Impuls, der im Sommer das Leben neu auf die Beine stellt. Gottes Wort, so geht es vielen Menschen, erreicht auf ungeahnten und überraschend neuen Wegen die Sinne und die Herzen.
IV.
Wenn in dieser Woche in London die Paralympics eröffnet werden, dann wird es manche Teilnehmerin und manchen Teilnehmer geben, die vergleichbare Geschichten aus ihrem Leben erzählen. Da wird von dem schweren Schicksalsschlag gesprochen werden, den gelpatzten Lebensträumen junger Menschen werden wir hören. Dann wird aber auch von den Neuanfängen gesprochen werden. Wie im Rollstuhl ein neues Leben begann, unfreiwillig und voller Härte, mit schweren Beeinträchtigungen, aber mit neuem Mut. Menschen kommen in den Blick, die in schwersten Zeiten für andere die richtigen Worte fanden und in der tiefen Krise eine Wende ermöglichten. Es wird nicht von Wundern die Rede sein, das nicht. Aber von der Kraft, die auf eine überraschende Weise ins Leben einkehrte, ist zu hören. Goldmedaillen und Weltrekorde werden errungen werden und im Hintergrund stehen immer auch diese Menschen, die wie eine Elefantenmutter andere Menschen in einem umfassenden Sinne auf die Beine bringt.
„Ich habe mein Augenlicht verloren, aber nicht meine Visionen“, meinte der Kenianer Henry Wanyoike im Rückblick auf seine Jugend. Was sich heute wie eine Weisheit anhört, ist von ihm hart erkämpft. Das war seine Geschichte: Mit 21 Jahren erblindete Henry Wanyoike schlagartig durch eine Infektionskrankheit. In Kenia heißt Blindheit immer auch lebenslängliche Armut. Henry war verzweifelt, er wünschte sich den Tod. Seine Familie brachte den verzweifelten Henry in eine Augenklinik, die im Übrigen von der Christoffel Blindenmisson unterstützt wird. Dort erlangte er zwar sein Augenlicht nicht zurück, aber er gewann, natürlich unterstützt durch viele Therapeuten, neue Hoffnung. Er erlernte einen Beruf und widmete sich – wie viele sehenden Kenianer – dem Laufsport. Innerhalb weniger Monate qualifizierte sich für die Paralympics und gewann tatsächlich eine erste Goldmedaille. In London geht der erfolgreiche Langstreckenläufer wieder an den Start und hofft auf einen neuen Sieg. Seine Geschichte steht für die Geschichte vieler anderer Sportler, die sich für die Paralympics qualifiziert haben. Wir werden die Menschen wieder sehen, die den Blinden die Wege weisen und die Trainerinnen und Trainer sehen, die wie bei den Olympischen Spielen, an den Leistungen der Sportlerinnen und Sportler Anteil haben.
V.
Gottes Wort hilft solche Geschichten zu verstehen. In ihm wirken die zwei Komponenten zusammen, das gesprochene Wort, das in die Tat umgesetzt wird. Da ist der Imperativ „steh auf und geh“. Und genau dieses Wort vertreibt die eigenen Schwäche, seht kraftvoll in Szene, was es gesagt hat. Die Komponente „er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf“ sollte nicht unterschätzt werden. Wort wird zum Ereignis. Das, was der Glaube aussagt, macht er selber zur Realität. Wir sind nicht nur Zeugen einer Elefantengeburt, wir sind selber dabei. Wie ein neugeborenes Lebewesen stößt uns Gottes Wort an, stupst uns hoch, mit sanfter Gewalt und liebevoller Zuwendung. Er wendet er alle Kraft daran, dass keiner am Boden bleibt, sondern auf die Beine kommt.