Predigt über Jakobus 5, 13-16 von Dörte Gebhard
5,13
Liebe Gemeinde,
der Predigttext für den heutigen Sonntag handelt vom Laufen und Liegen, vom Gehen und Stehen – wie manchmal auch beim Arzt.
Ums Sitzen ging es vor 2000 Jahren übrigens noch nicht; das Hocken auf einem extra eckigen Gerät, auf einem Stuhl, wurde erst vor einigen hundert Jahren von reichen Leuten eingeführt und ist also noch ein sehr neues Vergnügen, gerechnet auf die ganze Menschheitsgeschichte. Weil wir aber viel sitzen müssen heutzutage, werden wir auch über die angemessene Haltung beim Sitzen nachdenken. Hören Sie aber zuerst vom Laufen, Liegen, Gehen und Stehen aus dem Brief des Jakobus im 5. Kapitel:
13 Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen.
14 Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.
15 Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden.
16 Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.
Liebe Gemeinde,
wer liegen muss, soll rufen, dass einer gelaufen kommt … so ist es bis heute. Aber was bedeutet es genau, für das Leben und vor allem für den Glauben?
1. Aufrecht stehen
Beginnen wir mit den Standhaften und Unbeugsamen, mit denen, die guten Mutes sind. Das beschreibt zugleich auch die Hoffnung für alle: aufrecht sein können oder aufgerichtet werden. Die Theologin Elisabeth Moltmann-Wendel[1] erklärte es in einem Vortrag so:
„Das Kennzeichen menschlicher Würde ist für viele der aufrechte Gang. Das erste Stehen, das erste Gehen – das macht das Kleinkind stolz. Das verändert die Weltsicht.“ Tatsächlich erkennen wir schon an unseren Sprachspielen, was es mit dem aufrecht Stehen auf sich hat: Unser Leben, vor allem in seinen schweren Momenten, muss ‚durchgestanden‘ werden. Aber irgendwann einmal kommt für jeden Menschen der Zeitpunkt, an dem Stehen mühsam und auch einmal zu anstrengend wird. Es ist keine einfache Sache zu erkennen, dass man nicht mehr ‚im Stande‘ ist, bestimmte Leitungen zu bringen, die Erwartungen der Umgebung zu erfüllen. Es ist auch nicht leicht zu lernen, innerlich gerade, tapfer und aufrecht zu bleiben, wenn man sich äußerlich auf einen Stock stützen muss.
Elisabeth Moltmann-Wendel hat ihren Vortrag in einem riesigen Saal und vor mehreren hundert Menschen im Sitzen gehalten! Sie ist 84 Jahre alt und meint – mit sehr viel Schalk im Nacken, der bekanntlich die Wahrheit sagt – auch „in der Kirche stehen wir oft unzumutbar lange, obwohl Gott an uns und wir an ihm mehr Freude im Sitzen hätten.“ Aber wir leben in einer Kultur, in der wir mit dem Stehen Ehrfurcht ausdrücken und zugleich unsere Standhaftigkeit, unsere eigene Stärke anzeigen.
Aber wofür sind diese Kräfte zu verwenden? Zum Stühle holen natürlich! Für alle, denen Hüften, Knie und Rücken Schmerzen bereiten, die Halt und eine zusätzliche Stütze brauchen.
Stühle sind inzwischen sehr weit verbreitet, aber auch alles, was wir sonst noch an Unterstützung kennen, gehört hierher: Lesebrillen, Hörgeräte, Rollatoren, Notrufknöpfe in Toiletten, große Schrift und jeder Lift, vor allem aber eine Hand, die zupackt, ein Arm der hält. Am allerbesten aber ist und bleibt ein Mensch mit Ohren, der sich herbeirufen lässt!
Wer stark ist, soll nicht angeben, sondern sich den Schwachen zuwenden. Was denn sonst?! – hört man Jakobus mit leichtem Vorwurf in der Stimme murmeln.
Jakobus kannte weder Stühle noch all die anderen, wirklich hilfreichen Erfindungen. Er erklärt seine Idee von Hilfe, von Seelsorge zwischen Menschen daher am Menschen selbst, mit viel Feingefühl und großer Überzeugung.
Diejenigen, die guten Mutes sind, sollen genau diesen guten Mut nicht für sich behalten, sondern mitteilen. Aber schon immer war klar, dass Leidende und Kranke es nicht „gut haben“ können, wenn einer seinen bodenlosen Optimismus herausschreit, sein Fast-Alles-Könnertum ungefragt verkündet und prahlt, was er alles meistert. Daher sollen diese Leute von ihrem Glück besser singen. Mit Musik geht alles besser, damit ist sogar das Glück anderer Menschen leichter zu ertragen! Psalmen sollen sie singen, also Gott die Ehre geben, nicht sich selbst bejubeln, sondern den, von dem es herkommt, dass einer überhaupt guten Mut haben kann.
2. Beten in jeder ‚Lebenslage‘
Liebe Gemeinde,
Psalmen singen heisst: beten. Und Beten ist von Jakobus geboten – für alle, die Starken und die Schwachen. Die Kranken haben allerdings das Privileg, für sich selbst zuerst zu beten: Leidet jemand unter euch, der bete! und dann noch die anderen, gerade nicht Leidenden heranzurufen, dass sie Fürbitte halten: Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten.
Das ist vielleicht die älteste Aufgabe, die es in der Christenheit gab: Von Anfang an gab es Älteste, also solche Menschen, die schon eine Menge durchgestanden hatten, die lebenserfahren waren. Wer ein Ältester sein wollte, musste sich also auskennen mit Stärke und Schwäche, mit Krankheit, Leid und schwindenden Kräften. Ich halte das für eine außergewöhnlich gute Vorstellung: nicht nur Altsein, sondern sogar Ältester – im Superlativ – sein ist sehr gut – für andere. Eine Älteste sein ist ein ausfüllender Auftrag, eine richtige Lebensaufgabe!
Seien wir aufmerksam: Wer alt ist, wer nicht mehr alles kann, schon gar nicht das, was eine Gesellschaft, die das Junge und Schöne und Fitte verehrt, erwartet, der ist als Beter gefragt, als Beterin gesucht. Auf diesen alten und ältesten Menschen liegt eine große Verheissung:
Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.
Hier müssen wir mehr als einen Moment verweilen, denn es ist zu viel, was augenscheinlich gegen diesen Satz spricht. Wir hören diese Worte mitten in die tausendfältigen Enttäuschungen der letzten 2000 Jahre. Wie oft haben Menschen um Rettung gebeten und sind doch umgekommen, wie oft haben Menschen vergeblich geschrien und gehofft!?
Das weiss Gott allein und wir klagen es ihm wie es schon die Psalmbeter taten, deren Lieder wir ja immer noch ausdrücklich singen sollen.
Wir klagen Gott, dass Menschen starben und noch sterben ohne die Erfahrung, dass ihre Gebete erhört werden, die ihr Leben in Verzweiflung beenden müssen, weil es für sie kein Zeichen, keine Aussicht gibt.
Wir klagen Gott unsere Ohnmacht, richtig zu beten, die Konsequenzen unserer Wünsche auszudenken, wir klagen Gott alles, was in dieser wilden Welt gegen das Beten spricht, wir klagen Gott alle Menschen, für die niemand je die Hände gefaltet hat und die anderen auch, die nie bemerkt haben, dass einer für sie bittet.
Die Grenze wird auch im Brief des Jakobus nicht verschwiegen: Das Gebet vermag viel, aber gerade nicht – alles. Das hat niemand versprochen und wer es je tat, der hat gelogen! Mit jedem Gebet haben wir Teil an Gottes Vollkommenheit – aber immer nur unvollkommen. Wir haben eben teil , nicht das Große und Ganze in der betenden Hand.
Der Brief des Jakobus ist hart und zart zugleich, bis heute, obwohl er uns noch gar nicht kannte! Uns Leute des 21. Jahrhunderts, die es mit der Medizintechnik wirklich weit gebracht haben. Keinesfalls möchte ich sie missen, zur Zeit des Jakobus wäre ich, wenn nicht schon als Kind, dann allerspätestens mit 26 Jahren gestorben, und zwar nicht sehr dramatisch als Märtyrerin oder wegen einer anderen besonders heldenhaften Gelegenheit, sondern ‚bloß‘ und recht banal an einer Blinddarmentzündung.
Aber damals wie heute beten Menschen um Gesundheit, zuerst und zumeist, mit aller Kraft, aber Heilung und Gesundheit werden ehrlicherweise nicht zugesagt. Der Segen Gottes liegt auf dem menschlichen Miteinander: auch ohne Heilung wird das Gebet dem Kranken helfen. Gott wird ihn aufrichten, das gilt auch für Sterbende! Es gibt also keine Menschenseele, bei der man nach diesem Verständnis nichts mehr machen kann.
Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden.
Es werden gerade keine Wunder prophezeit, sondern Beistand und Vergebung. Wem, der darniederliegt, wäre damit nicht schon gedient?
Liebe Gemeinde,
beten kann man in jeder Lebenslage, am besten aber – im Liegen. Wer liegen muss, kann nicht viel anderes tun, er schaut gen Himmel, hat zwangsläufig eine neue Perspektive auf die Welt. Elisabeth Moltmann-Wendel lehrt, die Würde der Liegenden zu entdecken und aufs Neue zu achten. Denn jeder Mensch muss liegen in den ersten entscheidenden Momenten seines Lebens, sogar von Jesus wird ausdrücklich betont, dass er in der Krippe lag. Als Mensch oder als Gottes Sohn zur Welt kommen heisst am Anfang: lange liegen müssen. Als Mensch die Welt verlassen heisst oft wieder: lange liegen müssen.
„Im Unterschied zum aufrechten Gang zeigt Liegen die totale Erschlaffung an. Nichts scheint mehr von […] Stolz und Souveränität übrig geblieben zu sein.“ Wer liegt, schläft, ist krank oder tot. Wenn wir verlieren, dann erleiden wir eine ‚Niederlage‘. Aber sie hat einen tieferen Sinn: „Liegend werde ich gewahr, was ich anfänglich war, endlich sein werde und auch jetzt bin: ein Wesen, das sich anderen und anderem verdankt, das manchmal aufstehen kann um etwas Sinnvolles zu tun. Schon mancher ist im Liegen zu einer besseren Vernunft gekommen. Liegen ist nicht Schwäche, die man verstecken muss. Wer liegt, gibt zu erkennen, dass er, wie alle andern Menschen, geboren, verwundbar und frei ist […].“[2] Das ist auch für uns gut zu wissen, die wir noch sitzen, heute Morgen hier und dann und wann an einem Krankenlager, weil uns jemand gerufen hat oder weil wir etwas vernommen haben, ohne dass einer erst rufen musste …
Liebe Gemeinde,
so stehen wir eine Menge durch, werden wir alle getrost erst älter, dann alt und zuletzt mit Gottes Hilfe Älteste, deren Gebete viel vermögen, wenn sie ernst sind. Ihnen gelten folgende gute Ratschläge aus dem „Gebet von Baltimore“[3]:
„Geh behutsam deinen Weg
[…] Trage freundlich-gelassen die Bürde der Jahre
und gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf.
Nähre die Kraft deines Geistes,
um plötzlichem Unglück gegenüber gewachsen zu sein.
Viele Ängste entstehen aus Müdigkeit und Einsamkeit.
Neben einem guten Maß an Selbstdisziplin
sei freundlich zu dir selbst.
Du bist ein Kind des Universums,
nicht weniger als die Bäume und Sterne,
du hast ein Recht darauf hier zu sein.
Und die Kraft des Universums wird sich so entfalten,
wie es sein muss, ob es dir klar ist oder nicht.
Deshalb lebe in Frieden mit Gott […].“
… und der Frieden Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, ob wir gehen oder stehen, ob wir laufen oder liegen, ob wir sitzen oder knien, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen.
[1] Vgl. zum Stehen und Liegen: Moltmann-Wendel, Elisabeth: „Gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf – Altern mit Gott“, Referat am Interdisiplinären Kongress „Das Alter neu erfinden – ein Megatrend und seine Auswirkungen“ der Reformierten Landeskirche Aargau am 5. und 6. November 2010 in Aarau/Schweiz.
[2]Ina Prätorius, zit. n. Moltmann-Wendel.
[3] Es wurde 1927 von Max Ehrmann (1872–1945), einem Rechtsanwalt aus Terre Haute, USA, verfasst. Eine verbreitete Urban Legend behauptet, es stamme aus der Old St. Paul’s-Kirche, Baltimore und sei von 1692.
der Predigttext für den heutigen Sonntag handelt vom Laufen und Liegen, vom Gehen und Stehen – wie manchmal auch beim Arzt.
Ums Sitzen ging es vor 2000 Jahren übrigens noch nicht; das Hocken auf einem extra eckigen Gerät, auf einem Stuhl, wurde erst vor einigen hundert Jahren von reichen Leuten eingeführt und ist also noch ein sehr neues Vergnügen, gerechnet auf die ganze Menschheitsgeschichte. Weil wir aber viel sitzen müssen heutzutage, werden wir auch über die angemessene Haltung beim Sitzen nachdenken. Hören Sie aber zuerst vom Laufen, Liegen, Gehen und Stehen aus dem Brief des Jakobus im 5. Kapitel:
13 Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen.
14 Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.
15 Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden.
16 Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.
Liebe Gemeinde,
wer liegen muss, soll rufen, dass einer gelaufen kommt … so ist es bis heute. Aber was bedeutet es genau, für das Leben und vor allem für den Glauben?
1. Aufrecht stehen
Beginnen wir mit den Standhaften und Unbeugsamen, mit denen, die guten Mutes sind. Das beschreibt zugleich auch die Hoffnung für alle: aufrecht sein können oder aufgerichtet werden. Die Theologin Elisabeth Moltmann-Wendel[1] erklärte es in einem Vortrag so:
„Das Kennzeichen menschlicher Würde ist für viele der aufrechte Gang. Das erste Stehen, das erste Gehen – das macht das Kleinkind stolz. Das verändert die Weltsicht.“ Tatsächlich erkennen wir schon an unseren Sprachspielen, was es mit dem aufrecht Stehen auf sich hat: Unser Leben, vor allem in seinen schweren Momenten, muss ‚durchgestanden‘ werden. Aber irgendwann einmal kommt für jeden Menschen der Zeitpunkt, an dem Stehen mühsam und auch einmal zu anstrengend wird. Es ist keine einfache Sache zu erkennen, dass man nicht mehr ‚im Stande‘ ist, bestimmte Leitungen zu bringen, die Erwartungen der Umgebung zu erfüllen. Es ist auch nicht leicht zu lernen, innerlich gerade, tapfer und aufrecht zu bleiben, wenn man sich äußerlich auf einen Stock stützen muss.
Elisabeth Moltmann-Wendel hat ihren Vortrag in einem riesigen Saal und vor mehreren hundert Menschen im Sitzen gehalten! Sie ist 84 Jahre alt und meint – mit sehr viel Schalk im Nacken, der bekanntlich die Wahrheit sagt – auch „in der Kirche stehen wir oft unzumutbar lange, obwohl Gott an uns und wir an ihm mehr Freude im Sitzen hätten.“ Aber wir leben in einer Kultur, in der wir mit dem Stehen Ehrfurcht ausdrücken und zugleich unsere Standhaftigkeit, unsere eigene Stärke anzeigen.
Aber wofür sind diese Kräfte zu verwenden? Zum Stühle holen natürlich! Für alle, denen Hüften, Knie und Rücken Schmerzen bereiten, die Halt und eine zusätzliche Stütze brauchen.
Stühle sind inzwischen sehr weit verbreitet, aber auch alles, was wir sonst noch an Unterstützung kennen, gehört hierher: Lesebrillen, Hörgeräte, Rollatoren, Notrufknöpfe in Toiletten, große Schrift und jeder Lift, vor allem aber eine Hand, die zupackt, ein Arm der hält. Am allerbesten aber ist und bleibt ein Mensch mit Ohren, der sich herbeirufen lässt!
Wer stark ist, soll nicht angeben, sondern sich den Schwachen zuwenden. Was denn sonst?! – hört man Jakobus mit leichtem Vorwurf in der Stimme murmeln.
Jakobus kannte weder Stühle noch all die anderen, wirklich hilfreichen Erfindungen. Er erklärt seine Idee von Hilfe, von Seelsorge zwischen Menschen daher am Menschen selbst, mit viel Feingefühl und großer Überzeugung.
Diejenigen, die guten Mutes sind, sollen genau diesen guten Mut nicht für sich behalten, sondern mitteilen. Aber schon immer war klar, dass Leidende und Kranke es nicht „gut haben“ können, wenn einer seinen bodenlosen Optimismus herausschreit, sein Fast-Alles-Könnertum ungefragt verkündet und prahlt, was er alles meistert. Daher sollen diese Leute von ihrem Glück besser singen. Mit Musik geht alles besser, damit ist sogar das Glück anderer Menschen leichter zu ertragen! Psalmen sollen sie singen, also Gott die Ehre geben, nicht sich selbst bejubeln, sondern den, von dem es herkommt, dass einer überhaupt guten Mut haben kann.
2. Beten in jeder ‚Lebenslage‘
Liebe Gemeinde,
Psalmen singen heisst: beten. Und Beten ist von Jakobus geboten – für alle, die Starken und die Schwachen. Die Kranken haben allerdings das Privileg, für sich selbst zuerst zu beten: Leidet jemand unter euch, der bete! und dann noch die anderen, gerade nicht Leidenden heranzurufen, dass sie Fürbitte halten: Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten.
Das ist vielleicht die älteste Aufgabe, die es in der Christenheit gab: Von Anfang an gab es Älteste, also solche Menschen, die schon eine Menge durchgestanden hatten, die lebenserfahren waren. Wer ein Ältester sein wollte, musste sich also auskennen mit Stärke und Schwäche, mit Krankheit, Leid und schwindenden Kräften. Ich halte das für eine außergewöhnlich gute Vorstellung: nicht nur Altsein, sondern sogar Ältester – im Superlativ – sein ist sehr gut – für andere. Eine Älteste sein ist ein ausfüllender Auftrag, eine richtige Lebensaufgabe!
Seien wir aufmerksam: Wer alt ist, wer nicht mehr alles kann, schon gar nicht das, was eine Gesellschaft, die das Junge und Schöne und Fitte verehrt, erwartet, der ist als Beter gefragt, als Beterin gesucht. Auf diesen alten und ältesten Menschen liegt eine große Verheissung:
Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.
Hier müssen wir mehr als einen Moment verweilen, denn es ist zu viel, was augenscheinlich gegen diesen Satz spricht. Wir hören diese Worte mitten in die tausendfältigen Enttäuschungen der letzten 2000 Jahre. Wie oft haben Menschen um Rettung gebeten und sind doch umgekommen, wie oft haben Menschen vergeblich geschrien und gehofft!?
Das weiss Gott allein und wir klagen es ihm wie es schon die Psalmbeter taten, deren Lieder wir ja immer noch ausdrücklich singen sollen.
Wir klagen Gott, dass Menschen starben und noch sterben ohne die Erfahrung, dass ihre Gebete erhört werden, die ihr Leben in Verzweiflung beenden müssen, weil es für sie kein Zeichen, keine Aussicht gibt.
Wir klagen Gott unsere Ohnmacht, richtig zu beten, die Konsequenzen unserer Wünsche auszudenken, wir klagen Gott alles, was in dieser wilden Welt gegen das Beten spricht, wir klagen Gott alle Menschen, für die niemand je die Hände gefaltet hat und die anderen auch, die nie bemerkt haben, dass einer für sie bittet.
Die Grenze wird auch im Brief des Jakobus nicht verschwiegen: Das Gebet vermag viel, aber gerade nicht – alles. Das hat niemand versprochen und wer es je tat, der hat gelogen! Mit jedem Gebet haben wir Teil an Gottes Vollkommenheit – aber immer nur unvollkommen. Wir haben eben teil , nicht das Große und Ganze in der betenden Hand.
Der Brief des Jakobus ist hart und zart zugleich, bis heute, obwohl er uns noch gar nicht kannte! Uns Leute des 21. Jahrhunderts, die es mit der Medizintechnik wirklich weit gebracht haben. Keinesfalls möchte ich sie missen, zur Zeit des Jakobus wäre ich, wenn nicht schon als Kind, dann allerspätestens mit 26 Jahren gestorben, und zwar nicht sehr dramatisch als Märtyrerin oder wegen einer anderen besonders heldenhaften Gelegenheit, sondern ‚bloß‘ und recht banal an einer Blinddarmentzündung.
Aber damals wie heute beten Menschen um Gesundheit, zuerst und zumeist, mit aller Kraft, aber Heilung und Gesundheit werden ehrlicherweise nicht zugesagt. Der Segen Gottes liegt auf dem menschlichen Miteinander: auch ohne Heilung wird das Gebet dem Kranken helfen. Gott wird ihn aufrichten, das gilt auch für Sterbende! Es gibt also keine Menschenseele, bei der man nach diesem Verständnis nichts mehr machen kann.
Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden.
Es werden gerade keine Wunder prophezeit, sondern Beistand und Vergebung. Wem, der darniederliegt, wäre damit nicht schon gedient?
Liebe Gemeinde,
beten kann man in jeder Lebenslage, am besten aber – im Liegen. Wer liegen muss, kann nicht viel anderes tun, er schaut gen Himmel, hat zwangsläufig eine neue Perspektive auf die Welt. Elisabeth Moltmann-Wendel lehrt, die Würde der Liegenden zu entdecken und aufs Neue zu achten. Denn jeder Mensch muss liegen in den ersten entscheidenden Momenten seines Lebens, sogar von Jesus wird ausdrücklich betont, dass er in der Krippe lag. Als Mensch oder als Gottes Sohn zur Welt kommen heisst am Anfang: lange liegen müssen. Als Mensch die Welt verlassen heisst oft wieder: lange liegen müssen.
„Im Unterschied zum aufrechten Gang zeigt Liegen die totale Erschlaffung an. Nichts scheint mehr von […] Stolz und Souveränität übrig geblieben zu sein.“ Wer liegt, schläft, ist krank oder tot. Wenn wir verlieren, dann erleiden wir eine ‚Niederlage‘. Aber sie hat einen tieferen Sinn: „Liegend werde ich gewahr, was ich anfänglich war, endlich sein werde und auch jetzt bin: ein Wesen, das sich anderen und anderem verdankt, das manchmal aufstehen kann um etwas Sinnvolles zu tun. Schon mancher ist im Liegen zu einer besseren Vernunft gekommen. Liegen ist nicht Schwäche, die man verstecken muss. Wer liegt, gibt zu erkennen, dass er, wie alle andern Menschen, geboren, verwundbar und frei ist […].“[2] Das ist auch für uns gut zu wissen, die wir noch sitzen, heute Morgen hier und dann und wann an einem Krankenlager, weil uns jemand gerufen hat oder weil wir etwas vernommen haben, ohne dass einer erst rufen musste …
Liebe Gemeinde,
so stehen wir eine Menge durch, werden wir alle getrost erst älter, dann alt und zuletzt mit Gottes Hilfe Älteste, deren Gebete viel vermögen, wenn sie ernst sind. Ihnen gelten folgende gute Ratschläge aus dem „Gebet von Baltimore“[3]:
„Geh behutsam deinen Weg
[…] Trage freundlich-gelassen die Bürde der Jahre
und gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf.
Nähre die Kraft deines Geistes,
um plötzlichem Unglück gegenüber gewachsen zu sein.
Viele Ängste entstehen aus Müdigkeit und Einsamkeit.
Neben einem guten Maß an Selbstdisziplin
sei freundlich zu dir selbst.
Du bist ein Kind des Universums,
nicht weniger als die Bäume und Sterne,
du hast ein Recht darauf hier zu sein.
Und die Kraft des Universums wird sich so entfalten,
wie es sein muss, ob es dir klar ist oder nicht.
Deshalb lebe in Frieden mit Gott […].“
… und der Frieden Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, ob wir gehen oder stehen, ob wir laufen oder liegen, ob wir sitzen oder knien, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen.
[1] Vgl. zum Stehen und Liegen: Moltmann-Wendel, Elisabeth: „Gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf – Altern mit Gott“, Referat am Interdisiplinären Kongress „Das Alter neu erfinden – ein Megatrend und seine Auswirkungen“ der Reformierten Landeskirche Aargau am 5. und 6. November 2010 in Aarau/Schweiz.
[2]Ina Prätorius, zit. n. Moltmann-Wendel.
[3] Es wurde 1927 von Max Ehrmann (1872–1945), einem Rechtsanwalt aus Terre Haute, USA, verfasst. Eine verbreitete Urban Legend behauptet, es stamme aus der Old St. Paul’s-Kirche, Baltimore und sei von 1692.
Perikope