Predigt über Jeremia 1, 4-10 von Sven Evers
1,4
Vorbemerkung: Der Predigttext steht in einem gewissen Widerspruch zu Wochenspruch und Evangelium. Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen. Mach was aus dem, was Dir anvertraut ist. Wie viel aber war dem Propheten Jeremia anvertraut! Wie sehr hat er gelitten unter dem Auftrag, den Gott ihm gab? Ich tue mich schwer damit, ihm das Evangelium oder den Wochenspruch des Sonntags vorzuhalten. Ich habe mich dazu entschieden, den Propheten selber zu Wort kommen und ein wenig aus seinem Leben erzählen zu lassen. Vielleicht läßt eine solche Selbsterzählung die Hörerinnen und Hörer ein klein wenig ratlos zurück, weil konkrete „Handlungs-„ oder Interpretationsanweisungen fehlen – aber vielleicht spiegelt eine solche Ratlosigkeit ja genau das wider, was der Prophet uns zu sagen hat?
Predigt
Ihr habt leicht reden. Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen. Wißt Ihr eigentlich, was Ihr damit sagt? Heulen und Zähneklappern – nein, das gibt es nicht nur draußen in der Finsternis. Das gibt’s auch hier und jetzt. Im richtigen Leben. Und das gerade weil mir viel gegeben ist. Niemand hat gefragt, ob ich es überhaupt haben wollte. Gott am allerwenigsten...
Aber ich muß mich erst einmal vorstellen. Sonst verstehen Sie gar nicht, wovon ich rede. Jeremia mein Name. Prophet. Wider Willen. Ja, das muß ich betonen. Gegen meinen Willen. Ich habe es mir nicht ausgesucht.
Ob ich den Weg noch einmal gehen würde? Ich kann es beim besten Willen nicht sagen. Es kreist und kreist in meinem Kopf, aber ich finde nicht heraus. Es tut mir weh in meinem Herzen, und ich spüre die Stiche in meinem Innersten. Das könnten meine Worte sein. Diese Worte des 73. Psalms, die Sie vorhin gebetet haben. Haben Sie verstanden, was Sie da beten? Haben Sie erlebt, was Sie da beten? Ich will nicht anmaßend sein. Vielleicht haben Sie es verstanden. Das Leben ist oftmals hat und ungerecht und voller Leid. Unverstanden – und vielleicht gerade deshalb so mühsam. Voller Mühe.
Damals als Gott mich zum Propheten machte – Juda eingekeilt zwischen rivalisierenden Großmächten. Assyrien, Babylonien, Ägypten. Kriegsgefahr an jeder Grenze. Aktionistische Geschäftigkeit der Obersten. Dabei haben sie einfach nicht verstanden, daß das Problem im Inneren liegt. Bessert Euer Leben und Eurer Tun, dann wird Gott bei Euch wohnen – habe ich ihnen zugerufen. Sie haben es nicht verstanden. Sie wollten es nicht verstehen. Sie wollten ihr Leben nicht ändern. Wie viele Zeichen habe ich ihnen gegeben. Ja, mein Leben selber sollte ein Zeichen sein – so war Gottes Wille. Meine Einsamkeit, meine Verzweiflung, die Traurigkeit meines gesamten Lebens als zeichenhafte Ankündigung des Leidens, das über mein Volk kommen würde, wenn sie nicht abwichen von ihren bösen Wegen.
Des HERRN Wort geschah zu mir: Du sollst Dir keine Frau nehmen und weder Söhne noch Töchter zeugen an diesem Ort. Denn so spricht der HERR von den Söhnen und Töchtern, die an diesem Ort geboren werden, und von ihren Müttern, die sie gebären, und von ihren Vätern, die sie zeugen in diesem Lande: Sie sollen an bösen Krankheiten sterben und nicht beklagt noch begraben werden.
Und Gott sprach weiter zu mir: Du sollst in kein Trauerhaus gehen, weder um zu klagen noch um sie zu trösten. Du sollst auch in kein Hochzeitshaus gehen, um bei ihnen zu sitzen zum Essen und zum Trinken.
Jetzt sag sie mir noch einmal, diese Worte über Deiner neuen Woche: Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen. Weißt Du, was Du damit sagst?
Mit einem Joch auf meinen Schultern bin ich durch die Stadt gelaufen – Zeichen für das Joch, das Babylon uns auferlegen sollte. Es wurde mir von den Schultern gerissen und zerbrochen. Und Gott? Nichts tat er. Kein Erweis seiner Macht. Stumme, dunkle Abwesenheit.
Sie haben mich geschlagen. Sie haben mich in dunkle, stinkende Zisternen geworfen, daß mir der Schlamm im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Halse stand. Wie oft bin ich geflohen. Vor ihnen. Vor mir. Vor Gott. Wie viele Jahre habe ich in abgelegen Verstecken verbracht.
Und doch – trotz allem kann ich heute sagen: Die Güte des Herrn ists, daß wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende. Der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. Heute kann ich das sagen. Ob ich damals den Weg gegangen wäre, wenn ich seinen Verlauf auch nur hätte ahnen können? Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.
Ich erinnere mich noch, wie es begann. Es ist aufgeschrieben im Buch, das meinen Namen trägt. Im ersten Kapitel
Des HERRN Wort geschah zu mir: Ich kannte Dich, ehe ich Dich im Muttlerleibe bereitete, und sonderte Dich aus, ehe Du von Deiner Mutter geboren wurdest. Und bestellte Dich zum Propheten über die Völker.
Was hätte ich darauf sagen sollen? Was entscheiden, wenn über mein Leben schon entschieden ist, bevor es überhaupt beginnt. Wenn das letzte Wort schon gesprochen ist, bevor ich überhaupt das erste spreche?
Ich sprach: Ach Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.
Eine Ausrede. Klar – aber was hätte ich sagen sollen? Was hättest Du gesagt? Ob ich heute anders antworten würde? Ich weiß es nicht. Aber was ich heute weiß, ist doch zumindest dieses: Es ist besser, wenn Gott das letzte Wort über mein Leben spricht, als wenn ich selber es tue oder andere Menschen es tun.
Vielleicht kennst Du das? Vielleicht bist Du selber jung und voller Zweifel über Deinen weiteren Weg? Oder warst zumindest einmal jung oder voller Zweifel?
Wie leicht sagen da andere: Das kannst Du nicht, das schaffst Du nicht. Du bist zu jung. Du bist zu ungeschickt. Du bist nicht klug genug dafür. Oder auch: Schau Dir Deine Eltern an und das Haus, aus dem Du kommst – aus Dir wird nie etwas werden.
Wie leicht machen wir uns solche Worte zu eigen. Wie oft stehen wir vor uns selber und trauen uns nichts zu, weil wir zu oft gehört haben, daß wir es ohnehin nicht schaffen werden. Und dann gehen wir durchs Leben, ständig zweifelnd an uns selber. Und natürlich gelingt vieles nicht. Kein Wunder. Wenn ich schon das Scheitern im Kopf habe, bevor ich überhaupt anfange.
Gott hat mir etwas zugetraut. Immerhin. Mehr als ich mir jemals selber zugetraut hätte. Oftmals sehr viel mehr, als ich zu ertragen in der Lage war. Aber er hat mir was zugetraut.
Der HERR sprach zu mir: Sage nicht: „Ich bin zu jung“, sondern Du sollst gehen, wohin ich Dich sende, und predigen alles, was ich Dir gebiete.
Du sollst. Wie habe ich es gehasst, wenn meine Eltern mit einem „Du sollst“ kamen. Ich wollte wollen und nicht sollen. Aber wenn ich heute zurückschaue: Ich wäre niemals den Weg gegangen, den ich gegangen bin, wenn ich auf mein Wollen gewartet hätte. Denn ich wollte nicht. Um nichts in der Welt. Ich hatte Angst vor dem, was vor mir lag. Ich habe gezweifelt an mir und an Gott und seinem Auftrag an mich. Du sollst. Manchmal muß man vielleicht zu seinem Glück gezwungen werden. Oder zu seinem Unglück in meinem Fall. Wie wäre mein Leben wohl verlaufen, wenn ich an dieser Stelle Nein gesagt hätte? Ich weiß es nicht. Anders. Ganz sicher. Vielleicht weniger anstrengend. Vielleicht weniger einsam. Vielleicht mit weniger Tränen.
Aber: es wäre nicht mein Leben gewesen. Ich hätte statt auf Gott auf die anderen gehört. Vielleicht mitgemacht bei all dem, was „man“ so tut, einfach weil „man“ es tut. Wäre mit der Masse geschwommen. Hätte mich leben lassen von den vielen. Ich hätte manches Leid nicht erlebt, das stimmt. Aber ich hätte auch die Güte Gottes nicht erlebt. Ich hätte seine Vergebung nicht erlebt. Seine Nähe nicht.
Denke daran, wenn Du jung bist und nicht weiß, was vor Dir liegt. Du hast immer eine Wahl, selbst von so vieles schon vorentschieden ist von anderen. Von Deinen Eltern, Deiner Heimat, den Menschen um Dich herum und auch von Dir selber. Du hast immer die Wahl Dein Leben zu leben oder das, was nur vermeintlich Dein Leben ist. Gar nicht so einfach manchmal, ich weiß. Gar nicht so leicht zu entdecken, dieses „Ich“, das da auf Dich wartet. Aber es ist da. Hör auf Gott. Ich verspreche Dir nicht, daß alles gut gehen wird im Leben – das kannst Du von einem wie mir nicht erwarten. Aber ich verspreche Dir, daß Du Gott selber begegnen wirst und Dir selber, wenn Du Dich auf sein Wort einläßt. Und manchmal eben auch auf dieses göttliche „Du sollst“. Denn das „Du sollst“ ist ja nicht alles, was Gott gesagt hat zu mir. Das wichtigste kam erst noch.
Fürchte Dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei Dir und will Dich erretten, spricht der HERR.
Gibt es größeres, was ein Gott zu uns Menschen sagen kann als: Ich bin bei Dir?
Wenn Du Deinen Weg durchs Leben gehst – ich bin bei Dir.
Wenn es Dir gut geht, Du Dich des Lebens freust und stolz bist auf das, was Du erreichst – ich bin bei Dir.
Wenn Dir Tränen den Blick verschleiern und Du vor Trauer nicht mehr weißt, wie Du den Tag durchstehen sollst – ich bin bei Dir.
Wenn Du glücklich einen Menschen in die Arme schließt, der Dir alles bedeutet – ich bin bei Dir.
Wenn Du traurig Abschied nehmen mußt von einem Menschen, der Dir alles bedeutet hat – ich bin bei Dir.
Wenn Du Angst hast vor dem, was andere von Dir denken, vor dem, was andere über Dich sagen, von dem, was andere von Dir fordern – ich bin bei Dir.
Wenn Du vor dem Spiegel stehst und Dir selber nicht in die Augen schauen magst – ich bin bei Dir.
Wenn Du das Gefühl hast, von der Welt und von Gott verlassen zu sein und niemanden siehst, der nach Dir fragt – ich bin bei Dir.
Wie hätte ich mein Leben leben sollen ohne dieses göttliche Versprechen.
Wie willst Du Dein Leben leben ohne dieses göttliche Versprechen? Vielleicht lebst Du in einer Zeit, in der die Menschen Gott verlassen; in der sie ihn für überholt halten und für unbedeutend. Ich kenne solche Zeiten. Ich habe gelitten unter solchen Zeiten. Aber ich habe erfahren: Gott ist da. Wenn ich ihn brauche und wenn ich nichts von ihm wissen will. Wenn ich ihn spüre und selbst, wenn ich das Gefühl habe, es gäbe ihn gar nicht mehr. Er ist da. Er ist bei mir. Gott sei Dank. Ich weiß nicht, wie ich sonst mein Leben hätte leben sollen.
Und dann erst der Auftrag:
Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine worte in Deinen Mund. Siehe, ich setze Dich heute über Völker und Königreiche, daß Du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.
Genauso hätte er auch sagen können: Ich bin bei Dir. Und jetzt lebe. Mit allem, was das Leben Dir bringt. Mit allem, was das Leben Dir nimmt.
Ja, ich hatte Angst. Ja, das Leben hat mir, so sehe ich es jedenfalls, mehr genommen als gegeben. Einsam und verstoßen, verhaßt und unverstanden von meinen Mitmenschen bin ich meinen Weg gegangen. Der Auftrag war groß. Zu groß für mich, habe ich oft gedacht. Ich kleiner Mensch als Prediger für Völker und Königreiche. Aber: Es war mein Leben. Es war mein Weg. Und Gott war bei mir. Ich finde, das ist nicht wenig, was man über das Leben sagen kann.
Und nun schließe ich. Wenn Du magst, lies ein wenig in dem Buch, das meinen Namen trägt. Lies von meinem Leid, von meiner Angst, von meinen Zweifeln. Aber lies auch von der Geborgenheit, die ich immer wieder erleben durfte. Und dann geh hinaus und lebe Dein Leben. Nimm an, was Gott Dir anvertraut hat. Und dann mach etwas aus dem, was Du kannst, aus dem, was Dir geschenkt ist; aus Deinen Talenten und Gaben, wie Ihr vielleicht sagen werdet. Laß Dir nicht von anderen Deinen Lebensweg vorschreiben, sondern nimm ihn aus Gottes Hand – mit allem, was er für Dich bereit hält. Er wird bei Dir sein. Das steht über allem.
So weit der Prophet Jeremia. Ich, liebe Gemeinde, habe diesen Worten nichts mehr hinzuzufügen – außer dem Wunsch, daß der Friede Gottes, der höher ist als alles, was unsere Vernunft zu begreifen vermag, Eure Herzen und Eure Sinne in guten und in schlechten Tage bewahre in Jesus Christus, unserem Herrn.
Amen.
Predigt
Ihr habt leicht reden. Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen. Wißt Ihr eigentlich, was Ihr damit sagt? Heulen und Zähneklappern – nein, das gibt es nicht nur draußen in der Finsternis. Das gibt’s auch hier und jetzt. Im richtigen Leben. Und das gerade weil mir viel gegeben ist. Niemand hat gefragt, ob ich es überhaupt haben wollte. Gott am allerwenigsten...
Aber ich muß mich erst einmal vorstellen. Sonst verstehen Sie gar nicht, wovon ich rede. Jeremia mein Name. Prophet. Wider Willen. Ja, das muß ich betonen. Gegen meinen Willen. Ich habe es mir nicht ausgesucht.
Ob ich den Weg noch einmal gehen würde? Ich kann es beim besten Willen nicht sagen. Es kreist und kreist in meinem Kopf, aber ich finde nicht heraus. Es tut mir weh in meinem Herzen, und ich spüre die Stiche in meinem Innersten. Das könnten meine Worte sein. Diese Worte des 73. Psalms, die Sie vorhin gebetet haben. Haben Sie verstanden, was Sie da beten? Haben Sie erlebt, was Sie da beten? Ich will nicht anmaßend sein. Vielleicht haben Sie es verstanden. Das Leben ist oftmals hat und ungerecht und voller Leid. Unverstanden – und vielleicht gerade deshalb so mühsam. Voller Mühe.
Damals als Gott mich zum Propheten machte – Juda eingekeilt zwischen rivalisierenden Großmächten. Assyrien, Babylonien, Ägypten. Kriegsgefahr an jeder Grenze. Aktionistische Geschäftigkeit der Obersten. Dabei haben sie einfach nicht verstanden, daß das Problem im Inneren liegt. Bessert Euer Leben und Eurer Tun, dann wird Gott bei Euch wohnen – habe ich ihnen zugerufen. Sie haben es nicht verstanden. Sie wollten es nicht verstehen. Sie wollten ihr Leben nicht ändern. Wie viele Zeichen habe ich ihnen gegeben. Ja, mein Leben selber sollte ein Zeichen sein – so war Gottes Wille. Meine Einsamkeit, meine Verzweiflung, die Traurigkeit meines gesamten Lebens als zeichenhafte Ankündigung des Leidens, das über mein Volk kommen würde, wenn sie nicht abwichen von ihren bösen Wegen.
Des HERRN Wort geschah zu mir: Du sollst Dir keine Frau nehmen und weder Söhne noch Töchter zeugen an diesem Ort. Denn so spricht der HERR von den Söhnen und Töchtern, die an diesem Ort geboren werden, und von ihren Müttern, die sie gebären, und von ihren Vätern, die sie zeugen in diesem Lande: Sie sollen an bösen Krankheiten sterben und nicht beklagt noch begraben werden.
Und Gott sprach weiter zu mir: Du sollst in kein Trauerhaus gehen, weder um zu klagen noch um sie zu trösten. Du sollst auch in kein Hochzeitshaus gehen, um bei ihnen zu sitzen zum Essen und zum Trinken.
Jetzt sag sie mir noch einmal, diese Worte über Deiner neuen Woche: Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen. Weißt Du, was Du damit sagst?
Mit einem Joch auf meinen Schultern bin ich durch die Stadt gelaufen – Zeichen für das Joch, das Babylon uns auferlegen sollte. Es wurde mir von den Schultern gerissen und zerbrochen. Und Gott? Nichts tat er. Kein Erweis seiner Macht. Stumme, dunkle Abwesenheit.
Sie haben mich geschlagen. Sie haben mich in dunkle, stinkende Zisternen geworfen, daß mir der Schlamm im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Halse stand. Wie oft bin ich geflohen. Vor ihnen. Vor mir. Vor Gott. Wie viele Jahre habe ich in abgelegen Verstecken verbracht.
Und doch – trotz allem kann ich heute sagen: Die Güte des Herrn ists, daß wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende. Der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. Heute kann ich das sagen. Ob ich damals den Weg gegangen wäre, wenn ich seinen Verlauf auch nur hätte ahnen können? Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.
Ich erinnere mich noch, wie es begann. Es ist aufgeschrieben im Buch, das meinen Namen trägt. Im ersten Kapitel
Des HERRN Wort geschah zu mir: Ich kannte Dich, ehe ich Dich im Muttlerleibe bereitete, und sonderte Dich aus, ehe Du von Deiner Mutter geboren wurdest. Und bestellte Dich zum Propheten über die Völker.
Was hätte ich darauf sagen sollen? Was entscheiden, wenn über mein Leben schon entschieden ist, bevor es überhaupt beginnt. Wenn das letzte Wort schon gesprochen ist, bevor ich überhaupt das erste spreche?
Ich sprach: Ach Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.
Eine Ausrede. Klar – aber was hätte ich sagen sollen? Was hättest Du gesagt? Ob ich heute anders antworten würde? Ich weiß es nicht. Aber was ich heute weiß, ist doch zumindest dieses: Es ist besser, wenn Gott das letzte Wort über mein Leben spricht, als wenn ich selber es tue oder andere Menschen es tun.
Vielleicht kennst Du das? Vielleicht bist Du selber jung und voller Zweifel über Deinen weiteren Weg? Oder warst zumindest einmal jung oder voller Zweifel?
Wie leicht sagen da andere: Das kannst Du nicht, das schaffst Du nicht. Du bist zu jung. Du bist zu ungeschickt. Du bist nicht klug genug dafür. Oder auch: Schau Dir Deine Eltern an und das Haus, aus dem Du kommst – aus Dir wird nie etwas werden.
Wie leicht machen wir uns solche Worte zu eigen. Wie oft stehen wir vor uns selber und trauen uns nichts zu, weil wir zu oft gehört haben, daß wir es ohnehin nicht schaffen werden. Und dann gehen wir durchs Leben, ständig zweifelnd an uns selber. Und natürlich gelingt vieles nicht. Kein Wunder. Wenn ich schon das Scheitern im Kopf habe, bevor ich überhaupt anfange.
Gott hat mir etwas zugetraut. Immerhin. Mehr als ich mir jemals selber zugetraut hätte. Oftmals sehr viel mehr, als ich zu ertragen in der Lage war. Aber er hat mir was zugetraut.
Der HERR sprach zu mir: Sage nicht: „Ich bin zu jung“, sondern Du sollst gehen, wohin ich Dich sende, und predigen alles, was ich Dir gebiete.
Du sollst. Wie habe ich es gehasst, wenn meine Eltern mit einem „Du sollst“ kamen. Ich wollte wollen und nicht sollen. Aber wenn ich heute zurückschaue: Ich wäre niemals den Weg gegangen, den ich gegangen bin, wenn ich auf mein Wollen gewartet hätte. Denn ich wollte nicht. Um nichts in der Welt. Ich hatte Angst vor dem, was vor mir lag. Ich habe gezweifelt an mir und an Gott und seinem Auftrag an mich. Du sollst. Manchmal muß man vielleicht zu seinem Glück gezwungen werden. Oder zu seinem Unglück in meinem Fall. Wie wäre mein Leben wohl verlaufen, wenn ich an dieser Stelle Nein gesagt hätte? Ich weiß es nicht. Anders. Ganz sicher. Vielleicht weniger anstrengend. Vielleicht weniger einsam. Vielleicht mit weniger Tränen.
Aber: es wäre nicht mein Leben gewesen. Ich hätte statt auf Gott auf die anderen gehört. Vielleicht mitgemacht bei all dem, was „man“ so tut, einfach weil „man“ es tut. Wäre mit der Masse geschwommen. Hätte mich leben lassen von den vielen. Ich hätte manches Leid nicht erlebt, das stimmt. Aber ich hätte auch die Güte Gottes nicht erlebt. Ich hätte seine Vergebung nicht erlebt. Seine Nähe nicht.
Denke daran, wenn Du jung bist und nicht weiß, was vor Dir liegt. Du hast immer eine Wahl, selbst von so vieles schon vorentschieden ist von anderen. Von Deinen Eltern, Deiner Heimat, den Menschen um Dich herum und auch von Dir selber. Du hast immer die Wahl Dein Leben zu leben oder das, was nur vermeintlich Dein Leben ist. Gar nicht so einfach manchmal, ich weiß. Gar nicht so leicht zu entdecken, dieses „Ich“, das da auf Dich wartet. Aber es ist da. Hör auf Gott. Ich verspreche Dir nicht, daß alles gut gehen wird im Leben – das kannst Du von einem wie mir nicht erwarten. Aber ich verspreche Dir, daß Du Gott selber begegnen wirst und Dir selber, wenn Du Dich auf sein Wort einläßt. Und manchmal eben auch auf dieses göttliche „Du sollst“. Denn das „Du sollst“ ist ja nicht alles, was Gott gesagt hat zu mir. Das wichtigste kam erst noch.
Fürchte Dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei Dir und will Dich erretten, spricht der HERR.
Gibt es größeres, was ein Gott zu uns Menschen sagen kann als: Ich bin bei Dir?
Wenn Du Deinen Weg durchs Leben gehst – ich bin bei Dir.
Wenn es Dir gut geht, Du Dich des Lebens freust und stolz bist auf das, was Du erreichst – ich bin bei Dir.
Wenn Dir Tränen den Blick verschleiern und Du vor Trauer nicht mehr weißt, wie Du den Tag durchstehen sollst – ich bin bei Dir.
Wenn Du glücklich einen Menschen in die Arme schließt, der Dir alles bedeutet – ich bin bei Dir.
Wenn Du traurig Abschied nehmen mußt von einem Menschen, der Dir alles bedeutet hat – ich bin bei Dir.
Wenn Du Angst hast vor dem, was andere von Dir denken, vor dem, was andere über Dich sagen, von dem, was andere von Dir fordern – ich bin bei Dir.
Wenn Du vor dem Spiegel stehst und Dir selber nicht in die Augen schauen magst – ich bin bei Dir.
Wenn Du das Gefühl hast, von der Welt und von Gott verlassen zu sein und niemanden siehst, der nach Dir fragt – ich bin bei Dir.
Wie hätte ich mein Leben leben sollen ohne dieses göttliche Versprechen.
Wie willst Du Dein Leben leben ohne dieses göttliche Versprechen? Vielleicht lebst Du in einer Zeit, in der die Menschen Gott verlassen; in der sie ihn für überholt halten und für unbedeutend. Ich kenne solche Zeiten. Ich habe gelitten unter solchen Zeiten. Aber ich habe erfahren: Gott ist da. Wenn ich ihn brauche und wenn ich nichts von ihm wissen will. Wenn ich ihn spüre und selbst, wenn ich das Gefühl habe, es gäbe ihn gar nicht mehr. Er ist da. Er ist bei mir. Gott sei Dank. Ich weiß nicht, wie ich sonst mein Leben hätte leben sollen.
Und dann erst der Auftrag:
Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine worte in Deinen Mund. Siehe, ich setze Dich heute über Völker und Königreiche, daß Du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.
Genauso hätte er auch sagen können: Ich bin bei Dir. Und jetzt lebe. Mit allem, was das Leben Dir bringt. Mit allem, was das Leben Dir nimmt.
Ja, ich hatte Angst. Ja, das Leben hat mir, so sehe ich es jedenfalls, mehr genommen als gegeben. Einsam und verstoßen, verhaßt und unverstanden von meinen Mitmenschen bin ich meinen Weg gegangen. Der Auftrag war groß. Zu groß für mich, habe ich oft gedacht. Ich kleiner Mensch als Prediger für Völker und Königreiche. Aber: Es war mein Leben. Es war mein Weg. Und Gott war bei mir. Ich finde, das ist nicht wenig, was man über das Leben sagen kann.
Und nun schließe ich. Wenn Du magst, lies ein wenig in dem Buch, das meinen Namen trägt. Lies von meinem Leid, von meiner Angst, von meinen Zweifeln. Aber lies auch von der Geborgenheit, die ich immer wieder erleben durfte. Und dann geh hinaus und lebe Dein Leben. Nimm an, was Gott Dir anvertraut hat. Und dann mach etwas aus dem, was Du kannst, aus dem, was Dir geschenkt ist; aus Deinen Talenten und Gaben, wie Ihr vielleicht sagen werdet. Laß Dir nicht von anderen Deinen Lebensweg vorschreiben, sondern nimm ihn aus Gottes Hand – mit allem, was er für Dich bereit hält. Er wird bei Dir sein. Das steht über allem.
So weit der Prophet Jeremia. Ich, liebe Gemeinde, habe diesen Worten nichts mehr hinzuzufügen – außer dem Wunsch, daß der Friede Gottes, der höher ist als alles, was unsere Vernunft zu begreifen vermag, Eure Herzen und Eure Sinne in guten und in schlechten Tage bewahre in Jesus Christus, unserem Herrn.
Amen.
Perikope