Predigt über Jeremia 23, 16-29 und Lukas 16, 19-31 von Peter Wick
23,16
„Licht im Tunnel. Der Weg der Liebe in dunklen Zeiten“
Das Prophetenwort im Buch Jeremia (23,16-29) droht den falschen Propheten. Es ist eine Zeit der Verwirrung. Vieles könnte Gottes Wort sein. Doch bei allen Worten wird es unsicher, ob sie es auch tatsächlich sind. Es gibt viele Orientierungsangebote: Die Propheten träumen und weissagen. Aber was davon ist Gottes Wort? „Wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht“. Doch was von der Heiligen Schrift ist Gottes Wort? Darüber wurde im letzten Jahrhundert viel debattiert und es gibt keine belastbare Lösung, die die Theologie unserem Jahrhundert hätte anbieten können. Ist das historisch bedingte nicht Gottes Wort? Aber was in der Bibel ist nicht historisch bedingt. Oder ist die Bibel gar nicht Gottes Wort, sondern nur wenn sie im Akt der Predigt oder des Lesens etwas auslöst, ereignet sie sich als Gottes Wort in dieser Situation?
Je mehr man nachfrägt, desto größer wird die Desorientierung! Arme Theologiestudenten! Denn eine gute Studentin, ein guter Student ist doch einer, der möglichst viel und präzise nachfragt.
Dies betrifft alle Gebiete. Die einen tragen ein veraltetes Gottesbild von einem bestrafenden Oberaufpasser mit sich rum. Die anderen ein Gottesbild von einem liebenden Fluidum, das an Harmlosigkeit nicht zu übertreffen ist.
Vor 50 Jahren gab es hier eine hochregulierte Gesellschaft, in der vieles sehr genau festgelegt war: Sexualität, standesgemäßes Benehmen, Kleidung und vieles mehr waren sehr streng geordnet. Frauen konnten mit Hosen noch bis Ende der 60er Jahre in D Skandale auslösen. Scheidung und Wiederverheiratung in Pfarrhäusern war noch ein Tabu, in der Gesellschaft schon nicht mehr. Über Homosexualität hat man - wenn möglich - überhaupt nicht gesprochen und über viele andere Formen der Sexualität auch erst in bestimmten Gruppen. Das Kopftuch war im Gegensatz zu noch früheren Jahrzehnten nicht mehr Standartbekleidung von Frauen, aber in besonders frommen Gruppen noch lange danach in Gebrauch. Wenn ich auf das zurückblicke, dann möchte ich auf keinen Fall, dass die Gesellschaft in das alles zurückkehrt. Zugleich beschleicht mich aber schon lange das Gefühl, dass alle diese Entwicklungen in meist kirchenfernen Gruppen der Gesellschaft begonnen haben, dann mit Jahrzehnten Verspätung von den evangelischen Landeskirchen übernommen worden sind, bekämpft von radikaleren evangelischen Gruppen, die wiederum nochmals ein oder zwei Jahrzehnte gebraucht haben und brauchen, bis sie diese Änderungen auch akzeptieren. So ist Scheidung und Wiederverheiratung gegenüber manchen neutestamentlichen Stellen zwar ein Problem, aber heute auch in vielen Freikirchen akzeptiert. Dasselbe kann für viele andere Beispiele bezeichnet werden. In der Nähe von Basel gibt es eine ehemals fundamentalistische theologische Ausbildungsstätte, die das Hosenverbot für Frauen erst vor 10 Jahren aufgegeben hat, aber aufgegeben haben sie es auch.
Für alles haben wir immer auch theologische Gründe! Das ist schließlich auch unsere Aufgabe als Theologen!
Doch wer bei all dem nachfragt, sokratisch dahinter fragt, weiß zuletzt nicht, ob wir als Kirchen nicht in allem der Vernunft der Gesellschaft - mit unterschiedlicher Verzögerung - gefolgt sind. Doch gerade in D gibt es ein tiefes Wissen darum, dass diese Vernunft trügerisch sein kann. Redet die Kirche und wir Theologen hier nicht immer wieder der Gesellschaft nach dem Mund! Haben wir keinen Stachel mehr? Doch, vielleicht in sozialen Fragen! Doch auch hier muss nicht lange nachgefragt werden, und schon ist man beim dritten Weg der diakonischen Werke, die - wenn es ernst wird - sozial problematischer sein können als nichtkirchliche Einrichtungen.
Wir wandeln, taumeln und hoffen, dass der gesellschaftliche Zeitgeist dem Heiligen Geist nahe kommt. Wir sehen keinen Weg zurück und doch spüren wir, dass der Boden auf dem wir stehen, kaum belastbar ist und der Weg in die Zukunft im Nebel liegt.
Ganz andere Wege werden verkündigt, „Propheten“ weisen auf ganz andere Wege. Ich denke hier an die verschiedenen Fundamentalismen, die eine alte Enge in neuem Gewand verkünden. Doch meistens blendet ein Fundamentalismus nicht nur viel der heutigen Realitäten aus, sondern auch ganze Teile der Schrift. „Gott hat geredet und genau das und das gemeint …“
Doch was sollen wir tun? Welches Gebot gilt noch? „Du sollst nicht ehebrechen“? Dieses Gebot entspricht einem antiquierten Besitzdenken, wird von einer Studentin im Seminar postuliert und so auch in Gesprächen unter Theologen vorgebracht. Oder ist Sexualität doch mehr als nur Ermöglichung der freien Liebe, ist sie Grundband der Bindung, die die Menschen existentiell brauchen?
Liebe Gemeinde, solche Fragen müssen bearbeitet und diskutiert werden. Wir können auf Antworten nicht verzichten. Doch wir müssen eingestehen, dass unsere Antworten scheinbar immer vorläufiger werden.
Und in diese Desorientierung, diese Dunkelheit, diesen Tunnel hinein, kommt nun unser Evangelientext, der zu all diesen Fragen keine Lösung bietet. Im Gegenteil … Doch wer genau hinhört, sieht ein Schimmerlicht, entdeckt einen Türgriff zu einem neuen Weg, obwohl weder dieser Griff noch der Weg erwähnt wird.
Lk 16,19-31
Dieser Text stellt zuerst einmal eine klare Ordnung her und eine sehr gerechte Ordnung.
Lk 16,25 Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, und du wirst gepeinigt.
In diesem Leben ist es so, im zukünftigen Leben ist genau umgekehrt. Das ist fair und gerecht. Lazarus geht hier vor die Hunde, dort aber wird er den Ehrenplatz am Tisch einnehmen, nämlich an der Brust Abrahams wird er beim himmlischen Symposion liegen. Luther übersetze Schoss, doch gemeint ist die Brust desjenigen, der im Symposion hinten dran liegt. Du hast hier den gedeckten Tisch, dort aber Qualen. Lazarus hatte hier Hunde, dafür wirst Du dort sicher keine Engel erhalten. Das zukünftige Leben stellt die Symmetrie der Gerechtigkeit her.
Beide Leben stehen sich wie in einer Punktspiegelung gegenüber. Die Punktspiegelung ist gleichbedeutend mit einer Drehung um 180°. Eine Punktspiegelung ist eine Kongruenzabbildung und zugleich eine Inversion, eine Umkehr einer Sache. All das gilt für den reichen Mann und den armen Lazarus, deren Leben über den Tod als Drehzentrum gespiegelt und deren Ergehen umgekehrt werden.
Doch etwas passt nicht. Etwas steht sich als Achsenspiegelung gegenüber. Das Tor (das Pylon) des Reichen und der Graben (chasma) zwischen Unterwelt und himmlischen Symposion stehen sich ebenfalls parallel gegenüber, aber eben doch anders. Wenn wir genau hinschauen, passt hier etwas, bei diesem Bogen beim Graben unten beziehungsweise beim Tor oben doch nicht. Der Graben ist unüberwindbar. Lazarus kann dem Reichen keine Fingerspitze reichen. Das Tor aber hat einen Türgriff. Es kann aufgestossen werden, und zwar von innen, vom Reichen her. Der Text sagt es nicht. Der Leser muss es wissen, sonst hilft ihm der Text nicht. Der Leser weiß es ja, und doch ist die Frage, ob er es auch praktisch weiß, in seinem alltäglichen Leben. Der Text sagt nicht, was geschehen wäre, hätte der Reiche die Tür zum Armen aufgestoßen. Doch eines sagt er doch durch seine Struktur: Der Reiche hätte damit die ganze schöne Struktur zerstört. Es gäbe keine Punktsymmetrie mehr zum ewigen Leben und keine Achsenspiegelung. Alles wäre ganz anders.
Liebe Gemeinde, es ist dieser Türgriff, der einen Weg in einer verwirrten Zeit öffnet. Es ist dieser Türgriff, der zwar nicht die Antworten zu den vielen ethischen Fragen gibt, aber einen ethischen Weg öffnet, der festen Boden unter die Füße gibt und sicher in die Zukunft führt. Es ist der Weg der Nächstenliebe. Was ist Nächstenliebe? Nächstenliebe heißt, den Nächsten zu lieben. In diesem Moment ist der Nächste für sie, derjenige, der neben ihnen sitzt. Wagen sie es links und rechts zu blicken? Im Leben sind diese Nächsten eben gerade die, die uns sehr nahe sind. Die Kollegen auf dem Flur, die Kommilitonen, die manchmal etwas „verrückten“ Professoren, vor allem aber die Familienmitglieder. Die Frage, was heißt in den vielen Herausforderungen des Zusammenlebens Liebe beantwortet zwar nicht alle schwierigen ethischen Fragen, gibt uns aber sehr viele Antworten für unsere Entscheidungen, manchmal auch konkretere Antworten, als uns lieb sind. Denn wenn ich meinen Nächsten lieben will, ist mir vieles unmöglich und vieles ist mir automatisch geboten.
Liebe Gemeinde, es ist dieser Türgriff, die kleine Klinke am schweren Tor, die uns Licht im Tunnel öffnet, die uns einen guten und festen Weg in dunklen Zeiten öffnet, den Weg der Liebe.
Die Liebe, die Barmherzigkeit ist so mächtig, dass sie sogar die Symmetrie der Gerechtigkeit aushebeln kann. Im Jakobusbrief (2,13) heißt es: Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht.
Es hätte in dieser Geschichte anders gehen können, den das Tor hatte einen Griff. Ich erzähle ihnen zum Abschluss eine solche Geschichte aus der spätmittelalterlichen Exempelsammlung der Gesta Romanorum (104). Hier zerstört nicht ein Türgriff die Symmetrie der Gerechtigkeit, sondern etwas viel, viel kleineres, ein Dorn:
Es war einmal ein Ritter, der die Jagd über alles liebte. Eines Tages geschah es, dass er sich aufmachte, um zu jagen. Da kam ihm ein hinkender Löwe entgegen und streckte ihm seine Tatze entgegen. Der Ritter stieg vom Pferd, zog ihm einen spitzen Dorn aus der Tatze und behandelte die Wunde mit einer Salbe, Dadurch wurde der Löwe wieder gesund.
Später aber jagte der König jenes Landes zufällig in demselben Wald, fing den Löwen und hielt ihn viele Jahre lang bei sich gefangen. Der Ritter erhob sich gegen den König und suchte Zuflucht in demselben Wald. Alle, die des Weges kamen, beraubte und tötete er. Der König aber konnte ihn gefangen nehmen und fällte folgenden Spruch über ihn: Er sollte einem Löwen zum Fraß vorgeworfen werden, und diesem sollte nichts anderes zu fressen gegeben werden, damit er den Ritter verschlänge. Als der Ritter in die Grube geworfen worden war, hatte er große Angst und wartete auf die Stunde, wo er gefressen werden sollte. Der Löwe aber betrachtete ihn ganz genau, und als er ihn erkannt hatte, gab er ihm seine Freude zu erkennen und blieb sieben Tage lang ohne Futter.
  Als dies dem König zu Ohren gekommen war, staunte er, ließ den Ritter aus der Grube ziehen und sprach zu ihm: "Sag mir, mein Freund, wie kann es sein, dass dir der Löwe nichts zuleide tat?"
  Der Ritter entgegnete: "Herr, ich ritt zufällig durch den Wald, da kam mir dieser Löwe hinkend entgegen, ich zog ihm einen Dorn aus der Tatze und heilte seine Wunde. Deshalb, glaube ich,
  tut er mir nichts." – "Da dir der Löwe nichts getan hat, werde auch ich dir Schonung gewähren, du musst dich nur darum bemühen, dein Leben zu ändern." Der Ritter dankte dem König und wurde daraufhin in allen Dingen ein besserer Mensch. Und er beendete seine Tage in Frieden.
Liebe Gemeinde, viele von uns verbringen viel Lebenszeit an einer Universität voller Türgriffe zusammen mit Menschen, die von Dornen gequält werden und mit ihren Dornen andere piksen. Lasst uns die Symmetrie der Gerechtigkeit mit Liebe aushebeln. Das gilt für alle Zeiten, aber in Zeiten, in denen viel von dem im Dunkeln liegt, was gerecht ist und was nicht, ist die barmherzige Liebe in aller Desorientierung der lichtvolle Weg. Jeder Mitmensch, jede Dorne und jeder Türgriff ermöglicht uns einen nächsten Schritt auf diesem Weg.
Amen.
Perikope
10.06.2013
23,16